Juli 2012: Ein neuer Weg zu längerem Leben
An einem klaren Novembermorgen des Jahres 1964 stach die »HMCS Cape Scott« der Royal Canadian Navy von Halifax (Nova Scotia) in See. Für das 38-köpfige Wissenschaftlerteam an Bord war es der Auftakt zu einer 14-monatigen Expedition zur Osterinsel, die als Spitze eines gewaltigen Vulkans 2200 Meilen westlich von Chile aus dem Pazifik ragt und berühmt für ihre kolossalen Steinstatuen ist. Aufgeschreckt von Plänen zum Bau eines Flughafens, wollten die Forscher unter Leitung des inzwischen verstorbenen Stanley Skoryna, eines unternehmungslustigen Professors von der McGill University in Montreal, die Einheimischen sowie die Flora und Fauna studieren, solange das abgelegene Eiland noch weit gehend unberührt von der modernen Zivilisation war.
Von den Inselbewohnern freundlich empfangen, sammelte Skorynas Team Exemplare von mehreren Hundert ungewöhnlichen Pflanzen- und Tierarten und entnahm allen 949 Eingeborenen Blut- und Speichelproben. Doch der größte Schatz schlummerte in einer unscheinbaren Bodenprobe, die Skoryna mit nach Kanada brachte. Darin fand sich ein Bakterium, das eine Substanz mit einer einzigartigen Eigenschaft produziert: Sie erhöht die Lebensdauer.
Hersteller von Anti-Aging-Mitteln führen als angeblichen Beweis für die lebensverlängernde Wirkung ihrer Produkte gerne Daten an, die eine höhere durchschnittliche Lebenserwartung belegen. Doch das ist ein Trugschluss. Die durchschnittliche Lebenserwartung erhöhen nämlich auch Antibiotika oder andere Medikamente, die einen frühzeitigen Tod durch Krankheit verhindern. Mit dem Altern hat das nichts zu tun. Rapamycin hingegen, wie die Substanz von der Osterinsel genannt wurde, dehnt nicht nur die durchschnittliche, sondern auch die maximale Lebensspanne von Labormäusen über die von unbehandelten Tieren aus. Nur das beweist, dass sich tatsächlich der Alterungsprozess bei den Nagern verlangsamt. Bisher hat keine andere Substanz so etwas je bei Säugetieren vermocht. Der Erfolg von Rapamycin bei Labormäusen ist für Gerontologen deshalb vergleichbar mit dem erstmaligen Durchbrechen der Schallmauer in der Luftfahrt. Schon lange wünschen sie nichts sehnlicher als eine einfache Möglichkeit, das Altern hinauszuschieben und nicht nur die Langlebigkeit zu erhöhen; denn damit verzögern sich auf einen Schlag auch all die Gebrechen, unter denen wir mit zunehmendem Alter zu leiden haben, vom grauen Star bis zum Krebs.
Viele Jahre lang glich das Hoffen auf die Entdeckung eines solchen Anti-Aging-Mittels einer Achterbahnfahrt. Als Forscher Ende der 1980er Jahre Genmutationen aufspürten, die bei Tieren die maximale Lebensspanne verlängern, weckte das zunächst hohe Erwartungen. Anlass zu Optimismus gaben auch neue Einblicke in die Wirkungsweise einer Hungerdiät, die denselben lebensverlängernden Effekt hat. Doch trotz dieser viel versprechenden Fortschritte in der Grundlagenforschung blieb die Fahndung nach Substanzen, welche die Grenzen der Lebenszeit von Säugetieren hinausschieben, ohne Erfolg. Zwar verlängerte das Drosseln der Kalorienzufuhr auf ein Niveau, das die Versuchstiere an den Rand des Hungertods brachte, bei Mäusen die Lebenszeit und zögerte zugleich Krebs, Neurodegeneration, Diabetes und andere altersbedingte Krankheiten hinaus. Doch eine derart strenge Diät kommt bei Menschen nicht in Frage.
Vom geheimnisvollen Stoff aus dem Rotwein zum ersten echten Anti-Aging-Mittel
Noch vor wenigen Jahren ruhten die Hoffnungen der Gerontologen auf Resveratrol, dem viel gepriesenen Inhaltsstoff von Rotwein, der teilweise dieselben positiven Wirkungen hat wie eine Kalorienrestriktion. So unterbindet er bei Nagern die lebensverkürzenden Folgen einer sehr fettreichen Diät. Doch spätere Versuche mit normal gefütterten Mäusen machten alle Hoffnungen zunichte. Bei ihnen ließ die Substanz, die vermutlich auf Enzyme aus der Klasse der Sirtuine wirkt, die maximale Lebensspanne nicht steigen.
Diese herbe Enttäuschung wich neuem Optimismus, als 2009 die Ergebnisse der Rapamycin-Studie publik wurden. In drei parallelen Versuchen, finanziert vom National Institute on Aging in Bethesda (Maryland), hatte der bis dahin nur als Zellwachstumshemmer bekannte Wirkstoff die maximale Lebensspanne von Mäusen um durchschnittlich zwölf Prozent verlängert. Tatsächlich waren die Versuchstiere, weil sich die vorbereitenden Untersuchungen verzögerten, zu Beginn des Experiments schon 20 Monate alt, was beim Menschen etwa 60 Jahren entspricht. Deshalb rechneten die Forscher gar nicht mehr mit einem Erfolg. Doch zu ihrem großen Erstaunen erhöhte Rapamycin die durchschnittliche Überlebenszeit der betagten Mäuse sogar um ein Drittel.
Leider sind die Nebenwirkungen der Substanz zu gravierend, um sie selbst als Anti-Aging-Mittel beim Menschen einzusetzen. Die Suche nach den Gründen für ihren lebensverlängernden Effekt lenkte den Blick der Wissenschaftler jedoch auf einen uralten Mechanismus, der das Altern bei Mäusen sowie anderen Säugetieren und vermutlich auch beim Menschen reguliert. Seine Haupttriebfeder ist ein Protein namens TOR (Abkürzung für target of Rapamycin; Ziel von Rapamycin). Dieser Eiweißstoff und das zugehörige Gen stehen derzeit im Zentrum intensiver Untersuchungen in der Gerontologie wie auch der angewandten Medizin.
Die bisherigen Ergebnisse sind ermutigend. Demnach verringern Maßnahmen, welche die Aktivität der Säugetierversion des Proteins – genannt mTOR, von englisch mammalian TOR – in Körperzellen senken, das Risiko der wichtigsten altersbedingten Leiden. Dazu zählen Krebs, Alzheimersyndrom, Parkinsonkrankheit, Herzmuskelschwäche, Typ-2-Diabetes, Osteoporose und Makuladegeneration. Diese ersten positiven Befunde elektrisieren die Forscher; denn damit zeichnet sich die Möglichkeit ab, mit Medikamenten, die mTOR gezielt und sicher hemmen, das Altern bei Menschen genauso hinauszuzögern, wie das mit Rapamycin bei Mäusen gelungen ist.
Universeller Wachstumshemmend
Es war ein langer Weg bis zur Entdeckung von TORs Einfluss auf die Lebensspanne. Zunächst einmal übergab die Skoryna-Expedition ihre Bodenproben an die damaligen Ayerst Laboratories in Montreal. Pharmakologen hatten schon in den 1940er Jahren Spuren von Antibiotika in Bakterien entdeckt, die im Erdreich hausen. Deshalb untersuchten die Ayerst-Forscher auch diese Proben auf antimikrobielle Substanzen.
Im Jahr 1972 gelang es ihnen, einen Hemmstoff für Pilze daraus zu isolieren. Nach Rapa Nui, dem Namen der Einheimischen für die Osterinsel, nannten sie ihn Rapamycin. Doch die ursprüngliche Hoffnung, die Substanz gegen Hefepilzinfektionen einsetzen zu können, zerschlug sich. Als die Wissenschaftler die Eigenschaften von Rapamycin an Zellkulturen und den Immunsystemen von Tieren untersuchten, entdeckten sie allerdings, dass es die Proliferation von Abwehrzellen verhindern kann. Deshalb prüften sie es nun auf seine Eignung als Immunsuppressivum nach der Übertragung von Organen – mit Erfolg: 1999 erteilte die US-Arzneimittelbehörde Rapamycin die Zulassung für Patienten mit Nierentransplantation. Schon den 1980er Jahren hatte sich außerdem herausgestellt, dass die Substanz das Wachstum von Tumoren unterdrückt. Seit 2007 dienen deshalb zwei von ihm abgeleitete Verbindungen – Temsirolimus von Pfizer und Everolimus von Novartis – zur Behandlung verschiedener Krebsarten.
Biologen fanden es faszinierend, dass Rapamycin das Wachstum sowohl von menschlichen als auch von Hefezellen zu hemmen vermag. Demnach sollte es die Wirkung eines Gens unterdrücken, das für die Zellteilung wichtig ist und sich in der Jahrmilliarde, welche die Evolution von den Hefepilzen bis zum Menschen brauchte, fast nicht verändert hat. 1991 gelang es Michael N. Hall und seinen Kollegen an der Universität Basel, diesen uralten Erbfaktor aufzuspüren. Sie entdeckten, dass Rapamycin zwei Gene blockiert, die das Wachstum der Hefe regulieren, und nannten sie TOR1 und TOR2. Drei Jahre später identifizierten mehrere Forscher, darunter Stuart Schreiber von der Harvard University in Cambridge (Massachusetts) und David Sabatini, inzwischen am Whitehead Institute for Biomedical Research in Cambridge, unabhängig voneinander das menschliche Gegenstück. Auch bei vielen anderen Arten – darunter Würmern, Insekten und Pflanzen – wurden seither TOR-Gene nachgewiesen.
Im Lauf der 1990er Jahre lernten die Forscher immer mehr darüber, welche Rolle das zugehörige Protein in den einzelnen Zellen und im Körper insgesamt spielt. Wie sich zeigte, hängen viele seiner Funktionen letztlich mit dem Altern zusammen. Insbesondere stellte sich heraus, dass TOR als Enzym fungiert, das sich im Zytoplasma mit mehreren anderen Proteinen zu einem Komplex namens TORC1 verbindet. Dieser überwacht eine ganze Reihe von Zellaktivitäten, die mit Wachstum zu tun haben. Daneben gibt es einen zweiten Komplex namens TORC2, dessen Funktion noch relativ unklar ist. Rapamycin beeinflusst vor allem TORC1.
In erster Linie dient TOR als Nährstoffsensor. Bei ausreichend Nahrung verstärkt sich seine Aktivität, woraufhin die Zelle die Proteinproduktion ankurbelt und sich zu teilen beginnt. Unter schlechteren Bedingungen erlahmt TOR. Als Folge davon entstehen weniger neue Proteine, und die Zellteilung kommt zum Stillstand. Gleichzeitig beginnt die Zelle, sich teilweise selbst zu verdauen – ein als Autophagie bezeichneter Vorgang: Sie zerlegt nicht unbedingt benötigte oder defekte Komponenten wie etwa missgestaltete Proteine und nicht richtig funktionierende Mitochondrien, die zelleigenen Kraftwerke. Die Abbauprodukte dienen als Brennstoffe oder Baumaterialien. Neugeborene Mäuse beziehen ihre Energie vor dem ersten Saugen bei der Mutter ausschließlich aus Autophagie.
Forscher machten eine weitere interessante Entdeckung: Bei Tieren sind die Signalwege von TOR und Insulin miteinander gekoppelt. Insulin ist das von der Bauchspeicheldrüse nach Mahlzeiten freigesetzte Hormon, das Muskel- und andere Zellen veranlasst, Glukose aus dem Blut als Energieträger aufzunehmen. Zugleich wirkt es aber auch als Wachstumsfaktor; es selbst und verwandte Proteine tragen dazu dabei, den TOR-Signalweg in Schwung zu bringen, was die Zellen im gesamten Körper als Reaktion auf die Nahrungsaufnahme zu Wachstum und Vermehrung anregt.
Ein weiterer wichtiger Aspekt der Verschränkung zwischen den beiden Signalwegen ist eine negative Rückkopplungsschleife: Die Stimulation von TOR bewirkt, dass Zellen weniger stark auf Insulin ansprechen. Chronisches »Überfressen« führt also zu einer exzessiven TOR-Aktivierung und macht die Zellen so immer unempfindlicher für das Hormon der Bauchspeicheldrüse. Diese »Insulinresistenz« kann iherseits hohe Blutzuckerwerte und Diabetes zur Folge haben sowie zu anderen altersbedingten Krankheiten beitragen, beispielsweise zu Verengungen der Herzkranzgefäße.
TOR reagiert aber nicht nur auf Nahrungsmangel, sondern auch auf weitere Belastungssituationen in der Zelle, etwa niedrige Sauerstoffwerte oder Schäden an der Erbsubstanz DNA. Allgemein sinkt bei allen potenziell lebensbedrohlichen Zuständen die TOR-Aktivität, was die Proteinproduktion und Teilungsaktivität drosselt. Die dadurch freigesetzten Ressourcen können in die DNA-Reparatur oder andere Schutzmaßnahmen gesteckt werden. Untersuchungen an Tau iegen zufolge geht in diesem Alarmzustand aber nicht nur die Proteinsynthese insgesamt stark zurück, sondern sie verlagert sich auch: Die Zelle geht dazu über, vor allem wichtige Bausteine der Mitochondrien herzustellen. Möglicherweise dient das der besseren Energieversorgung. Zweifellos entstand diese vielseitige »Stressantwort«, um Zellen für widrige Bedingungen zu wappnen. Ein nicht beabsichtigter Nebeneffekt wäre aber auch, sie gegen den Zahn der Zeit abzuhärten.
Die Idee, dass TOR das Altern verlangsamt, kam Mitte der 1990er Jahre auf. Wie Forscher damals entdeckten, stellen ausgehungerte Zellen das Wachstum ein, weil die TOR-Aktivität zurückgeht. Für Gerontologen war das nichts Neues: Schon 1935 hatte der Ernährungswissenschaftler Clive McCay von der Cornell University in Ithaca (New York) festgestellt, dass junge Ratten, die auf extreme Hungerdiät gesetzt werden, nur sehr langsam wachsen und erstaunlich langlebig sind. Eingeschränkte Kalorienzufuhr hat sich seitdem bei verschiedenen Spezies vom Hefepilz über Spinnen bis hin zu Hunden als Rezept zur Verlängerung der maximalen Lebensspanne erwiesen. Nach vorläufigen Ergebnissen gilt das auch bei Affen. Eine Reduktion um etwa ein Drittel in der Jugend erhöht die maximale Lebensspanne allgemein um 30 bis 40 Prozent – wahrscheinlich durch Hinauszögern des altersbedingten Verfalls. Ältere Rhesusaffen aus Langzeitstudien zur Kalorienrestriktion sind jedenfalls außergewöhnlich gesund und sehen noch sehr jugendlich aus.
Der Trick funktioniert zwar nicht immer; bei einigen Labormausstämmen verkürzt sich die Lebensspanne sogar. Aber inzwischen mehren sich Hinweise, wonach Fasten auch beim Menschen ein gesundes Altern fördern kann. Substanzen, die den Effekt der Kalorienrestriktion nachahmen, ohne Hunger zu erzeugen, sind damit zum Heiligen Gral der Gerontologen geworden.
Kurz nach der Jahrtausendwende wussten die Forscher genug über TOR, um zu vermuten, dass seine Blockade eine verringerte Nahrungsaufnahme vortäuschen könnte. 2003 leitete Tibor Vellai, ein ungarischer Gastwissenschaftler an der Université de Fribourg (Schweiz), eine Untersuchung an Rundwürmern, die erste experimentelle Belege dafür lieferte. Indem er und seine Kollegen die TOR-Synthese genetisch unterdrückten, konnten sie die durchschnittliche Lebensspanne der Tiere mehr als verdoppeln!
Dasselbe ergab eine Studie am California Institute of Technology in Pasadena unter Leitung von Pankaj Kapahi nur ein Jahr später bei Taufliegen. Die Hemmung von TOR ließ die Tiere im Mittel länger leben und bewahrte sie zugleich vor den negativen Folgen übermäßiger Nahrungsaufnahme. 2005 schließlich lieferten Brian Kennedy, damals an der University of Washington in Seattle, und seine Kollegen den endgültigen Beweis für die Verbindung zwischen TOR und dem Altern. Sie schalteten verschiedene TOR-Signalwege in Hefezellen aus. In allen Fällen lebten die Tiere dadurch länger.
Die Entdeckung von Altersgenen
Diese und weitere Studien bestätigten somit die Vermutung, dass die Hemmung von TOR den Effekt einer Kalorienrestriktion nachahmt. Zugleich aber stellten sie eine Verbindung zur Wirkung bestimmter Genmutationen her, um deren lebensverlängernde Wirkung man schon seit einiger Zeit wusste. Das erste solche »Gerontogen« war etwa ein Jahrzehnt zuvor in Rundwürmern entdeckt worden. Ihre Mutation verdoppelte die durchschnittliche und die maximale Lebensspanne dieser Tiere; späteren Erkenntnissen zufolge wurde dabei der Insulinsignalweg unterbrochen. Bis dahin war der Alterungsprozess undurchschaubar komplex erschienen. Nun zeigte sich, dass er sich durch die Abwandlung nur eines Gens dramatisch verlangsamen lässt. Das war eine Sensation für die Gerontologie; denn damit bestanden plötzlich reelle Chancen, das menschliche Altern durch Medikamente hinauszuzögern.
Die Aussichten verbesserten sich in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren, als Forscher auch bei Nagetieren diverse Gerontogene entdeckten, die Wachstumssignale blockieren – darunter solche, die durch Insulin und ein nahe verwandtes Hormon namens insulinähnlicher Wachstumsfaktor (IGF, von insulinlike growth factor) vermittelt werden. 2003 stellte eine Maus mit einer solchen Mutation den Rekord für Langlebigkeit in ihrer Art auf: fast fünf Jahre. Ihre Artgenossen erreichen im Labor normalerweise höchstens zweieinhalb Jahre.
Man sollte meinen, diese neu entdeckten Verbindungen zwischen TOR, Kalorienrestriktion und Gerontogenen hätten einen erbitterten Wettlauf darum entfacht, die lebensverlängernde Wirkung von Rapamycin an Säugetieren nachzuweisen. Doch Forscher, die sich mit dem menschlichen Altern befassten, »nahmen TOR nicht wirklich ernst«, sagt Steven Austad, Gerontologe am Barshop Institute for Longevity and Aging Studies an der University of Texas in San Antonio – jedenfalls nicht vor Ende der 2000er Jahre. Der Grund: Rapamycin war als Immunsuppressor bekannt; es schien deshalb nicht als Anti-Aging-Mittel geeignet, weil seine Einnahme über längere Zeit schädlich wäre. Zelton Dave Sharp, einer von Austads Institutskollegen, ließ sich davon jedoch nicht abschrecken. Nach intensivem Studium der TOR-Literatur organisierte er 2004 einen Großversuch mit mehr als 2000 Mäusen, die dauerhaft Rapamycin erhielten.
Dabei schien die vom National Institute on Aging finanzierte Studie schon im Vorfeld zu scheitern: Es gab Probleme, die richtige Dosierung des Wirkstoffs im Mausfutter herauszufinden. Dadurch verzögerte sich der Beginn des Experiments, bis die Mäuse 20 Monate alt waren – das menschliche Äquivalent von 60 Jahren. An diesem Punkt, erklärt Austad, »glaubte niemand – und ich meine wirklich niemand – mehr daran, dass es funktionieren würde«. Schließlich verlängert bei so alten Tieren nicht einmal Hungern mehr die Lebensdauer. Doch es kam anders, und die drei Gerontologie-Teams, die unter der Leitung von Randy Strong am Barshop Institut, David E. Harrison am Jackson Laboratory in Bar Harbor (Maine) und Richard A. Miller an der University of Michigan in Ann Harbor die Untersuchung durchführten, schrieben Geschichte: 2009 berichteten sie, dass Rapamycin die restliche Lebensdauer bei den alten männlichen Nagern im Vergleich zu unbehandelten Kontrolltieren um erstaunliche 28 und bei den weiblichen sogar um 38 Prozent erhöht hatte. Das entsprach einer Verlängerung der maximalen Lebensspanne um 9 beziehungsweise 14 Prozent.
Nach diesen Aufsehen erregenden Ergebnissen an Mäusen bestätigten weitere Studien schon bald die Bedeutung von TOR für das Altern. So schalteten Wissenschaftler am University College in London ein Gen namens S6K1 aus, auf dem ein Enzym verschlüsselt ist, das mTORs Kontrolle über die Proteinsynthese vermittelt. Dieser Eingriff machte weibliche Mäuse resistent gegen altersbedingte Krankheiten und erhöhte ihre maximale Lebensspanne; seltsamerweise profitierten männliche Tieren allerdings kaum davon. Die drei US-Labors, die Rapamycin an Mäusen getestet hatten, wiederholten ihren Versuch mit neun Monaten alten Tieren und fanden heraus, dass deren Lebensspanne etwa um den gleichen Betrag zunahm wie bei den Nagern, die den Wirkstoff erst mit 20 Monaten erhalten hatten. Demnach scheint Rapamycin vor allem nach der Lebensmitte Vorteile zu bringen – möglicherweise, weil ab diesem Zeitpunkt die Abbauerscheinungen, denen es entgegenwirkt, vermehrt auftreten.
Die Tatsache, dass die Hemmung von TOR im gesamten Tierreich lebensverlängernd wirkt, ragt wie ein Leuchtturm aus dem Meer der molekularen Details des Alterns. Andere Signalwege sind für die Langlebigkeit aber ebenfalls wichtig, und auch die Kalorienrestriktion bleibt weiter von Bedeutung. Sie erweist sich zunehmend als einer von mehreren Bestandteilen eines komplexen, stark verzweigten Netzwerks mit vielerlei Stellschrauben, die sich justieren lassen, um ein gesundes Altern zu fördern. Andere Bestandteile sind mit Insulin verwandte Enzyme sowie so genannte Fox-Proteine (von englisch forkhead box) der Klasse O, welche die Stressantwort in Zellen aktivieren. Es gibt auch deutliche Hinweise darauf, dass Sirtuine eine wichtige Rolle spielen. Offenbar sind sie daran beteiligt, die positiven Effekte des Hungerns bei Säugetieren zu vermitteln. Unter bestimmten Umständen wirken sie auch an der TOR-Suppression mit. Nach derzeitigem Kenntnisstand erscheint TOR jedoch als oberste Instanz. Es fungiert als eine Art zentrale Schaltstelle dieses Netzwerks, bei dem die unterschiedlichen Inputs zusammenlaufen. Es verarbeitet sie und kontrolliert so die Alterungsgeschwindigkeit. Zumindest gilt das bei vielen Tierarten und vermutlich auch beim Menschen.
Beim Versuch, die Mechanismen besser zu verstehen, die das Altern verlangsamen, stellt sich unweigerlich die Frage, warum solche Mechanismen überhaupt existieren sollten. Evolutionsbiologen wissen darauf keine rechte Antwort. Der Sinn der natürlichen Auslese ist es, erfolgreiche Fortp anzung zu ermöglichen, und nicht, einzelne Organismen im Spiel des Lebens in die Verlängerung zu schicken, so dass sie in einem Alter noch fit sind, in dem andere normalerweise schon Räubern, Infektionen, Unfällen oder ähnlichen Fährnissen zum Opfer gefallen sind. Dank dem Wirken der Evolution verfügen alle Lebewesen über das Rüstzeug, lange genug für eine erfolgreiche Vermehrung zu leben, um dann wie verlassene Gebäude allmählich zu verfallen. Wenn aber Fasten den altersbedingten Abbau bei vielen sehr unterschiedlichen Tierarten hinauszögert, kann das nur einen Grund haben: Es muss einen sehr alten, stark konservierten Mechanismus geben, der sich durch natürliche Auslese entwickelt hat, um das Altern bei Nahrungsknappheit zu verlangsamen. Wie ist das möglich?
Das pervertierte Wachstum des Alters
Eine häufig vorgeschlagene Lösung dieses Rätsels lautet: Die Evolution hat dafür gesorgt, dass Organismen in Hungerperioden langsamer altern, damit ihnen, wenn wieder günstigere Bedingungen herrschen, noch ausreichend Zeit für eine erfolgreiche Fortpflanzung bleibt. Skeptiker wie Austad vom Barshop Institute überzeugt das nicht. Sie bezweifeln, dass Wildtiere genauso wie ihre verhätschelten Artgenossen im Labor bei knapper Kost ein höheres Alter erreichen. Abgemagert und vom Hunger geschwächt, haben sie in freier Natur vermutlich kaum eine Chance, lange genug zu überleben, um von Genen zu profitieren, die ihr Altern verlangsamen – geschweige denn sie weiterzugeben.
Einige Gerontologen halten eine andere Möglichkeit für plausibler. Ihrer Ansicht nach verlängert die Kalorienrestriktion die Lebensspanne nur als Nebeneffekt von Mechanismen, die aus altersunabhängigen Gründen evolutionär entstanden sind. Austad etwa meint, dass Wildtiere in kargen Zeiten auch ungewohnte Nahrung fressen. Dabei nehmen sie möglicherweise Giftstoffe auf, die in ihrem normalen Futter nicht vorkommen. Das könnte eine Tendenz gefördert haben, in Hungerzeiten Vorkehrungen gegen Toxine zu treffen – durch Aktivierung der zellulären Programme zur Stressbewältigung und der zugehörigen Reparaturprozesse. Diese Maßnahmen wirken aber auch dem Altern entgegen.
Oder ist die magische Wirkung der Kalorienrestriktion vielleicht nur eine Art Betriebsunfall? Diese ziemlich ausgefallene Hypothese leitete vor einigen Jahren Mikhail V. Blagosklonny, Krebsforscher am Roswell Park Cancer Institute in Buffalo (New York), aus den Erkenntnissen über TOR ab. Der gebürtige Russe hat ein breit gefächertes Interessenspektrum, das von der Krebsforschung bis zur Zellbiologie reicht. Seiner Ansicht nach bringt uns ausgerechnet die Fähigkeit zum Wachstum, die das Wesen der Jugend ausmacht, am Ende ins Grab. Folglich verlängert Hungern das Leben, weil es die im fortgeschrittenen Alter eher schädlichen Wachstumssignale behindert. Und das wichtigste darunter ist TOR.
Warum das in der Jugend für Entwicklung und Fortpflanzung essenzielle Enzym später zum Sargnagel wird, hat laut Blagosklonny vielerlei Gründe. Zum Beispiel begünstigt es wegen seiner wachstumsfördernden Signale
- die Vermehrung glatter Muskelzellen in Arterien, was zur Arteriosklerose führt,
- die Bildung von Fettpolstern, die Entzündungsreaktionen Vorschub leisten,
- die Entwicklung einer Insulinresistenz, die Diabetes hervorruft,
- die Proliferation so genannter Osteoklasten, wodurch Knochensubstanz abgebaut wird
- und unkontrolliertes Zellwachstum mit Krebs als Folge.
Außerdem leistet TOR, indem es die Autophagie unterdrückt, der Ansammlung von Proteinaggregaten und nicht mehr funktionsfähigen Mitochondrien Vorschub, die erbgutschädigende freie Radikale freisetzen und den Energiestoffwechsel der Zelle stören. Schließlich trägt es auch dazu bei, dass sich abbauresistente Proteine in Nervenzellen anhäufen – ein Vorgang, der bei der Alzheimererkrankung und anderen Formen von Neurodegeneration eine Rolle spielt. Wie Blagosklonny nachweisen konnte, fördert TOR im hohen Alter zudem die Zellseneszenz, indem es nicht mehr teilungsfähige Zellen stimuliert, so dass sie anschwellen und durch übermäßige Aktivität ihre noch intakten Nachbarn schädigen. Das beeinträchtigt die Regenerationsfähigkeit des Gewebes.
All dies zeigt nach Ansicht des Forschers, dass die Evolution gar keinen Mechanismus entwickelt hat, um das Altern zu verlangsamen. Rapamycin, ungenügende Nahrungsaufnahme und Genmutationen, die wachstumsfördernde Hormone blockieren, sind im Grunde nichts als unwillkommene äußere Störungen. Lebensverlängernd wirken sie nur, weil sie zufällig dem in die Quere kommen, was Blagoskonny das »pervertierte Wachstum« des Alterns nennt. Tatsächlich funktioniert der TOR-Signalweg geradezu als Alterungsprogramm, obwohl er entstanden ist, um die frühe Entwicklung eines Organismus zu unterstützen.
Blagosklonnys Theorie fußt im Kern auf einer weithin anerkannten Hypothese, die George C. Williams (1926 – 2010) schon 1957 aufgestellt hat. Der berühmte Evolutionsbiologe spekulierte damals, dass zweischneidige Gene für das Altern verantwortlich seien: Früh im Leben von Vorteil, wirkten sie später schädlich. Diese »antagonistischen pleotropen Gene« würden von der Evolution begünstigt, weil die natürliche Auslese laut Williams »im Zweifel stets der Jugend Vorrang vor dem Alter gibt«. Blagosklonny betrachtet TOR als perfektes Beispiel für ein solches Gen.
Wie viele neue Theorien ist auch seine jedoch umstritten. Manche Wissenschaftler meinen, sie messe TOR zu viel Bedeutung bei, und einige wenden ein, dass nicht TORs Einfluss auf das Wachstum die Hauptrolle beim Altern spiele; entscheidend seien vielmehr andere Aspekte – zum Beispiel die Hemmung der Autophagie, welche die Zellbestandteile erneuert. Dennoch gibt es auch zustimmende Reaktionen. Hall aus Basel hält es für das Verdienst Blagosklonnys, »Punkte verbunden zu haben, die andere nicht einmal sehen« – und fügt hinzu: »Ich bin geneigt, ihm Recht zu geben.«
Ein »TOR« in die Zukunft der Medizin
Wenn TOR eine Haupttriebfeder des Alterns ist, was gibt es dann für Möglichkeiten, es auszuschalten? Rapamycin hat erhebliche Nebenwirkungen. So kann es den Cholesterinspiegel erhöhen, Blutarmut verursachen und die Wundheilung stören. Deshalb scheidet es als Kandidat für ein Anti-Aging-Medikament beim Menschen wohl aus. Ein anderes Mittel, Metformin, wäre eventuell eine Alternative. Allerdings müsste es für diese Anwendung erst noch getestet werden. Immerhin scheint es ungefährlich: Es ist das am häufigsten verschriebene Medikament zur Behandlung von Diabetes – Millionen von Menschen nehmen es schon seit Langem zur Senkung des Blutzuckerspiegels, ohne dass bisher ernstliche Nebenwirkungen aufgetreten sind. Seine Wirkungsweise wirft noch Fragen auf, aber man weiß, dass es den TOR-Signalweg hemmt. Außerdem aktiviert es ein weiteres mit dem Altern zusammenhängendes Enzym namens AMPK, das die Stressantwort in Zellen einleitet und gleichfalls durch Fasten stimuliert wird. Metformin hatte in Versuchen mit Mäusen die gleiche Wirkung auf die Genaktivität wie Hungern, und es gibt Anhaltspunkte dafür, dass es die maximale Lebensspanne der Nager verlängert. Das wird derzeit in strengen wissenschaftlichen Tests überprüft. Ob das Mittel auch beim Menschen eine Kalorienrestriktion nachahmt, dürfte allerdings frühestens in einigen Jahren klar sein.
Hochgerechnet von den Ergebnissen der Studien an Mäusen, könnte Rapamycin Menschen im Durchschnitt fünf bis zehn Jahre länger leben lassen. Das wäre beachtlich. Die Lebenserwartung ist in den Industrieländern seit dem Aufkommen der modernen Medizin so stark angestiegen, dass es uns inzwischen wie Spitzensportlern ergeht, welche die bestehenden Rekorde nur noch minimal verbessern können: Die durchschnittliche Lebensspanne hat sich während des 20.Jahrhunderts in den USA um mehr als 50 Prozent erhöht; im letzten Jahrzehnt betrug die Zunahme dagegen nicht einmal mehr zwei Prozent. Weil die Kindersterblichkeit mittlerweile fast den niedrigsten überhaupt möglichen Wert erreicht hat, lässt sich die Lebenserwartung nur noch durch Zurückdrängen altersbedingter Krankheiten steigern. Die explodierenden Kosten der geriatrischen Medizin zeugen von den erheblichen Anstrengungen auf diesem Gebiet.
Arzneimittel, die das Altern verlangsamen, wären da ein wahrer Segen. Genauso wie heute schon Medikamente zur Senkung von Blutdruck und Cholesterinspiegel einem Herzinfarkt in mittleren Jahren vorbeugen, wäre damit eine Prophylaxe von altersbedingten Krankheiten möglich – sei es Demenz, Osteoporose, grauer Star, Krebs, Verlust von Muskelmasse und -kraft, Taubheit, ja sogar Falten. Weil uns solche Substanzen länger fit und vital hielten, würden sie uns eine qualitativ hochwertige Zeit schenken und nicht nur einfach ein paar Jahre anhängen.
Ihre Entwicklung dürfte allerdings nicht einfach sein. Ein Haupthindernis ist, dass es keine verlässliche Messmethode für das Alterungstempo gibt. Deshalb lässt sich die Wirksamkeit und Verträglichkeit eines Medikaments beim Menschen bisher nur in schier endlos langen Versuchsreihen prüfen. Doch die Entdeckung von sicheren Anti-Aging-Mitteln wäre den Aufwand wert, selbst wenn nur ein gesundes Altern herauskäme und kein längeres Leben. Dann hätte das Probenröhrchen voller Dreck, eingesammelt vor fünf Jahrzehnten, ein echtes Wunder bewirkt.
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