David Bohms Quantentheorie
Seit 40 Jahren existiert eine bislang kaum beachtete Alternative zu der etablierten Interpretation der Quantenmechanik. In dieser streng deterministischen Theorie gleicht die Wellenfunktion einem klassischen Kraftfeld, das die Teilchen auf ihren Bahnen führt.
Die Erforschung subatomarer Teilchen hat anscheinend drei höchst erstaunliche Eigenschaften der physikalischen Welt aufgedeckt: Erstens werden alle grundlegenden Naturvorgänge vom Zufall beherrscht. Zweitens nehmen materielle Objekte manchmal keinen eindeutig definierbaren Ort im Raum ein. Und drittens – dies ist vielleicht am sonderbarsten – gelten die Gesetze, denen das Verhalten physikalischer Objekte normalerweise gehorcht, nicht für Gegenstände, die als Meßinstrumente oder Beobachter dienen (Bild 1). Diese schon von den Begründern der Quantenmechanik formulierten Regeln sind bis heute als offizielles Dogma der theoretischen Physik in allen Lehrbüchern zu finden.
Doch vielleicht hat man dabei etwas voreilige Schlüsse gezogen. Es gibt nämlich eine vollständig ausgearbeitete Theorie, die das Verhalten subatomarer Teilchen ganz anders beschreibt; darin spielt der Zufall überhaupt keine Rolle, und jedes materielle Objekt hält sich stets nur an einem bestimmten Ort im Raum auf. Vor allem weist diese Theorie dem Meßvorgang keinen Sonderstatus zu: Ein einziges System von grundlegenden Gesetzen gilt für jedes physikalische Objekt in exakt gleicher Weise.
Diese Alternative zur herrschenden Lehre ist im wesentlichen das Werk des in den USA geborenen Physikers David J. Bohm (1917 bis 1992; siehe Kasten auf Seite 74 und Bild 6). Obwohl er seine Arbeiten bereits vor mehr als 40 Jahren veröffentlicht hat, sind sie bis vor kurzem kaum zur Kenntnis genommen worden. In der Quantenphysik dominiert nach wie vor die sogenannte Kopenhagener Deutung, die auf den Kreis um den dänischen Physiker Niels Bohr (1885 bis 1962, Nobelpreis 1922) zurückgeht.
Ich möchte zunächst die wichtigsten Argumente für die Standardinterpretation skizzieren. Dann werde ich kurz schildern, wie die Bohmsche Theorie einige ihrer Probleme umgeht. Und schließlich möchte ich zeigen, welche Rolle Bohms Lehre in den gegenwärtigen Spekulationen über die Grundlagen der Quantenmechanik spielt.
Messungen des Elektronenspins
Um die Gründe für die Standardinterpretation zu verstehen, wollen wir Experimente mit Elektronen betrachten; dabei mißt man zwei Komponenten des Elektronenspins, die ich der Einfachheit halber horizontalen und vertikalen Spin nennen möchte.
Es ist eine empirische Tatsache, daß jede dieser Komponenten nur einen von zwei möglichen Werten annehmen kann. Die beiden horizontalen Spinwerte will ich rechts und links nennen, die vertikalen up (aufwärts) und down (abwärts). Sie lassen sich leicht und exakt mit einem Gerät bestimmen, in dem die Elektronen je nach dem Wert der jeweiligen Spinkomponente abgelenkt werden: Man stellt einfach den Ort des Elektrons fest, nachdem es das Gerät passiert hat. Die Geräte nenne ich nach der damit bestimmten Komponente Horizontal- und Vertikalboxen (Bild 2).
Wie man aus Versuchen weiß, gibt es bei Elektronen normalerweise keine Korrelation zwischen horizontalen und vertikalen Spinwerten. Schießt man beispielsweise eine große Anzahl von Elektronen mit Rechts-Spin in eine Vertikalbox, so treten exakt 50 Prozent durch die up-Öffnung und 50 Prozent durch die down-Öffnung aus. Das gleiche gilt für Elektronen mit Links-Spin, die man in eine Vertikalbox schießt, und für Elektronen mit up- oder down-Spin, die eine Horizontalbox passieren.
Besonders wichtig ist nun der experimentelle Befund, daß eine Messung des vertikalen Spins eines Elektrons den Wert seines horizontalen auf anscheinend völlig unvorhersehbare Weise verändert und umgekehrt. Bestimmt man etwa die vertikalen Spins zahlreicher Elektronen zwischen zwei Messungen ihrer horizontalen Spins, so stellt man stets fest, daß sich dadurch bei der Hälfte der Elektronen die horizontalen Spins geändert haben (Bild 3).
Man hat noch niemals den vertikalen Spin eines Elektrons ohne solche Störungen festzustellen vermocht. Auch konnte niemand eine physikalische Eigenschaft der einzelnen Elektronen angeben, von der es abhinge, bei welchen Teilchen des Ensembles der horizontale Spin während der Vertikalmessung von links nach rechts oder umgekehrt umspringt und bei welchen nicht.
Die herrschende Lehre erklärt dazu, prinzipiell müsse sich eine Messung des vertikalen Spins eben so und nicht anders auf die horizontalen Spinwerte auswirken. Zudem unterliege es purem Zufall, bei welchen Elektronen der horizontale Spin sich durch diese Untersuchung verändere und bei welchen nicht; die entsprechenden Gesetze seien einfach nicht deterministisch. Diese Schlußfolgerungen scheinen angesichts der experimentellen Resultate gewiß naheliegend.
Wenn aber die Messung einer Spinkomponente unweigerlich den Wert der anderen stört, ist es prinzipiell unmöglich, für ein einzelnes Elektron beide Größen gleichzeitig zu bestimmen. Das ist ein Beispiel für die sogenannte Unbestimmtheitsrelation: Gewisse Paare von Größen wie Ort und Impuls (oder in unserem Falle horizontaler und vertikaler Spin) sind miteinander inkompatibel – das heißt, Messungen der einen stören unweigerlich die andere (Spektrum der Wissenschaft, Juli 1992, Seite 92).
Überraschende Versuchsergebnisse
Doch Indeterminismus ist nicht einmal die seltsamste Eigenschaft subatomarer Teilchen. Betrachten wir ein komplizierteres Experiment. Zunächst bestimmt ein Gerät die vertikalen Spins: Die Elektronen mit up-Spin treten aus der oberen Öffnung aus, die mit down-Spin aus der unteren. Hinter der Vertikalbox plazieren wir nun zwei Reflektoren so, daß die beiden Bahnen einander kreuzen müssen; die Reflektoren sollen die Spineigenschaften der Elektronen nicht verändern. In den Kreuzungspunkt setzen wir schließlich ein Gerät, das die beiden Elektronenstrahlen ohne Änderung der Spinwerte wieder vereinigt (Bild 4 links).
Angenommen, wir schießen zahlreiche Elektronen mit Rechts-Spin eines nach dem anderen in die Vertikalbox. Sie wandern von dort auf getrennten Wegen zum Vereinigungsgerät, an dessen Ausgang wir den horizontalen Spin feststellen. Welches Resultat haben wir zu erwarten?
Aus den vorigen Versuchen schließen wir, daß 50 Prozent der Elektronen up-Spin haben und daher den oberen Weg nehmen werden; die andere Hälfte sollte down-Spin haben und die untere Route einschlagen. Betrachten wir zunächst die 50 Prozent mit up-Spin. Auf dem gesamten Weg zwischen Vertikalbox und Ausgang des Vereinigungsgeräts gibt es nichts, das den Vertikalspin verändern könnte. Darum müßten sämtliche Elektronen die Versuchsanordnung mit up-Spin verlassen. Unseren früheren Ergebnissen zufolge müßten sie je zur Hälfte Rechts- und Links-Spin aufweisen. Bei den 50 Prozent Elektronen mit down-Spin sollte die Statistik der horizontalen Spins genauso aussehen. Insgesamt erwarten wir also, daß ein Ensemble, das mit 100 Prozent Rechts-Spin in unsere Versuchsanordnung eintritt, am Ende zu je 50 Prozent Rechts- und Links-Spin aufweist.
Dieser Schluß wirkt absolut zwingend. Doch in Wirklichkeit geschieht etwas Unerwartetes: Ausnahmslos alle Elektronen mit Rechts-Spin, die wir hintereinander in den Versuchsaufbau geschossen haben, verlassen ihn wieder mit Rechts-Spin.
Dieses Resultat kann man ohne Übertreibung als eines der seltsamsten der modernen Physik bezeichnen. Vielleicht läßt sich der Sachverhalt durch eine kleine Änderung des Experiments verdeutlichen. Wir bauen ein bewegliches Hindernis ein, mit dem wir eine Flugbahn – etwa die obere – blockieren können. Es absorbiert alle Elektronen mit up-Spin, so daß nur noch die Teilchen mit down-Spin zum Vereinigungsgerät gelangen (Bild 4 rechts).
Was würden wir diesmal erwarten? Zunächst einmal sollten am Ende nur halb so viele Elektronen austreten, weil wir eine Bahn blockiert haben. Wie sind nun deren horizontale Spins statistisch verteilt? Als es noch keinen Absorber gab, verließen die eingeschossenen Rechts-Spin-Elektronen das Versuchsgerät zu 100 Prozent mit Rechts-Spin – gleichgültig, ob sie die obere oder die untere Flugbahn genommen hatten. Da man wohl annehmen darf, daß der Absorber in der oberen Bahn die Elektronen in der unteren Bahn nicht beeinflußt, müßten eigentlich die restlichen 50 Prozent ausnahmslos Rechts-Spin haben.
Doch auch diesmal widerspricht das tatsächliche Resultat den Erwartungen. Zwar treten nur halb so viele Elektronen aus dem Apparat, aber sie tragen keineswegs alle einen rechtsgerichteten Spin, sondern jeweils zur Hälfte Links- und Rechts-Spin. Dasselbe geschieht, wenn man den Absorber in die untere Bahn einbaut. (Mit der Quantenmechanik vertraute Leser bemerken vielleicht, daß dieser Versuch eine logisch vereinfachte Version des berühmten Doppelspalt-Experiments ist.)
Der paradoxe Weg des Elektrons
Um diese überraschenden Befunde zu verstehen, betrachten wir ein Elektron, das den Apparat ohne eingebauten Absorber passiert. Hat es den unteren Weg genommen? Offensichtlich nicht, denn die Elektronen auf dieser Bahn haben (wie das Experiment mit eingebautem Absorber zeigt) eine Rechts-/Links-Spin-Statistik von 50 zu 50, während ein Elektron beim Versuch ohne Absorber schließlich mit Sicherheit Rechts-Spin hat. Kann es dann also den oberen Weg genommen haben? Nein – aus demselben Grund.
Hat das Elektron vielleicht beide Wege gleichzeitig genommen? Nein. Denn angenommen, wir unterbrechen das Experiment, während ein bestimmtes Elektron gerade den Apparat passiert, und sehen nach, wo es ist. In der Hälfte der Fälle finden wir das Elektron nur auf dem oberen Pfad, in der anderen Hälfte nur auf dem unteren. Könnte es keinen der beiden Wege genommen haben? Sicherlich nicht, denn wenn wir beide Bahnen blockieren, geht überhaupt nichts durch.
Anscheinend sind wir an dieser Stelle gezwungen, völlig umzudenken – zumindest fordert dies ein seit 50 Jahren fest etabliertes Dogma der theoretischen Physik. Dabei handelt es sich um das zweite der drei anfangs erwähnten Prinzipien: das der Unbestimmtheit des Ortes. Ihm zufolge lassen unsere Ergebnisse nur den Schluß zu, daß die Frage nach dem Weg, den das Elektron in einem solchen Versuchsgerät nimmt, sinnlos ist – so sinnlos wie die, welchen Familienstand die Zahl 5 hat, oder die, ob es nachts kälter ist als draußen. Die Frage gilt als unzulässiger Sprachgebrauch oder als sogenannter Kategorienfehler.
Darum wird in den üblichen Lehrbüchern jede Aussage darüber, ob die Teilchen im Apparat entweder den oberen oder den unteren Weg, beide gleichzeitig oder keinen von beiden nehmen, strikt abgelehnt. Demnach gibt es einfach keinerlei Fakten über die Wahl des Teilchenwegs – nicht nur, weil uns diese Fakten nicht bekannt sind, sondern weil es sie an sich nicht gibt. Den Lehrbüchern zufolge lassen die Elektronen sich nur als eine Superposition (Überlagerung) von Zuständen beschreiben, die der Wahl der oberen und der unteren Bahn entsprechen.
Obwohl diese Idee unserem intuitiven Verständnis von Realität und Teilchen völlig zuwiderläuft, hat man daraus ein in sich geschlossenes Regelwerk – die Quantenmechanik – entwickelt, das nicht nur das Verhalten der Elektronen in unseren Versuchen präzise vorherzusagen vermag, sondern das beobachtbare Verhalten ganz beliebiger physikalischer Systeme unter allen denkbaren Bedingungen äußerst erfolgreich beschreibt. In der Tat bildet die Quantenmechanik seit Jahrzehnten das Fundament, auf dem mehr oder weniger die gesamte theoretische Physik ruht.
Die Wellenfunktion
Mathematisch beschreibt die Quantenmechanik den Zustand eines physikalischen Systems durch die sogenannte Wellenfunktion, die im Falle eines Einteilchensystems die einfache Gestalt einer Ortsfunktion hat. Zum Beispiel nimmt die Wellenfunktion eines im Gebiet A lokalisierten Teilchens nur dort von null verschiedene Werte an, und ebenso verschwindet die Wellenfunktion eines in B lokalisierten Teilchens überall außer im Gebiet B. Die Wellenfunktion eines Teilchens, das eine Überlagerung aus dem Aufenthalt in A und in B ist – beispielsweise ein Elektron mit anfänglichem Rechts-Spin, das gerade eine Vertikalbox verläßt –, hat demnach nur in A und B von null verschiedene Beträge (Bild 5).
Eine Grundregel der Quantenmechanik (die von der Bohmschen Theorie ausdrücklich verletzt wird) besagt nun, daß die Wellenfunktion das physikalische Objekt vollständig beschreibe: Absolut alles, was sich über ein gegebenes physikalisches System zu einem bestimmten Zeitpunkt sagen läßt, sei aus seiner Wellenfunktion abzulesen.
Die Naturgesetze geben an, wie die Wellenfunktionen physikalischer Systeme sich in der Zeit entwickeln – und der Quantenmechanik zufolge können und sollen physikalische Gesetze auch gar nichts anderes leisten. Die Lehrbuchversion der Quantenmechanik unterscheidet zwei Kategorien solcher Gesetze. Besonders heikel daran ist, daß die eine Kategorie dann gilt, wenn die betreffenden physikalischen Systeme nicht direkt beobachtet werden, und die andere nur im Falle der Beobachtung.
Die Gesetze der ersten Kategorie sind üblicherweise als lineare Differentialgleichungen formuliert. Diese Bewegungsgleichungen drücken zum Beispiel aus, daß ein Elektron mit anfangs rechtsgerichtetem Spin eine Vertikalbox als Superposition der oberen und der unteren Flugbahn verläßt. Nach allem, was man aus Experimenten weiß, gelten diese Gesetze für die zeitliche Entwicklung der Wellenfunktion jedes abgeschlossenen mikrophysikalischen Systems. Da sich aber die gesamte Natur aus derartigen Systemen aufbaut, scheint daraus zu folgen, daß diese linearen Differentialgleichungen die Bewegungsgleichungen des gesamten physikalischen Universums sind.
Doch das kann nicht ganz stimmen, wenn – wie die Quantenmechanik behauptet – Wellenfunktionen wirklich vollständige Beschreibungen physikalischer Systeme sind. Denn diese Gleichungen sind vollkommen deterministisch, während bei unseren Spin-Experimenten der Zufall eine entscheidende Rolle zu spielen scheint.
Betrachten wir die Ortsbestimmung eines Elektrons, das anfangs eine Überlagerung zweier in A und B lokalisierter Zustände ist. Aus den linearen Differentialgleichungen läßt sich problemlos eine klare Vorhersage über das Ergebnis gewinnen; sie lautet aber nicht, daß das Meßgerät das Elektron (wie bei der wirklichen Messung) entweder in A oder in B aufspüren werde. Vielmehr besagen die Gleichungen, der Zustand des Meßgeräts würde mit Sicherheit eine Superposition von zwei Zuständen sein, die das Elektron in A beziehungsweise in B anzeigen. Den Gleichungen zufolge sollte also das Meßgerät in einen physikalischen Zustand geraten, der sich gar nicht als Meßergebnis interpretieren läßt. Man muß kaum betonen, daß solche Superpositionen (was immer sie bedeuten mögen) das Resultat wirklicher Meßvorgänge nicht richtig wiedergeben.
Gemäß der herrschenden Lehre muß man darum die erste Kategorie von Gesetzen durch eine zweite, explizit probabilistische ergänzen. Diesen Gesetzen zufolge wird ein Elektron, das eine Superposition aus dem Aufenthalt in A und dem in B ist, bei der Messung mit jeweils 50 Prozent Wahrscheinlichkeit entweder nur im Gebiet A oder nur im Gebiet B angetroffen werden. Somit wird durch die Bestimmung des Ortes die Wellenfunktion des Elektrons derart verändert, daß ihr Wert nur in A oder nur in B von null verschieden ist. (Man nennt das den Kollaps der Wellenfunktion.)
Wodurch unterscheiden sich aber nun die Geltungsbereiche der beiden Gesetzeskategorien? Die Begründer der Quantenmechanik meinten, das habe etwas mit dem Unterschied zwischen einer Messung und einem normalen physikalischen Vorgang zu tun, zwischen Beobachter und beobachtetem Gegenstand, zwischen Subjekt und Objekt.
Seit längerem halten viele Physiker und Philosophen diesen Stand der Dinge für zutiefst unbefriedigend. Es scheint absurd, daß die erfolgreiche Formulierung der fundamentalsten Naturgesetze von derart vagen Unterscheidungen abhängen soll. In den letzten Jahrzehnten hat sich diese Ungenauigkeit in den Grundlagen der Quantenmechanik als hartnäckiges Ärgernis erwiesen. Das Problem trägt viele Namen: Schrödingers Katze, Wigners Freund, die quantenmechanische Reduktion des Zustandsvektors; oft spricht man einfach vom Meßproblem der Quantenmechanik (siehe Spektrum der Wissenschaft, September 1992, Seite 82).
Bohms deterministisches Modell
Eine besonders interessante Lösung des Meßproblems hat Bohm formuliert. Zwar hatte der französische Physiker Louis de Broglie (1892 bis 1987, Nobelpreis 1929) bereits einige Jahre früher ein ähnliches Modell entwickelt, doch die Bohmsche Theorie ist viel weiter ausgearbeitet und allgemeiner. Vor einiger Zeit hat der lange am europäischen Physik-Forschungszentrum CERN bei Genf tätige John S. Bell das Bohmsche Modell in eine sehr einfache und überzeugende Form gebracht.
Entgegen allen erwähnten empirischen Befunden beharrt die Bohmsche Theorie darauf, daß jedes Teilchen sich prinzipiell und immer an einem wohldefinierten Ort aufhalte; zudem äußert sie sich über die physikalische Wirklichkeit viel klarer als die Kopenhagener Interpretation. In Bohms Modell sind die Wellenfunktionen nicht nur mathematische, sondern physikalisch reale Objekte; Bohm behandelt sie ähnlich wie klassische Gravitations- oder Magnetfelder. Die Wellenfunktionen führen demnach wie klassische Kraftfelder die Teilchen auf ihren Bahnen.
Die zeitliche Entwicklung dieser Wellenfunktionen gehorcht ausnahmslos den üblichen linearen Differentialgleichungen der Quantenmechanik – eine probabilistische zweite Gesetzeskategorie gibt es nicht. Zwar beschreiben in der Bohmschen Theorie zusätzliche Gesetze, wie die Wellenfunktionen die Bewegung der zugehörigen Teilchen führen; doch all diese Gesetze sind vollständig deterministisch. Das heißt, im Prinzip lassen sich sowohl die Orte sämtlicher Teilchen als auch die vollständige quantenmechanische Wellenfunktion der Welt zu einem beliebigen Zeitpunkt mit Sicherheit aus den Teilchenorten und der Gesamt-Wellenfunktion zu einem früheren Zeitpunkt berechnen.
Wenn diese Berechnungen nicht vollständig durchführbar sind und unbestimmte Ergebnisse liefern, hat dies nach dieser Theorie lediglich erkenntnistheoretische Gründe: Die Unbestimmtheit ist die Folge eines Mangels an Wissen, nicht die Wirkung einer unvermeidlichen Zufallskomponente in den Naturgesetzen selbst. Dennoch gilt auch hier, daß prinzipiell ein Rest von Unwissenheit verbleibt – er wird uns von den Bewegungsgesetzen der Bohmschen Theorie aufgezwungen. Dieser Wissensmangel erweist sich als gerade so groß, daß er die bekannten statistischen Vorhersagen der Quantenmechanik hervorruft. Dabei bildet man gleichsam aus dem, was man nicht genau weiß, den Mittelwert – genau wie in der klassischen statistischen Mechanik.
Die Theorie beschreibt auch den Meßvorgang als einen realen, konkreten und deterministischen physikalischen Prozeß, der sich mathematisch exakt darstellen läßt und den Beobachtungsgegenstand unweigerlich stört. Nach der Bohmschen Theorie ließe sich mithin unsere Unkenntnis – obwohl sie nur ein Mangel an Wissen um vollkommen eindeutige Tatsachen ist – nicht ohne eine Verletzung fundamentaler physikalischer Gesetze aufheben: Zumindest eines der beiden Bewegungsgesetze, auf denen die Theorie beruht, würde verletzt (siehe Kasten auf Seite 76).
Die Bohmsche Theorie vermag beispielsweise die Experimente mit geteilten Elektronenstrahlen – bei denen sich anscheinend nicht sagen läßt, welchen von beiden Wegen ein bestimmtes Teilchen einschlägt – vollständig zu erklären. Tritt ein Elektron mit Rechts-Spin in den Apparat ein, so besagt die Bohmsche Theorie ganz einfach, daß es entweder den oberen oder den unteren Weg nehmen wird. Welchen von beiden das Teilchen tatsächlich wählt, wird durch die Anfangsbedingungen (der ursprünglichen Wellenfunktion und der Position des Teilchens) vollständig determiniert. Allerdings lassen sich prinzipiell nicht alle Details der Anfangsbedingungen messen. Der entscheidende Punkt ist aber, daß die Wellenfunktion des Elektrons – gleichgültig, welchen Weg das Teilchen letztlich nimmt – sich auf beide Wege aufspaltet; genau das schreiben ihr die linearen Differentialgleichungen der Bohmschen Theorie vor.
Schlägt das Elektron etwa den oberen Weg ein, so trifft es im Vereinigungsgerät wieder mit dem Teil seiner Wellenfunktion zusammen, der den unteren Weg genommen hat. Der Einfluß, den dieser Teil der Wellenfunktion auf die Bewegung des Elektrons nach der Vereinigung ausübt, hängt von den physikalischen Bedingungen auf dem unteren Weg ab. Allgemeiner ausgedrückt: Diejenige Komponente der Wellenfunktion, die einen anderen Weg als das Elektron eingeschlagen hat, kann nach der Vereinigung das Teilchen gleichsam über den alternativen Weg informieren. Ist beispielsweise der untere Weg durch einen Absorber blockiert, so fehlt am Ausgang des Vereinigungsgeräts die untere Komponente der Wellenfunktion – eben dies aber ist eine wichtige Information, von der die Bewegung des Elektrons, auch wenn es den oberen Weg genommen hat, entscheidend abhängt.
Nach der Bohmschen Theorie ist der leere Teil der Wellenfunktion – die Komponente, die nicht dem Weg des Teilchens entspricht – prinzipiell nicht nachweisbar. Aus der zweiten Gleichung im Kasten auf dieser Seite folgt, daß nur die zum jeweiligen Zeitpunkt mit dem zugehörigen Teilchen besetzte Komponente die Bewegung anderer Teilchen zu beeinflussen vermag. Darum hinterläßt der leere Teil der Wellenfunktion – obwohl er physikalisch real ist – niemals eine direkt beobachtbare Spur.
Somit beschreibt das Modell die scheinbar paradoxen Versuchsergebnisse genauso gut wie das Standardmodell – aber ohne die metaphysischen Haarspaltereien, mit denen man sich bei quantenmechanischen Superpositionen herumschlagen muß. Vor allem vermeidet die Bohmsche Theorie das notorische Meßproblem. Ihre linearen Bewegungsgleichungen beschreiben exakt und vollständig, wie sich die Wellenfunktion des gesamten Universums zeitlich entwickelt – Meßgeräte und Beobachter eingeschlossen. Außerdem lassen sich im Prinzip eindeutige Aussagen über die Teilchenorte machen; und damit sind die Zeigerstellungen bei Meßgeräten, die Lage der Tintenmoleküle in Versuchsprotokollen, die Orte der Ionen im Gehirn von Beobachtern und letztlich auch die Ergebnisse von Experimenten eindeutig bestimmt.
Einwände gegen Bohms Modell
Trotz solch eindrucksvoller Vorzüge wurde dieses Modell kaum diskutiert, und seit 40 Jahren sind fast alle Physiker der Standardinterpretation der Quantenmechanik treu geblieben. Viele Forscher haben die Bohmsche Alternative für immer verworfen, weil sie den Ort der Teilchen mathematisch bevorzugt und dadurch die für den quantenmechanischen Formalismus typische Symmetrie zwischen Ort und Impuls zerstört – als ob dieser Symmetriebruch für das wissenschaftliche Denken ein höherer Preis wäre als der radikale Verzicht auf eine objektive physikalische Realität, den die Kopenhagener Deutung fordert.
Andere verwarfen die Bohmsche Version, weil sie auf den ersten Blick dieselben empirischen Vorhersagen macht wie die Standardtheorie – als ob diese Tatsache eher für die eine als für die andere spräche. Manche Forscher zitierten auch angebliche Beweise (der berühmteste stammt von dem ungarisch-amerikanischen Mathematiker John von Neumann), wonach eine deterministische Formulierung der Quantenphysik prinzipiell unmöglich sei, obwohl Bohm längst das Gegenteil demonstriert hatte.
Mittlerweile gehört diese pauschale Ablehnung der Vergangenheit an. Die Kopenhagener Deutung bleibt zwar vermutlich für den praktizierenden Physiker die Standardversion der Quantenmechanik, doch wer sich heute ernsthaft mit deren Grundfragen beschäftigt, verteidigt sie kaum noch. Inzwischen gibt es zudem interessante neue Vorschläge zur Lösung des Meßproblems; zum Beispiel versucht man, den sogenannten Kollaps der Wellenfunktion präziser zu formulieren. Ob Bohms Theorie sich in solchen Fragen und angesichts der experimentellen Resultate bewährt, muß die Zukunft erweisen.
Das Phänomen der Nichtlokalität
Gegenwärtig ist die Bohmsche Theorie das einzige vollkommen deterministische Modell – und das einzige, das selbst bei mikroskopischen Systemen Superpositionen strikt ausschließt. Allerdings enthält es für den physikalischen Hausverstand gewisse Zumutungen. Die vielleicht größte ist seine Nichtlokalität: Ein Ereignis im Gebiet A kann sich augenblicklich in einem beliebig weit entfernten Gebiet B auswirken. Diese Wirkung ist zudem völlig unabhängig von den physikalischen Bedingungen, die im Raum zwischen A und B herrschen (siehe "Schneller als Licht?" von Raymond Y. Chiao, Paul G. Kwiat und Aephraim M. Steinberg, Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1993, Seite 40).
Doch vielleicht müssen wir uns ohnehin daran gewöhnen, Nichtlokalität als naturgegeben hinzunehmen. Die Standardformulierung der Quantenmechanik sowie die meisten neueren Vorschläge zum Meßproblem sind nichtlokal. Nach einer gut begründeten Überlegung von Bell muß sogar jede Theorie, die mit den statistischen Vorhersagen der Quantenmechanik und einigen naheliegenden Annahmen über die physikalische Realität übereinstimmt, zwangsläufig nichtlokal sein (Spektrum der Wissenschaft, März 1988, Seite 78).
Nur gewisse exotische Modelle opfern diese Annahmen, um der Nichtlokalität zu entgehen: Nach der sogenannten Vielwelten- oder gar der Vielgeister-Interpretation der Quantenmechanik treten alle überhaupt nur möglichen Ergebnisse eines Experiment wirklich ein – freilich in einer Unzahl parallel existierender Welten. Doch vielleicht ist der Preis, den diese bizarren Modelle für die Rettung der Lokalität zahlen, allzu hoch.
Man hat gegen Bohms Modell noch weitere Bedenken geäußert: Was ist darin genaugenommen unter Wahrscheinlichkeit zu verstehen? Bedeutet die Feststellung, daß jedes Teilchen der Welt mit Sicherheit an einem bestimmten Ort zu finden sei, auch wirklich, daß jede vorstellbare Messung ein determiniertes Ergebnis hat und daß alles, was wir für determiniert halten, auch wirklich determiniert ist? Solche Fragen werden zur Zeit lebhaft diskutiert.
Vor allem muß betont werden, daß das bisher Gesagte nur für die nicht-relativistische Physik gilt – das heißt, für Systeme mit nicht sehr hohen Energien bei Geschwindigkeiten deutlich unterhalb der des Lichts und ohne extrem starke Gravitationsfelder. An einem Bohmschen Gegenstück zur relativistischen Quantenfeldtheorie wird zwar gearbeitet, aber der Erfolg ist keineswegs sicher. Wenn die Bemühungen um eine relativistische Erweiterung prinzipiell fehlschlagen sollten, müßte man die Bohmsche Theorie endgültig verwerfen.
Allerdings stehen auch die meisten anderen Lösungsversuche des Meßproblems vor dem gleichen Dilemma – ausgenommen die Vielwelten- und Vielgeister-Interpretationen. Nur ist bei diesen zwar die relativistische Verallgemeinerung simpel, doch dafür sind die metaphysischen Voraussetzungen schwer zu glauben. Wie die Grundlagen der Quantenmechanik sich künftig entwickeln, wird sehr davon abhängen, ob sie sich mit Albert Einsteins Relativitätstheorie vereinbaren lassen.
Jedenfalls ist die Debatte um die Fundamente unseres physikalischen Weltbilds wieder lebhafter geworden. Insbesondere steht erneut in Frage, ob nicht letztlich doch vollkommen deterministische Gesetze für die Bewegung von Teilchen existieren – oder für deren Entsprechung in der relativistischen Quantenfeldtheorie.
Literaturhinweise
- Philosophie und moderne Physik. Systeme, Strukturen, Synthesen. Von Bernulf Kanitscheider. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1979.
– A Suggested Interpretation of the Quantum Theory in Terms of "Hidden" Variables, I und II. Von David Bohm in: Quantum Theory and Measurement. Herausgegeben von J.A. Wheeler und W.H. Zurek. Princeton University Press, 1983.
– On the Impossible Pilot Wave. In: Speakable and Unspeakable in Quantum Mechanics. Von John S. Bell. Cambridge University Press, 1987.
– Bohm's Theory. In: Quantum Mechanics and Experience. Von David Z. Albert. Harvard University Press, 1992.
– Quantum Equilibrium and the Origin of Absolute Uncertainty. Von Detlef Dürr, Sheldon Goldstein und Nino Zanghi in: Journal of Statistical Physics, Band 67, Heft 5/6, Seiten 843 bis 908, Juni 1992.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 1994, Seite 70
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