Jahresende: 2011 im Rückblick
Beginnen wir mit der Forschung an embryonalen Stammzellen: Sie hat sowohl Gegnern wie Befürwortern ein aufwühlendes Jahr beschert. Im Juli herrschte Erleichterung, als ein Bundesrichter in den USA eine Klage abwies, mit der die staatliche finanzielle Förderung von Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen gestoppt werden sollte. Im Oktober jedoch verbot der Europäische Gerichtshof Patente auf humane embryonale Stammzellen. Der Einfluss auf die europäische Forschungslandschaft ist noch unklar. Im November folgte die nächste Ernüchterung, als das US-amerikanische Biotechunternehmen Geron unter Angabe wirtschaftlicher Gründe den ersten klinischen Versuch mit menschlichen embryonalen Stammzellen an gelähmten Patienten stoppte.
Im Labor gelang es derweil, aus embryonalen Stammzellen komplexe dreidimensionale Strukturen zu züchten, darunter eine Retina und eine Hirnanhangdrüse. Außerdem nutzten Wissenschaftler Klonierungstechniken, um aus einer Eizelle eine Stammzelllinie zu erzeugen – mit dem bislang einzigen "Gewinn", dass diese einen zusätzlichen Chromosomensatz enthält.
Währenddessen erfuhren die beliebten induzierten pluripotenten Stammzellen (iPS) eine genauere Prüfung ihrer Fähigkeiten. Im ersten Halbjahr gab es einige Publikationen, die von unerwünschten Reaktionen des Immunsystems in Mäusen und womöglich vorhandenen genetischen Abnormalitäten berichteten. Andere Studien belegten hingegen ihre potenziellen Vorteile: iPS-Zellen aus Patienten eignen sich dafür, bestimmte Krankheiten in der Petrischale zu untersuchen – dazu zählen unter anderem eine Variante vorschnellen Alterns und neurologische Störungen wie Schizophrenie.
Puzzle mit nur einem Teilchen
Was für ein Abenteuer: Auch nach 420 Millionen Proton-Proton-Kollisionen am Large Hadron Collider (LHC) des CERN in Genf bleibt offen, ob es nun ein Higgs-Boson gibt oder nicht, berichteten die Forscher im Dezember auf einer viel beachteten Pressekonferenz. Sie haben allerdings das wahrscheinlichste Versteck eingegrenzt: Das Teilchen dürfte eine Masse von etwa 125 Gigaelektronvolt aufweisen.
Mysteriös klang dagegen die Meldung, Neutrinos seien schneller als Licht. So hatte im September ein Forscherteam des OPERA-Experiments am Neutrino-Detektor des Gran Sasso National Laboratory bei L'Aquila in Italien verkündet, dass ein Neutronenstrahl den Weg von dort ins 730 Kilometer entfernte CERN 60 Nanosekunden schneller zurückgelegt hätte als Licht. Obwohl Wissenschaftler akribisch nach Fehlern suchten, konnten sie bisher keine offensichtlichen Irrtümer feststellen. Man darf also weiterhin gespannt sein, ob es gelingt, das Ergebnis des Experiments zu reproduzieren.
Auch um die Dunkle Materie gab es einige widersprüchliche und verwirrende Befunde. Eine Geschichte allerdings kam zu einem wirklichen Ende: Nach mehr als 25 Jahren wurde der Teilchenbeschleuniger Tevatron am Fermilab endgültig abgeschaltet.
Reputation in Scherben
Jedes Jahr hat seine wissenschaftlichen Skandale, doch 2011 traf es einige besonders hochrangige Persönlichkeiten. Im Oktober wurde der bekannte Psychologe Diederik Stapel von der Universität Tilburg in den Niederlanden entlassen, nachdem ein Untersuchungsausschuss massiven Betrug in seinen Arbeiten nachwies. Drei Monate zuvor hatte der Evolutionsbiologe Marc Hauser von der Harvard University seinen Hut genommen - ihm war wissenschaftliches Fehlverhalten vorgeworfen worden. Trotz anhaltender Ermittlungen des US Office of Research Integrity wurden jedoch nur erstaunlich wenige Details dieses Falls bekannt.
Der Skandal um den Krebsgenetiker Anil Potti, der 2010 von seiner Position an der Duke University in Durham zurückgetreten war, bekam im September neue Nahrung: Ehemalige Patienten, die im Rahmen seiner Forschung an klinischen Studien teilgenommen hatten, verklagten ihn auf Schadensersatz. Und im November kam es zu einer dramatischen Verhaftung und kurzzeitigen Inhaftierung von Judy Mikovits – bekannt für ihre Studie, in der chronische Erschöpfung mit einer Virusinfektion verknüpft wurde. Eine dazu in "Science" erfolgte Veröffentlichung aus dem Jahr 2009 wurde am 22. Dezember zurückgezogen.
Schöne neue Welten
Nach 30 Jahren und 135 Missionen endete eine Ära: Das Spaceshuttle Atlantis setzte am 21. Juli zum letzten Mal auf dem Boden auf. Damit ist die USA nun abhängig von den russischen Sojus-Kapseln, um Astronauten ins All zu bringen. Außerdem kämpfte die NASA mit dem Problem, die explodierenden Kosten – 8,7 Milliarden US-Dollar, Tendenz steigend – des James-Webb-Weltraumteleskops einzudämmen. Seine Finanzierung wurde inmitten zahlreicher Sparbeschlüsse knapp gerettet.
Abgesehen von der Glory-Sonde, die im März beim Start abstürzte, hatte die NASA Glück mit ihren Raumsonden: Curiosity ist auf dem Weg zum Mars und Juno auf dem Weg zu Jupiter. Messenger ist in eine Umlaufbahn um Merkur eingeschwenkt ebenso wie Dawn um Vesta im Asteroidengürtel. Etwas näher an der Erde hat der Satellit Aquarius begonnen, den Salzgehalt der Weltmeere zu überwachen.
China baute seine Position in der internationalen Raumfahrt aus: Nach dem Start der ersten eigenen Raumstation im September koppelte im November erstmals eine unbemannte Raumfähre erfolgreich daran an. Erste bemannte Missionen sind für 2012 geplant. Europa schoss die ersten Galileo-Satelliten ins All, und Russland erlebte mit der Mission Phobos-Grunt einen herben Misserfolg. Am aufregendsten aber sind die Massen an Exoplaneten, die derzeit die NASA-Mission Kepler zu Tage bringt: Mehr als 700 Welten wurden bereits identifiziert. Ein Zwilling der Erde ist allerdings noch nicht dabei.
Genome am Fließband
Lust auf ein Genom-Fish-and-Chips? Kabeljau und Kartoffel gehörten zu den vielen Organismen, deren Erbgut im Lauf dieses Jahres sequenziert wurde. Am spektakulärsten waren aber sicherlich jene, die einen Einblick in die menschliche Vergangenheit ermöglichen: Das Genom von australischen Aborigines ergab Hinweise, dass einzelne Pioniere schon vor mehr als 60 000 Jahren das südliche Afrika verlassen hatten. Und das aus Zähnen von Opfern gewonnene Erbgut des Pesterregers Yersinia pestis deckte einige Geheimnisse um die Krankheit auf, die im 14. Jahrhundert in Europa wütete.
Heutzutage können die bakteriellen Auslöser von Krankheitsausbrüchen direkt sequenziert werden, wie sich im Fall des enterohämorrhagischen Escherichia-coli-Stamms (Ehec) zeigte, der im Frühling vor allem in Deutschland grassierte. In nur deren Hersteller noch dazu versprechen, dass sie damit die Entzifferung eines kompletten Genoms für weniger als 1000 US-Dollar bewerkstelligen können. Und trotzdem meldeten einige Produzenten kleiner wie großer Sequenzierungsmaschinen miserable Gewinne im dritten Quartal, nachdem angekündigte Kürzungen im Wissenschaftsbereich die Auftragszahlen in den Keller sacken ließen. Stattdessen erwarten die Anbieter nun neue Geschäftsbereiche in der Biomedizin: Genetische Tests und Genomsequenzierungen sollen hier zukünftig bei der Diagnosestellung helfen.
Kurz, kürzer, Kürzungen
Keine frohe Botschaft sendete die Politik an die Wissenschaft, im Gegenteil: Sparkurs ist angesagt. Vom Rotstift besonders bedroht war wieder einmal die Grundlagenforschung. Nachdem die USA im April knapp einem Staatsbankrott entgingen, können die meisten staatlichen Forschungseinrichtungen nun doch leichte Zuwächse in ihren Zuwendungen verzeichnen. Die Aussichten für 2013 sind allerdings weiterhin düster.
In Großbritannien sorgten Kürzungen aus dem Jahr 2010 für Probleme, als den Forschern nun das Geld für so elementare Dinge wie Gebäude und Grundausstattung fehlte. Erst im Lauf des Jahres füllten Lizenzeinnahmen einige der Lücken. In Spanien musste das Centro de Investigación Príncipe Felipe, ein Vorzeigeprojekt biomedizinischer Forschung in Valencia, massive Einschnitte hinnehmen. In Italien konnte das mit 1,5 Milliarden US-Dollar verschuldete Istituto San Raffaele in Mailand nur mit Hilfe eines Rettungspakets vom Vatikan überleben. Und auch Nichtregierungsorganisationen leiden: Der Globale Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria wird auf Grund von Kürzungen bis 2014 keine neuen Projekte fördern können.
Das atemberaubende Wachstum seiner Wirtschaft machte es China hingegen möglich, seine Wissenschaftsförderung um 12,5 Prozent anzuheben. Und die Europäische Kommission war offenbar sehr optimistisch gestimmt, als sie im November 80 Milliarden Euro für Forschung im Rahmen ihres Programms "Horizon 2020" einplante.
Im Schatten von Fukushima
Als am 11. März vor Japan die Erde bebte und ein verheerender Tsunami die Küste von Sendai überrollte, war auch die so gut auf solche Katastrophen vorbereitete Inselnation überfordert. Zehntausende Menschen starben, Hunderttausende verloren ihr Zuhause. Die Aufmerksamkeit der restlichen Welt richtete sich jedoch schnell auf die drei von dem Tsunami beschädigten Reaktoren des Atomkraftwerks Fukushima. Glücklicherweise trieb der Wind einen Großteil der radioaktiv verseuchten Luft auf das Meer. Es dauerte aber neun Monate, bis die Reaktoren von der japanischen Regierung nach einer Kaltabschaltung als "sicher" erklärt wurden; und es wird Jahrzehnte und Milliarden Euro benötigen, die Anlage zu säubern.
Wenig überraschend hat sich daraufhin die Stimmung in Japan – und auch in Deutschland, Italien und der Schweiz – schlagartig gegen die Atomenergie gedreht. Wo wird die Welt nun eine kohlendioxidarme Energie finden? Viele Länder setzen auf kürzlich erst entdeckte Schiefergasvorkommen, doch gibt es Bedenken, dass deren Erschließung Wasser und Luft verschmutzen. In den USA kam es deshalb zu heftigen Protesten, und in Frankreich sind inzwischen alle Bohrungen nach Schiefergas verboten.
Auch die Solarenergie erlebte einige Turbulenzen: Eine zu geringe Nachfrage nach Solaranlagen, ein Überangebot von Produkten und Materialien und Subventionskürzungen allerorten ließen die Gewinne der Hersteller zusammenbrechen. Mehrere Firmen mussten Konkurs anmelden, darunter auch der von US-Präsident Barack Obama als vorbildlich gelobte kalifornische Solarzellenhersteller Solyndra. Die gute Nachricht für die Konsumenten ist, dass die entsprechenden Produkte nun rapide billiger werden.
Leben im Anthropozän
Dieses Jahr wurde der siebenmilliardste Mensch geboren, und unsere Kohlendioxidemissionen steigen weiter. Im Mai diskutierten Geowissenschaftler daher wieder einmal, ob der starke menschliche Einfluss auf den Planeten nicht darin Beachtung finden sollte, dass man das gegenwärtige Zeitalter als eigene geologische Epoche deklariert: als Anthropozän.
Die Weltklimakonferenz in Durban endete mit einer Einigung in letzter Minute: Ein neues Vertragswerk soll erarbeitet werden, das Ziele zur Reduktion der Treibhausgasemissionen festschreibt. Erfreulich ist in diesem Zusammenhang, dass Australien eine Kohlenstoffsteuer einführen will und die Abholzungsraten am brasilianischen Amazonas ein Rekordtief verzeichneten.
Für die 3,4 Milliarden Menschen, die weniger als zwei Dollar am Tag zum Leben haben, sind jedoch die tägliche Nahrung und die Vermeidung von Krankheiten weit wichtiger. Und das wird nicht einfacher: Dürreperioden und der hohe Ölpreis ließen die Kosten für Nahrungsmittel im Februar auf ein neues Maximum klettern, von denen sie sich auch im Lauf des Jahres nur wenig entfernten. Dafür gab es in der Krankheitsbekämpfung einen Erfolg: Seit Februar läuft an vielen Orten eine neue Pneumokokkenimpfkampagne von der GAVI Alliance und ein Impfprogramm gegen Rotaviren in Afrika, um dort die Kindersterblichkeit auf Grund von Durchfallerkrankungen zu senken.
Im Oktober gab es jedoch auch noch einen Rückschlag: Die ersten zeigten eine enttäuschende Wirksamkeit und keinen Effekt auf die Sterblichkeit. Gute Nachrichten dagegen vom Kampf gegen HIV: Eine Studie machte deutlich, dass eine frühe antiretrovirale Behandlung die Verbreitung des Virus hemmt, während zwei weitere Studien sogar zum Schluss kommen, dass Gesunde ihre Ansteckungsgefahr senken, wenn sie solche Medikamente präventiv einnehmen.
Dieser Artikel ist eine gekürzte Übersetzung von "365 days: 2011 in review", erschienen in: Nature 480, S. 426–429, 2011
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