Der Mathematische Monatskalender: Niels Henrik Abel (1802–1829): Mit der Arbeitsmappe durch Europa
Als Niels Henrik Abel geboren wird, befindet sich seine Heimat Norwegen zwischen den Fronten eines europäischen Krieges. Napoleon wie auch die Verbündeten Großbritanniens verhängen eine Blockade über das Land; es ist von den übrigen Staaten abgeschnitten. Norwegen, nur noch formal Teil Dänemarks, wird von schwedischen Truppen besetzt und gewinnt endgültig seine Unabhängigkeit.
Obwohl Abels Vater eine feste Stelle als protestantischer Pfarrer hat, wächst Niels Henrik Abel mit seinen sechs Geschwistern in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen auf. Zunächst wird er von seinem Vater unterrichtet; mit 13 Jahren darf er (zusammen mit seinem älteren Bruder) die Dom-Schule in der Hauptstadt Christiania (heute Oslo) besuchen. Der Wechsel an diese Schule bedeutet zunächst keinen Lernfortschritt, da die vorher angesehene Schule alle Lehrer an die neu gegründete Universität verloren hat. Dann endlich wird mit Bernt Holmboë ein qualifizierter Mathematiklehrer angestellt, der nicht nur die besondere mathematische Begabung des Jungen erkennt, sondern ihn sogar fördern kann. Er erläutert ihm Werke von Euler und Newton. Abel hält deren Beweise des allgemeinen binomischen Lehrsatzes für nicht exakt genug, und er schließt die Beweislücken mit bisher dahin kaum üblicher Genauigkeit; auch erweitert er die Aussage des Satzes auf beliebige reelle Exponenten.
Als Abel 18 Jahre alt ist, stirbt der trunksüchtige Vater; die labile Mutter ist mit der Versorgung der jüngeren Kinder überfordert. Eine Fortsetzung des Schulbesuchs scheint aus finanziellen Gründen nicht mehr möglich, ein zukünftiger Wechsel an die Universität ausgeschlossen. Holmboë aber kann Freunde überzeugen, Geld für die Fortsetzung des Schulbesuchs zur Verfügung zu stellen.
In seinem letzten Jahr an der Schule glaubt Abel ein jahrhundertealtes Problem gelöst zu haben, nämlich die Lösungen von beliebigen Gleichungen fünften Grades mit Hilfe von Wurzeltermen auszudrücken. Niemand in Norwegen kann seinen Gedankengängen folgen, so dass ihm empfohlen wird, seine Überlegungen Mathematikern an der Universität Kopenhagen vorzulegen.
Bei einer Bearbeitung des Textes bemerkt Abel den Fehler, der ihm unterlaufen ist. Dies lässt ihn wenige Jahre später auch verstehen, warum es ein allgemeines Verfahren zur Lösung von Gleichungen fünften Grades nicht geben kann.
Mit 19 Jahren wird Abel an der Universität von Christiania immatrikuliert, an der es allerdings keine eigentlichen Mathematikvorlesungen gibt. Holmboë kann seinen ehemaligen Professor Christopher Hansteen, der später als Erforscher des Erdmagnetfeldes bekannt wird, davon überzeugen, »dieses ungewöhnliche Talent der Wissenschaft zu erhalten«. Hansteen kümmert sich persönlich um Abel, finanziert ihm eine Reise nach Kopenhagen, damit er seine Überlegungen dem dänischen Mathematiker Ferdinand Degen unterbreiten kann. Dieser gibt Abel die Anregung, sich mit den so genannten elliptischen Integralen zu beschäftigen. Um beispielsweise die Bogenlänge einer Ellipse (daher der Name) zu bestimmen, müssen Integrale berechnet werden: Durch die Funktion \(f\) mit \(f(x)=a\cdot\int_0^x\sqrt{1–\epsilon^2\cos^2(t)dt}\) wird jedem Winkel \(x\) die Bogenlänge \(f(x)\) zugeordnet; dabei sind \(a, b\) die Halbachsen der Ellipse \(\epsilon=\frac{\sqrt{a^2-b^2}}{a},\) die numerische Exzentrizität.
Diese Integrale (wie auch andere ähnlichen Typs) sind nicht elementar berechenbar, das heißt, man kann keine elementare Funktion angeben, deren Ableitung gleich der Integrandfunktion ist – die Funktionswerte von \(f\) können nur numerisch bestimmt werden. Abel hat die Idee, Eigenschaften der zugehörigen Umkehrfunktion zu untersuchen, bei der also einer bestimmten Bogenlänge der zugehörige Winkel zugeordnet wird, und begründet so die »Theorie der elliptischen Funktionen«. Er kommt zu der Überzeugung, dass er persönlichen Kontakt zu den größten Mathematikern der Zeit, Carl Friedrich Gauß in Göttingen und Adrien-Marie Legrendre (dem Experten für elliptische Funktionen) und Augustin Cauchy in Paris aufnehmen muss.
Während der nächsten zwei Jahre lernt er intensiv die beiden Fremdsprachen, arbeitet aber auch weiter an mathematischen Problemen. 1824 veröffentlicht er »Mémoire sur les équations algébriques ou on démontre l'impossibilité de la résolution de l'équation générale du cinquième degré«, aus Kostengründen in sehr komprimierter Form, und sendet ein Exemplar an Gauß, der es ungelesen beiseite legt. Wegen fehlender Kontakte zur Wissenschaftswelt entgeht Abel, dass Paolo Ruffini (1765–1822) bereits 1799 ein Papier mit ähnlichen Ideen veröffentlicht hat, allerdings mit lückenhaftem Beweis.
1825 endlich werden ihm Mittel bewilligt, die er für seine Reise benötigt. Mit einem Empfehlungsschreiben besucht er zunächst den Ingenieur August Leopold Crelle in Berlin, der gerade daran arbeitet, die von Hochschulen unabhängige Zeitschrift »Journal für die reine und angewandte Mathematik« herauszugeben.
In der ersten Ausgabe von »Crelles Journal« erscheinen sieben Beiträge von Abel, darunter die »Recherches sur les fonctions elliptiques« und Beweis der Unmöglichkeit algebraische Gleichungen von höheren Graden als dem vierten allgemein aufzulösen. In dem zweiten Beitrag gibt er Kriterien an, welche von den Gleichungen höheren Grades sich mit Radikalen, das heißt unter Verwendung von Wurzelzeichen, lösen lassen. Dabei entdeckt er die Beziehungen, welche die Lösungen untereinander haben (Zuordnungen, deren Reihenfolge vertauscht werden kann – daher werden heute die kommutativen Gruppen als abelsche Gruppen bezeichnet).
Da ihm Gauß als unnahbar beschrieben wird, reist er nicht nach Göttingen, sondern über Freiberg, Dresden, Wien und Venedig nach Paris. Dort findet er allerdings keine Gesprächspartner. Schließlich reicht er bei der Akademie ein Papier über die Verallgemeinerung eines Additionstheorems von elliptischen Integralen ein (heute als »abelsches Theorem« bezeichnet); Legendre und Cauchy werden mit der Begutachtung beauftragt. Während Legendre aus Altersgründen nicht mehr dazu in der Lage ist, schreckt Cauchy vor der Lektüre zurück. Auch ist Cauchy so sehr mit eigenen Veröffentlichungen beschäftigt, dass er den eingereichten Beitrag verlegt und nicht mehr wiederfindet. Als der Artikel nach Abels Tod wiedergefunden wird, wird ihm posthum der Preis der Akademie zugesprochen.
Abel ist enttäuscht, weiß er doch, dass ein positives Urteil von Cauchy ihm endlich die Anerkennung bringen würde, die er sucht: »Cauchy ist verrückt und man kann nichts dagegen tun, aber er ist der Einzige, der weiß, wie man Mathematik machen sollte.«
Entmutigt reist er wieder zurück. In Berlin versucht Crelle, ihn zum Bleiben zu bewegen. Er bietet ihm die Mitherausgeberschaft seiner Zeitschrift an; auch bemüht er sich, für ihn eine Stelle an der Berliner Universität zu finden. Aber Abel, verschuldet und erschöpft, möchte nach Christiania zurück, auch, um seine Verlobte wiederzusehen. Erst findet er dort nur eine Stelle als Aushilfslehrer; dann darf er Hansteen, der eine große Expedition nach Sibirien unternimmt, an der Universität vertreten. Körperlich geschwächt arbeitet er an den elliptischen Funktionen weiter: Zwischen ihm und dem Berliner Mathematiker Carl Gustav Jacob Jacobi, der – unabhängig von ihm – ähnliche Ansätze gefunden hat, entwickelt sich eine fruchtbare, aber kräftezehrende Konkurrenz.
Durch seine Veröffentlichungen wächst Abels Ansehen in der wissenschaftlichen Welt; sogar Gauß, der sich ebenfalls mit den elliptischen Funktionen intensiv beschäftigt, aber nichts veröffentlicht hat, zeigt sich von den Beiträgen beeindruckt.
Ende des Jahres 1828 erkrankt Abel schwer; in Paris hatte er sich an Tuberkulose infiziert. Am 6. April stirbt er; zwei Tage später erhält Crelle die Zusage von der Universität Berlin, dass dort für Abel eine Dozentenstelle eingerichtet werden soll.
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