Gehirnforschung: Die schnellste Nase der Welt
Der Sternmull sieht aus, als käme er von einem anderen Stern. Der Fingerkranz an der Nasenspitze dieses amerikanischen Maulwurfs ertastet Beutetiere mit rasend schnellen Bewegungen.
Nasobeme – Nasenschreitlinge – entsprangen der Fantasie von Christian Morgenstern. Der Dichter erschuf sie in seinen "Galgenliedern". Der kleine Sternmull aus Amerika mit seiner fantastischen Nase aber lebt wirklich. Deutlich sieht man die zweiundzwanzig rosa Anhänge rund um die Nasenlöcher allerdings nur auf Fotos. Denn normalerweise betasten sie immerfort so schnell die Umgebung, dass unser Auge sie überhaupt nicht wahrnimmt.
Als ich diese merkwürdigen Maulwürfe aus dem Nordosten Nordamerikas zu erforschen begann, ahnte ich noch nicht, wie viele Überraschungen die kleinen Insektenfresser bereithalten würden. Nicht nur ihre Nase selbst stellt ein außergewöhnliches Organ dar. Auch ihr Gehirn erweist sich als bemerkenswert spezialisiert. Dies erhellt alte Fragen dazu, wie das Hochleistungsgehirn der Säugetiere entstand und aufgebaut ist.
Ein ausgewachsener Sternmull, wissenschaftlich Condylura cristata genannt, ist durchschnittlich etwas kleiner als ein Europäischer Maulwurf, Talpa europaea. Mit rund fünfzig Gramm wiegt er auch etwas weniger. Systematiker stellen beide Arten zu den Insektivoren und dort in die Familie Maulwürfe oder Talpidae, die weltweit rund dreißig Arten umfasst.
Allerdings suchen Sternmulle nicht nur unter der Erde Beute. Sie jagen auch im Wasser. In ihrem Verbreitungsgebiet, Ostkanada und der Nordosten der Vereinigten Staaten, graben sie ihre Gänge meist dicht unter der Oberfläche in nassem Gelände und im morastigen Grund von Gewässern. Sie jagen auch am Grunde von Tümpeln und Bächen.
Wie andere Maulwürfe besitzt der Sternmull einen sehr raschen Stoffwechsel und weist darum einen sagenhaften Appetit auf. Täglich muss er mindestens so viel verzehren, wie er wiegt, schon um Fettreserven für den harten Winter in seinem Verbreitungsgebiet anzulegen – obwohl er auch dann Beutezüge unternimmt. Außer Regenwürmern, der Hauptnahrung seines europäischen Verwandten, jagt ein Sternmull alles mögliche Getier, das sich im Morast, zwischen verwesenden Blättern und im Bodensatz von Gewässern versteckt hält: darunter Schnecken, Insektenlarven und vielerlei andere kleine Tiere.
Um im Schlamm und Matsch oder im morastigen Wasser Fressbares zu finden, benutzt dieses seltsame Säugetier den Stern auf seiner Nase. Das Anhängsel dient dem fast blinden Maulwurf mit den im Verhältnis zum Körper riesigen Schaufelhänden aber nicht etwa zum besseren Riechen. Auch stellt es keine extra Hand zum Greifen dar wie der Elefantenrüssel. Das eigenartige hellrosa Gebilde eignet sich vielmehr vortrefflich zum Tasten. Die Empfindlichkeit dieses Tastorgans schlägt alle Rekorde. Als ich zum ersten Mal die Haut des Sterns unter dem Raster-Elektronenmikroskop betrachtete, war ich völlig verblüfft. Erwartet hatte ich locker in der Haut verstreute Taststrukturen. Doch ich erblickte sinnesempfindliche Gebilde dicht an dicht. Die Oberfläche des Nasensterns besteht praktisch aus nichts anderem. Das erinnerte mich an die Netzhaut im Auge, in der die Sinnesstrukturen auch eng gedrängt stehen.
Die zweiundzwanzig Nasenanhänge wirken wie gepflastert mit winzigen Noppen. In jedem dieser so genannten Eimer’schen Organe, die nur bei Maulwürfen vorkommen, sitzen drei Sorten von Sinnesrezeptoren. Zwei davon sind übliche Tastrezeptoren von Säugetieren. Der dritte Rezeptortyp ist eine Spezialität bei Maulwürfen.
Einer der beiden gewöhnlichen Rezeptortypen liegt ganz unten in der Basis einer Tastnoppe. Er besteht aus dem Ende eines einzelnen Nervenzellausläufers (einer Nervenfaser), vielschichtig umwickelt von einer Hilfszelle – einer so genannten Schwann’schen Zelle. Dieser Rezeptortyp spricht auf vergleichsweise einfache Reize an, etwa auf Vibrationen. Er meldet auch die erste Berührung eines Objektes mit der Noppe. Darüber sitzt der zweite einfache Rezeptortyp. Diesmal handelt es sich um einen Nervenzellausläufer, der zu einer Merkel’schen Zelle Kontakt hat, einer anderen Art von Hilfszelle. Dieser Typ spricht nur auf anhaltenden Druck auf der Haut an.
Der dritte, besondere Rezeptortyp von Maulwürfen durchzieht den oberen Bereich eines Eimer’schen Organs. Eine Reihe verdickter Nervenfaserenden bilden dicht unter der Hautoberfläche ein kreisförmiges Muster ähnlich einem Speichenrad. Mit Hilfe dieser Struktur erfasst ein Sternmull die Oberfläche berührter Objekte bis in mikroskopische Details. Dies lassen Gehirnableitungen annehmen, die meine Mitarbeiter und ich durchführten.
Auf einer Gesamtfläche von nicht einmal einem Quadratzentimeter trägt der Nasenstern über 25000 Eimer’sche Organe. Insgesamt ziehen von ihm reichlich 100000 Nervenfasern aus, mehr als fünfmal so viele wie von der Hand des Menschen. Deren Botschaften gelangen schließlich bis in die Großhirnrinde, die oberste Instanz des Säugetiergehirns. Dank dieser reichen Ausstattung kann ein Sternmull auf seinen Beutezügen unglaublich rasch genauestens ertasten, was ihm vor die Nase kommt.
Ein waches Tier bewegt seine Nasenspitze und die Tentakeln pausenlos so schnell hin und her, dass unser Auge den Stern gar nicht ahnt. Erst Zeitlupenaufnahmen enthüllten, dass der Mull mit diesem Tastorgan in jeder Sekunde mindestens zwölf verschiedene Stellen berührt. Als wir Sternmullen im Labor Regenwurmstückchen auslegten, brauchten die Tiere gerade eine Sekunde, um fünf solche Brocken zu finden und zu verschlingen.
Noch erstaunlicher ist aber: Der Nasenstern arbeitet in vieler Hinsicht ganz ähnlich wie das menschliche Auge. Man muss nur einmal versuchen, die Augen beim Lesen nicht zu bewegen. Dann merkt man, dass daran zwei funktionell getrennte Systeme mitwirken. Nur in einem ganz kleinen Ausschnitt des Sehfeldes von etwa einem Winkelgrad sehen wir scharf. Diesen Bereich fängt der gelbe Fleck in der Netzhaut auf. Doch die niedrig auflösende übrige Netzhaut, die den Großteil ihrer Fläche ausmacht, lokalisiert mögliche interessante Stellen, die schärfer angeschaut werden sollten. Die Augen vollführen beständig rasche, kurze Bewegungen – Sakkaden. Dadurch richtet sich der Bereich schärfsten Sehens immerfort neu aus. So tastet er gewissermaßen die Umgebung ab.
Gehirnkarten mit überdimensionierten Flächen Ähnlich benutzen Sternmulle ihren Nasenanhang. Wenn sie durch ihre Gänge kriechen, schauen sie mit dem Stern gewissermaßen immerfort herum, indem sie die ausladende Nasenspitze unermüdlich bewegen. Diese erfasst in jedem Augenblick einen ziemlich großen Ausschnitt der nächsten Umgebung auf einmal, denn dank der vielen langen mit Sinnesrezeptoren gespickten Tentakel bedeckt der Stern eine ziemlich große Fläche. Der Nasenstern besitzt sogar etwas wie einen gelben Fleck, einen Bereich schärfster Wahrnehmung. Sobald einer der Tentakel etwas Interessantes berührt, vor allem etwas vielleicht Fressbares, richtet der Mull den Stern blitzschnell genau darauf aus. Und zwar dreht er die Nase so, dass das untere, viel kürzere Paar der Anhänge das Objekt untersuchen kann. Diese beiden winzigen Fortsätze stehen direkt über dem Mund.
Neurophysiologen zählen die Nasenanhänge beidseits von oben nach unten. Die untersten kurzen Tentakel vor dem Mund nennen sie die elften Fortsätze. Tatsächlich liegen, wie im gelben Fleck, in den elften Tentakeln die Sinnesnerven-Enden besonders dicht. Zudem erinnern die ständigen raschen Bewegungen des Sterns an die ruckartigen Augensakkaden. Denn sie richten die empfindlichste Stelle der Nase immerfort auf besonders verdächtige Punkte aus.
Die Analogie zum Sehen geht noch weiter. Sie erstreckt sich auch auf die Abbildung (im Fachjargon Repräsentation) der einzelnen sinnesempfindlichen Zonen des Nasensterns im Gehirn. Die Gehirngebiete, die Seheindrücke verarbeiten, sortieren sich topografisch nach der Lage der Rezeptoren im Auge. Benachbarte Felder der Netzhaut erscheinen auch im Gehirn nebeneinander. Das ist gut zu erkennen, wenn man die Gehirnareale als Landkarten darstellt. Solche Karten lassen sich auch für die Schnecke im Ohr und für die Haut zeichnen. Die Größenverhältnisse sind allerdings verzerrt: Stets beanspruchen besonders hoch auflösende Bereiche des Sinnesorgans im Gehirn besonders viel Platz. Der gelbe Fleck der Netzhaut etwa ist im Gehirn sehr ausgeprägt repräsentiert. Der Platz dafür ist sogar größer, als er allein auf Grund der Zahl der vom Auge ausgehenden Fasern sein müsste.
Wie würden Gehirnkarten für die tentakelbewehrte Nasenspitze des Sternmulls aussehen? Mein Kollege an der Vanderbilt Universität (in Nashville, Tennessee) Jon H. Kaas und ich haben sie vermessen. Dazu registrierten wir, wo in der Großhirnrinde Nervenzellen aktiv werden, wenn man die Eimer’schen Organe an den einzelnen Tentakeln taktil reizt. Wir fanden für den Nasenstern nicht nur eine, sondern gleich drei Hirnkarten, die jede den anatomischen Aufbau der Nase spiegeln. Die rechte Sternseite ist in der linken Gehirnhälfte repräsentiert und umgekehrt. Trotzdem staunten wir, als wir die jeweils aktiven Nervenzellen anfärbten: In der Hirnrinde ergeben sich tatsächlich Sternmuster.
Der elfte Anhang, so klein er ist, beansprucht auf den Karten bei weitem den meisten Platz von allen. Dies spiegelt seine große Bedeutung. Im Vergleich zur Zahl der Nervenfasern, die von diesem Tentakel ausgehen, nimmt er sogar verhältnismäßig noch mehr Raum ein – wie der gelbe Fleck. Ebenfalls konnten wir messen, dass der elfte Nasenanhang Oberflächen viel präziser erfasst, als die anderen Tentakel dies können. Die einzelnen Neuronen der Hirnrinde für den elften Anhang reagieren lediglich auf die Reizung eines sehr engen Bereichs auf dem Sinnesorgan. Das heißt, sie sind nur jeweils für ein sehr kleines rezeptives Feld zuständig. Die Neuronen, die für die anderen Tentakel arbeiten, erfassen viel weitere rezeptive Felder, reagieren somit wesentlich unschärfer. Auch das ist beim Sehen genauso.
Demnach findet sich auf dem Nasenstern, wie auf der Netzhaut, eine kleine Zone für besonders scharfe Wahrnehmung. Es dürfte sich dabei um ein allgemeines Prinzip handeln. Offenbar entstand diese Lösung immer wieder, wenn es in der Evolution galt, für ein Sinnessystem eine sehr hohe Auflösung zu erreichen. Selbst Hörsysteme können eine Art gelben Fleck aufweisen.
Dies untersuchte der Neurowissenschaftler Nobuo Suga von der Washington University in Saint Louis (US-Bundesstaat Missouri) bei der in Mittel- und Südamerika heimischen Schnurrbartfledermaus (siehe SdW 08/1990, S.98). Viele Fledermäuse bilden die Rufe, anhand deren Echos sie Hindernisse und Beute orten, innerhalb eines sehr engen Frequenzbereichs. Ein Großteil der Hörzellen im Ohr wie auch weite Bereiche des Gehirns sind nämlich darauf spezialisiert, nur eine bestimmte Echofrequenz zu analysieren.
Man mag es kaum glauben, aber Fledermäuse verfügen sogar über ein Pendant zu den Augensakkaden, die den gelben Fleck auf den wichtigsten Punkt im Sehfeld ausrichten. Die Fledermäuse müssen – und können – den Dopplereffekt ausgleichen, also die Verschiebung der Höhe eines Lautes. Die Echofrequenz ändert sich mit der Fluggeschwindigkeit im Verhältnis zum georteten Objekt. Das sind oft Beuteinsekten, die selbst herumfliegen. Leicht würde das Echo außerhalb der Zone schärfsten Hörens geraten. Welche Frequenz sie am besten wahrnimmt, kann eine Fledermaus zwar nicht ändern. Stattdessen verschiebt sie immerfort die Höhe ihrer Rufe. Sie stimmt sie genau so ab, dass das aufgefangene Echo im schärfsten Hörbereich liegt.
Wie erklären sich diese Parallelen bei an sich doch völlig verschiedenen Sinnessystemen? Weshalb entstanden nicht Augen, deren Netzhaut überall scharfe Bilder liefert? Wieso können nicht alle zweiundzwanzig Tentakel des Sternmulls Oberflächen hochpräzise fühlen? Das würde die raschen Augenbewegungen beziehungsweise das atemberaubend schnelle Herumtasten ersparen. Es erforderte allerdings ein vielfach größeres Gehirn, um nur einen besonders offensichtlichen Aspekt zu nennen. Unser Kopf wäre wegen der zusätzlichen Zellen und Nervenfasern mindestens fünfzigmal so groß, wenn jeder Punkt der Netzhaut so scharf sehen könnte wie der gelbe Fleck. Offenbar war die bessere Lösung, wie hochleistungsfähige Sinnessysteme entstehen konnten: Für einen geringen Teil der Sinnesfläche im Gehirn steht besonders viel Verarbeitungskapazität bereit und dieser Ausschnitt wird dann hin und her gefahren.
Vorrang für Tentakel Nummer elf
Je weiter die Studien über die Sinnesleistungen des Sternmulls gediehen, umso mehr neue Fragen tauchten auf. Vor allem wollten wir gern wissen, wie es dazu kommt, dass ein sehr kleiner Bereich der Sinnesfläche übermäßig viel Platz im Gehirn beansprucht. Früher glaubten Neurowissenschaftler, jedem Sinneseingang – jeder Faser, die ins Gehirn zieht – stehe während der Gehirnentwicklung zunächst etwa gleich viel Fläche auf der Hirnrinde zu. Doch so demokratisch wird der Platz nicht vergeben. Eine Reihe von Studien über das Sehsystem von Primaten haben gezeigt, dass Nervenfasern vom gelben Fleck von vornherein verhältnismäßig mehr Fläche auf der Hirnrinde erhalten als Nervenfasern aus der Peripherie der Netzhaut.
Gleiches fanden wir beim Sternmull, als wir die Größe der Hirnrindenareale für jeden Nasententakel mit der Anzahl der Nervenfasern aus den einzelnen Tentakeln verglichen. Nachdem wir reichlich 200000 solche Fasern gezählt hatten, waren wir sicher: Die einzelnen Sinnesnervenzellen aus Nasenanhang Nummer elf besitzen in der Hirnrinde wesentlich mehr Projektionsfläche als die Neuronen aus den anderen Anhängen.
Somit ist der Bereich schärfsten Tastens – wie der schärfsten Sehens – gleich zweifach bevorteilt. Im Sinnesorgan liegen die sensorischen Neuronen hier besonders dicht; und im Gehirn wird der Information jedes einzelnen dieser Neuronen besonders viel Aufmerksamkeit geschenkt.
Wie entsteht das Ungleichgewicht? Wie erlangen bestimmte Sinneseingänge mehr Fläche auf den Gehirnkarten? Diese Frage berührt einen gegenwärtig viel beachteten Aspekt der modernen Hirnforschung. Denn dass sich Größenverhältnisse von Gehirnfeldern verschieben, scheint einerseits beim Erlernen komplexer Aufgaben entscheidend mitzuwirken und andererseits beim Menschen für die Rehabilitation nach Hirnverletzungen oder Schlaganfällen wichtig zu sein. Wie die Gehirnkarten letztlich aussehen, wird zwar durch die Entwicklungsmechanismen wohl auch vorgegeben. Doch sprechen dabei ebenfalls Wahrnehmungserfahrungen mit. Nicht nur während der Hirnreifung, sondern sogar noch im reifen Gehirn herrscht eine gewisse Plastizität.
Die Frage war also, ob und inwieweit beim Sternmull die unterschiedliche Nutzung der einzelnen Nasenanhänge auf die Ausgestaltung der Gehirnkarten einwirkt. Es geht um den alten Streitpunkt, inwieweit erst das Verhalten das Gehirn formt oder ob das Gehirn das Verhalten bereits vorgibt. Wir haben an Sternmull-Embryonen untersucht, in welcher Zeitabfolge sich der Nasenstern und die mit seinen Tentakeln korrespondierenden Hirnareale entwickeln. Seltsamer als ein werdender Sternmull mit seinen gigantischen Händen und dem lappigen überdimensionalen Nasengebilde kann selbst ein Embryo kaum aussehen.
Modell für das Säugetiergehirn
Wie sich zeigt, entsteht der Nasenstern eher als seine Repräsentationsgebiete in der Hirnrinde. Im Prinzip könnte das Sinnesorgan also während bestimmter Entwicklungsphasen des Gehirns die Ausbildung der Hirnkarten beeinflussen. Hierzu beobachteten wir beim Embryo etwas Auffälliges: Die beiden elften Nasenanhänge sind zunächst wesentlich größer als die anderen Tentakel. Erst später kehren sich die Größenverhältnisse um. Hinzu kommt, dass an den elften Tentakeln die Eimer’schen Organe mitsamt ihren neuronalen Strukturen auch zuerst reifen – als würde diesen beiden Nasenlappen anfangs ein Vorsprung vor der Überzahl der anderen eingeräumt, die später viel länger auswachsen und jeder auch mehr Eimer’sche Organe erhalten. Ähnliches geschieht übrigens in der Netzhaut: Auch dort reift zuerst der gelbe Fleck, die Zone schärfsten Sehens.
Zu dem Entwicklungsvorsprung der elften Tentakel passt, dass die mit ihnen korrespondierenden Areale in der Hirnrinde ebenfalls als erste aktiv werden. Ob die elften Anhänge nun wirklich den für sie zuständigen Gehirnfeldern besonders viel Repräsentationsfläche verschaffen, indem sie dort in einem frühen Entwicklungsabschnitt für eine besonders hohe Aktivität sorgen, kann man bisher nur vermuten. Zumindest zum Sehsystem von Primaten erhielten Neurowissenschaftler recht deutliche Hinweise, dass es den während der Entwicklung aktivsten Sinneseingängen möglich ist, mehr Platz in der Hirnrinde zu belegen.
Doch junge Sternmulle benutzen die beiden elften Anhänge auch zum Milchsaugen. Möglicherweise unterstützt bei ihnen also ein Verhalten nach der Geburt die Anlage besonders großer Hirnfelder für die Zone schärfsten Tastens. An diesen Fragen arbeiten wir.
Am Sternmull erstaunt am meisten, wie solch ein absonderliches Tier überhaupt entstehen konnte. Wiederum könnten die Embryonen Anhaltspunkte zur Evolution dieser ungewöhnlichen Nase liefern. Die Strahlen wachsen nämlich nicht gleich nach vorn aus dem Körper heraus, sondern sie formen zunächst eine nach rückwärts weisende, in die seitlichen Gesichtspartien eingebettete zylindrische Struktur. Ganz allmählich beginnen sich die Tentakeln herauszuwölben, bis sie sich schließlich vom Gesicht lösen. Erst ungefähr zwei Wochen nach der Geburt biegen sie sich vor. Besaßen die Vorfahren des Sternmulls entlang der Schnauzenseite längliche, tastempfindliche Sinnesfelder? Vielleicht richteten diese Streifen sich dann immer mehr hoch.
Das ist keine reine Spekulation. Denn zwei andere Maulwurfsarten tragen flache, berührungsempfindliche kurze Sinnesstreifen an der Nasenoberseite. Beide leben im Westen Nordamerikas: der Pazifische Mull oder Küstenmull (Scapanus orarius), und der Townsend’s Mull (Scapanus townsendii). Die Ähnlichkeit mit den Embryonen des Sternmulls ist frappant.
Weltfremd erscheint der Sternmull nur auf den ersten Blick. Bei näherem Hinsehen lassen sich an ihm allgemeine Prinzipien der Gehirnentwicklung erkennen. Nicht zuletzt kann dieses kleine Säugetier aufzeigen, wie bei der Gehirnreifung Anlage und Verhalten ineinander greifen.
Literaturhinweise
Early Development of a Somatosensory Fovea: a Head Start in the Cortical Space Race. Von K.C. Catania in: Nature Neuroscience, Bd. 4, S. 353, April 2001.
Sensory Exotica: A World beyond Human Experience. Von Howard C. Hughes. MIT Press, 1999.
A Nose That Looks Like a Hand and Acts Like an Eye: The Unusual Mechanosensory System of the Star-Nosed Mole. Von K. C. Catania in: Journal of Comparative Physiology, Bd. 185, S. 367, 1999.
Steckbrief: Der Sternmull
Wissenschaftlicher Name: Condylura cristata
Familie: Maulwürfe
Ordnung: Insektenfresser
Gesamtlänge: bis 21 Zentimeter
Farbe: schwarzbraun bis schwarz
Lebensraum: Sumpf und Feuchtgebiete
Verbreitung: Osten Nordamerikas
Besondere Kennzeichen: rosa Nasenstern mit einzeln beweglichen Tentakeln;
Hände als Grabschaufeln so breit wie lang;
Schwanz ein Drittel der Körperlänge;
kann schwimmen und tauchen;
Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 2002, Seite 54
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