Der Mathematische Monatskalender: Matteo Ricci (1552–1610): Katholischer Missionar
Seit Marco Polo über den Landweg nach China gereist war, sich dort von 1275 bis 1292 aufgehalten und nach seiner Rückkehr einen Reisebericht über das geheimnisvolle »Cathay« verfasst hatte, übten die unbekannten Länder im Osten eine starke Faszination auf die Menschen in Europa aus. Im 15. und 16. Jahrhundert versuchten wagemutige Seefahrer, die Welt zu erkunden. 1513 erreichten portugiesische Schiffe erstmals den südchinesischen Hafen Macao und gründeten dort Mitte des Jahrhunderts eine Handelsniederlassung gegen Zahlung einer Pacht; bis 1695 war es der einzige See-Zugang für Fremde zum chinesischen Reich. Den Händlern folgten die Missionare, vor allem aus dem Orden der Jesuiten, die den Auftrag ihrer Kirche hatten, die chinesische Bevölkerung zum katholischen Glauben zu bekehren. Der Italiener Matteo Ricci (1552–1610) war der erste und berühmteste unter ihnen. In Zusammenarbeit mit Xu Guangqi (1562-1633) übersetzte er Bücher über »westliche« Mathematik in die chinesische Sprache.
Zu den Nachfolgern Riccis gehörten Johann Adam Schall von Bell (1592–1666) und Ferdinand Verbiest (1623–1688). Aufgrund ihrer Fähigkeiten als Mathematiker und als Astronomen kamen die drei Jesuiten in China zu hohem Ansehen.
Der Italiener Matteo Ricci hatte in Rom zunächst mit dem Studium der Rechte begonnen, trat dann in den Jesuitenordnen ein und studierte Mathematik und Astronomie bei Christopher Clavius (1538–1612), dem aus Bamberg stammenden Leiter der päpstlichen Kommission, die mit der Neuordnung des Kalenderwesens beauftragt war. Die Briefmarke des Vatikan zeigt Clavius, der von Zeitgenossen als »Euklid des 16. Jahrhunderts« bezeichnet wurde, wie er Papst Gregor XIII den Entwurf der neuen Zeitrechnung überreicht (Gregorianische Kalenderreform 1582).
Matteo Ricci reiste 1582 über Macao nach China ein, erlernte die chinesische Sprache und befasste sich intensiv mit der chinesischen Kultur. Er erstellte eine Weltkarte (bereits mit amerikanischem Kontinent), durch die er den – seit Jahrhunderten in Isolation lebenden – Chinesen die Randlage und tatsächliche Größe des Landes aufzeigte. 1589 begann er damit, chinesischen Studenten die mathematischen Ideen des Euklid zu vermitteln – so, wie er sie bei Clavius kennen gelernt hatte. Sein umfassendes Wissen und seine Fähigkeit, sich auf die fremde Kultur einzulassen und traditionelle chinesische Werte und Bräuche anzuerkennen, verschafften ihm hohes Ansehen unter den Gebildeten. 1601 wurde ihm sogar der Zutritt zu der für Fremde verbotenen Stadt Peking erlaubt; dort lebte er wie ein Mandarin (Minister) am kaiserlichen Hof. (Die Briefmarken aus China beziehungsweise Italien zeigen ihn in der typischen Kleidung eines Mandarins.)
Seine Sprachkenntnisse waren schließlich so weit entwickelt, dass er mehrere Bücher über mathematische und theologische Themen in chinesischer Sprache verfasste. In Zusammenarbeit mit dem Angehörigen des chinesischen Hofes, Xu Guangqi, begann er 1607 die Werke des Euklid ins Chinesische zu übersetzen. Dabei erläuterte er seinem gelehrigen Schüler den Inhalt der von Clavius vorgenommenen lateinischen Übersetzung; dieser versuchte, dies soweit er es verstanden hatte in chinesischer Sprache angemessen wiederzugeben. In den Hinweisen für die Leser schrieb Xu Guangqi: »Vier Dinge in diesem Buch sind nicht notwendig: an den Sätzen zu zweifeln, neue Sätze zu vermuten, zu überprüfen oder zu modifizieren. Außerdem sind in diesem Buch vier Dinge unmöglich: irgendeinen Teil wegzulassen, zu widerlegen, zu kürzen oder die Reihenfolge zu verändern.«
Im Unterschied zur strengen Vorgehensweise der griechischen Mathematik hatte sich die traditionelle chinesische Mathematik vor allem mit praktischen Fragen, also der Anwendung von Mathematik, beschäftigt. Für die Grundbegriffe der euklidischen Geometrie wie Punkt, Kurve, Parallele, spitzer oder stumpfer Winkel gab es in der chinesischen Sprache keine eigenen Wörter.
Diese musste Xu Guangqi »erfinden«; seitdem sind sie, ebenso wie geometrische Planfiguren, Bestandteil auch der chinesischen Mathematik geworden. Xu Guangqi war so sehr von der Überlegenheit der europäischen Mathematik überzeugt, dass er selbst es nicht bedauerte, dass bedeutende Schriften der klassischen chinesischen Mathematik aus dem 3.-7. Jahrhundert verloren gegangen waren.
Ricci hoffte, durch die Vermittlung der wissenschaftlichen Leistungen des Westens die Überlegenheit des Christentums zu demonstrieren und hierdurch die chinesische Bevölkerung zu missionieren. Große Hoffnung setze er darauf, den Gregorianischen Kalender als überzeugendstes Zeichen der Stärke auch in China einzuführen. Dieses Vorgehen, bei dem die wissenschaftlichen, nicht die religiöse Lehre im Mittelpunkt stand, wie auch seine Tolerierung des traditionellen Ahnen- und Konfuziuskultes der Chinesen stieß in der eigenen Kirche auf heftige Kritik. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere starb Ricci; er wurde mit höchsten Ehren in einem vom Kaiser gestifteten Grab in Peking beigesetzt.
Als es Xu Guangqi in Zusammenarbeit mit dem aus Köln stammenden Jesuiten Johann Adam Schall von Bell im Jahre 1629 in den Vorhersagen für eine Sonnenfinsternis gelang, alle Konkurrenten an Genauigkeit zu übertreffen, wurde er vom Kaiser mit der Kalenderreform beauftragt. Auch Schall verfasste mathematische Bücher in chinesischer Sprache, baute neuartige astronomische Instrumente und lehrte das heliozentrische Weltbild (was die Kirche in Europa immer noch unterdrückte). Nach dem Sieg der Mandschu über die Ming-Dynastie wurde Schall 1644 Präsident des astronomischen Amtes, erhielt 1650 sogar die Erlaubnis zum Bau der ersten katholischen Kirche in Peking.
Als Mandarin nahm er großen Einfluss auf die Politik des regierenden Kaisers. Als dieser 1662 unerwartet starb, wurde ihm jedoch als angeblich Schuldigem der Prozess gemacht. Viele am Hof hatten nur auf eine Gelegenheit gewartet, dem Einfluss der unerwünschten Fremden Einhalt zu bieten. Ferdinand Verbiest konnte als Verteidiger nicht verhindern, dass Schall zum Tode verurteilt wurde nur ein Erdbeben rettete ihn vor der Vollstreckung des Urteils. Die Richter interpretierten die Naturkatastrophe als Gottesbeweis für dessen Unschuld. In der Zwischenzeit war Schall allerdings ebenfalls in die innerkirchliche Kritik geraten und wurde kirchenintern sogar wegen Unterstützung des Aberglaubens angeklagt. Nach einem Schlaganfalls gelähmt, starb er 1666 in der Jesuiten-Mission in Peking.
Auch der Einfluss von Verbiest auf den neuen Mandschu-Kaiser war groß; dieser beauftragte ihn, die bereits von Ricci vorgeschlagene Kalenderreform umzusetzen. Er durfte ihn auf seinen Reisen durch das große Reich begleiten und war an den in lateinischer Sprache geführten Grenzverhandlungen mit einer russischen Delegation beteiligt. Nach dem Tode Verbiests erreichten Missionare anderer Orden beim Papst, dass die seit Ricci geduldete Ausübung besonderer chinesischer Riten ein Ende fand.
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