Räumliche Geometrie: Origami-Polyeder
Laschen und Taschen
Ich gebe zu, ich eigne mich wenig zum Puristen. Bei den alten Griechen waren ja als Mittel zur Konstruktion geometrischer Objekte nur Zirkel und Lineal zugelassen. Es ist ohne Zweifel eine intellektuelle Herausforderung: Wollen wir doch mal sehen, wie weit man mit diesen beschränkten Mitteln kommt. Und die Theorie zeigt: Man kommt erstaunlich weit (von der Quadratur des Kreises und ähnlich müßigen Beschäftigungen einmal abgesehen). Aber in der Praxis? Da nutze ich skrupellos so ungriechische Hilfsmittel wie Geodreieck oder Grafikprogramme.
Die traditionelle japanische Kunst des Papierfaltens ("Origami") hat ähnlich rigide Vorschriften. Arbeitsmaterial ist nur ein Stück Papier, das in der Regel quadratisch sein muss. Zulässige Hilfsmittel? Gar keine. Noch nicht einmal Zirkel und Lineal. Alle Konstruktionen finden allein durch Falten statt; das gilt auch für das Finden von Hilfslinien oder Schnittpunkten, die man im fertigen Gebilde gar nicht mehr braucht. Schneiden und Kleben sind ebenfalls nicht erlaubt, was jemanden wie mich, der reichlich Polyeder mit Schere und Klebstoff zusammengebaut hat, besonders hart trifft.
Aber die intellektuelle Herausforderung bleibt. Wie kann man unter Beschränkung auf die Vorschriften des Origami richtige platonische oder archimedische Körper konstruieren?
Es geht, und eine ganze Reihe der etwas exotischeren Körper sind ebenfalls faltbar. Allerdings versucht man in der Regel nicht, mit einem einzigen Stück Papier auszukommen, sondern setzt ein Objekt aus mehreren Teilen (modules) zusammen – daher die Bezeichnung "modular Origami". Rona Gurkewitz, Professorin für Mathematik und Informatik an der Western Connecticut State University, und Bennett Arnstein, Luftfahrtingenieur im Ruhestand, haben die Technik in mehreren Büchern ausgiebig und zum Nachvollziehen beschrieben.
Wer die modularen Origami-Polyeder nach geometrischen Kriterien anschaut, stellt ziemlich bald fest: Ein Modul vertritt entweder eine Fläche eines Polyeders oder eine Kante. Dadurch erklärt sich auch, dass platonische Körper aus lauter gleichen Modulen bestehen. Manche Module, die ein gleichseitiges Dreieck oder eine seiner Kanten vertreten, sind für alle aus Dreiecken bestehenden Körper verwendbar.
Nachdem die Polyeder ohnehin aus mehreren Modulen zusammengesetzt sind, liegt es nahe, diese aus verschiedenfarbigen Papierblättern zu fertigen. Das gibt schöne bunte Modelle; zusätzlich kann man die Farben nutzen, um Symmetrien oder andere Strukturen seines Objektes hervorzuheben.
Wie werden diese Module miteinander verbunden? Über Laschen und Taschen (points und pockets). Durch Falten gibt man dem Modul einerseits spitz zulaufende Enden, die gegenüber dem "Rumpf" des Moduls abgeknickt sind, andererseits Stellen, wo man zwischen zwei Lagen Papier eine solche Lasche einschieben kann, die dann an beiden Seiten durch weitere Papierlagen ein bisschen eingeklemmt wird. Beim Entwerfen kommt es darauf an, dass das Modul seine Laschen und Taschen (typischerweise je zwei Stück) an den richtigen Stellen hat, sodass sich die Geometrie des Polyeders von selbst ergibt.
Wer genau nachrechnet, stellt fest, dass die durch Falten hergestellten Winkel im Idealfall nicht exakt 108 Grad (für das Fünfeck) oder 120 Grad (für das Sechseck) betragen, sondern um etwa ein halbes Grad danebenliegen. Macht nichts; die Ungenauigkeiten, die durch die Papierdicke und durch die unvermeidlichen kleinen Faltfehler zustande kommen, sind weitaus größer. Dafür kann man das fertige Objekt bequem zurechtfummeln.
Ein Modul für eine Fläche eines Würfels besteht aus einem Quadrat mit zwei männlichen (Laschen-) und zwei weiblichen (Taschen-)Seiten. Dabei liegen die männlichen Seiten einander gegenüber und die weiblichen auch. Es trifft sich günstig, dass man die Flächen des Würfels so anordnen kann, dass an jeder Kante eine männliche Quadratseite mit einer weiblichen zusammentrifft.
Module, die Kanten vertreten, bedecken von den beiden Flächen, die zu der Kante gehören, einen gewissen Teil. Dabei kann es sein, dass die Module, die zu den Kanten einer Fläche gehören, diese Fläche vollständig bedecken – oder auch nicht. Im letzten Fall erhält man ein Kantenmodell des Polyeders, mit möglicherweise ziemlich breiten Kanten, die aber Platz zum Durchschauen lassen. Anscheinend hat sich für diese Werke der Name "Gyroskop" eingebürgert, weil man sie mit zwei Fingern an gegenüberliegenden Ecken fassen und anpusten kann, sodass sie rotieren wie ein Gyroskop (Kreiselkompass). Man kann die Löcher natürlich auch nutzen, mehrere solcher Polyeder ineinanderzuhängen (siehe das Titelbild von "Modular Origami Polyhedra"). Aber ich fürchte, das ist schon eine etwas masochistische Geduldssache.
Als Ausgangsmaterial sind neben quadratischen Papieren auch solche mit dem Seitenverhältnis 1:2 gebräuchlich. Die amerikanischen Origami-Spezialisten nehmen dafür gerne Dollarscheine und schaffen so Werke von bleibendem Wert (von der schleichenden Geldentwertung einmal abgesehen). Amerikanische Banknoten sind lang und schmal, sodass man sie erst durch Abknicken eines schmalen Streifens an der kurzen Seite auf das richtige Format bringen muss. Die Euro-Scheine sind dagegen kurz und breit, sodass man ein Streifchen an der langen Seite wegfalten müsste. Davon abgesehen ist der Spaß ungefähr fünfmal so teuer, selbst wenn man nur Fünf-Euro-Scheine verwendet. Immerhin macht hier das Schneide- und Klebverbot einen Sinn: In Zeiten der Not kann man schweren Herzens das Kunstwerk, leicht zerknittert, wieder in Umlauf bringen.
Hardcore-Origami
Die Technik des Papierfaltens ist, was Schwierigkeitsgrad und Zeitaufwand angeht, "nach oben offen". Gurkewitz und Arnstein selbst schreiben, dass sie von dem weiten Feld der Möglichkeiten nur einen kleinen Teil erkundet haben. Aber der ist schon recht eindrucksvoll.
Man genehmigt sich, dass ein geometrischer Körper auch aus mehr als einer Sorte Module bestehen darf. Außerdem vertritt ein Modul nicht nur eine Kante oder Fläche eines Polyeders, sondern möglicherweise auch eine Ecke. Das ist allerdings Ansichtssache; denn was in einem Polyeder eine Ecke ist, das ist in dem dazu dualen Polyeder eine Fläche (siehe auch Folge 11 dieser Serie). Und so genau kann man nicht sagen, ob das fertige Werk eher den originalen oder den dazu dualen Körper darstellen soll.
Sei's drum; das wesentlich neue Element ist ein Modul, der von einer traditionellen Origami-Faltung namens waterbomb hergeleitet ist. (Ich habe nicht herausgefunden, wo dieser martialische Name herkommt.) Von einem Punkt in der Mitte gehen abwechselnd Berg- und Talfalze aus. Der Mittelpunkt ist der Eckpunkt, den das Modul vertritt, und die Bergfalze sind die von ihm ausgehenden Kanten. Links von jedem Bergfalz endet das Modul in einer Lasche und rechts in einer Tasche (oder umgekehrt); dadurch kann man die Module zusammenstecken wie die Schienen bei der Modelleisenbahn. Die Anzahl der Bergfalze bestimmt, wie-viel-zählig die Ecke ist. Die Länge der Kanten bestimmt sich aus der absoluten Größe des Moduls. Verschiedene Ecken-Module, die zu ein und demselben Körper zusammengesetzt werden sollen, müssen deshalb aus Papierquadraten verschiedener Größe gefertigt werden, damit am Ende die Geometrie stimmt.
Eine Waterbomb ist flexibel: Die Ecke kann mehr oder weniger spitz ausfallen. Deswegen genügt für alle – zum Beispiel – dreizähligen Ecken eine einzige Sorte Modul, einerlei welche drei Flächen an diese Ecke grenzen. So können Bennett und Arnstein nicht nur einen Fußball (sprich: einen Ikosaederstumpf) herstellen, sondern auch dessen Verallgemeinerungen, die es in der echten Natur als Fullerene ("Buckyballs", Kugeln aus Kohlenstoffatomen) gibt: ziemlich kugelähnliche Körper, die aus zwölf Fünfecken und einer großen Anzahl annähernd regelmäßiger Sechsecke bestehen. Und natürlich gehen mit Origami Körper, die mit Kohlenstoffatomen noch nie synthetisiert wurden (und vielleicht gar nicht synthetisiert werden können).
Ein Werk aus dem Ursprungsland des Origami übertrifft die Buckyballs noch bei weitem. Die japanische Origami-Künstlerin Tomoku Fusè kann aus Papier einiges von dem falten, was ich in vorigen Folgen dieser Serie dargestellt habe: Pyramidchen, die man auf die Flächen von Polyedern aufsetzt, und vor allem raumfüllende Packungen von Polyedern. Ihre Module haben ausreichend Laschen und Taschen, dass man mehrere Würfel dicht an dicht bauen kann, oder Tetraeder und Oktaeder, oder den Durchdringungskörper von Würfel und Oktaeder, Körper mit abnehmbaren Pyramidchen und unendliche Polyeder. Was sie aus keilförmigen Modulen baut, sieht Steven Dutchs unendlicher Zusammensetzung aus Oktaedern schon sehr ähnlich.
Ein richtiger Meister nach dem Herzen der Origami-Puristen ist allerdings John Montroll. Er faltet volle 27 Polyeder, darunter sämtliche platonischen, nach den strengen Regeln der Kunst aus jeweils einem einzigen Stück Papier. Das heißt, auf dieses Papier muss nicht nur ein komplettes Netz ("Bastelbogen") des jeweiligen Polyeders passen, dieses Netz muss auch allein durch Falten konstruiert werden. Außerdem muss der Teil des Papiers, der beim Schneide-und-Kleb-Verfahren als Abfall übrig bleiben würde, sorgfältig ins Innere des Körpers bugsiert werden. Das funktioniert nur unter Brechung der Symmetrie des Polyeders: Es ist unmöglich, alle Flächen gleich zu behandeln. Schließlich sind noch, damit das Ding zusammenhält, Laschen und Taschen vorzusehen. Kein Wunder, dass dabei für das Dodekaeder 60 verschiedene, zum Teil mehrfach auszuführende Bearbeitungsschritte zusammenkommen. Ich glaube, diese Faltanleitung auswendig zu lernen und dann vor Publikum vorzuführen würde einem Zauberkünstler echt Ehre machen.
Es gibt übrigens Leute, die es wagen, das Klebstoffverbot zu missachten – aus Gründen des Tierschutzes. Jim Plank hat, wie Wolfgang Pauli für die Elektronen, eine Art Ausschlussprinzip formuliert: Gewisse Origami-Polyeder und eine Katze können nicht im selben Raum koexistieren. Da helfe nur Klebstoff – oder ein Schießgewehr ("the resulting polyhedra cannot exist in the same house as cats without the aid of glue or a gun"). War da nicht was mit Schrödingers Katze?
Kommentare und Anregungen sind wie immer stets willkommen!
Herzlich Ihr
Christoph Pöppe
Redakteur bei Spektrum der Wissenschaft
Literatur und Webtipps zu dieser Folge:
Tomoku Fusè: Unit Origami. Multidimensional Transformations. Japan Publications (1990)
Rona Gurkewitz und Bennett Arnstein: 3-D Geometric Origami. Dover Publications (1995)
Rona Gurkewitz und Bennett Arnstein: Multimodular Origami Polyhedra. Archimedeans, Buckyballs, and Duality. Dover Publications (2003)
John Montroll: A Plethora of Polyhedra in Origami. Dover Publications (2002)
Rabe-Rüdiger von Randow: Plaited Polyhedra. The Mathematical Intelligencer 26(3): 54-68 (2004)
Lewis Simon, Bennett Arnstein und Rona Gurkewitz: Modular Origami Polyhedra. Revised and enlarged edition. Dover Publications (1999)
www.math.lsu.edu/~verrill/origami/: Helena Verrill's Origami Index; auch etwas mathematischer orientiert.
www.paperfolding.com/math/: Einführende Worte, besonders an Lehrer gerichtet, und eine lange Linkliste "Origami & maths", von Eric M. Anderson
www.cs.utk.edu/~plank/plank/pics/origami/origami.html: Jim Plank's Origami Page. Dort wird unter anderem auf ein PDF-file namens "Penultimate Polyhedra" verwiesen, in dem Jim Plank auch die Sache mit den Winkeln nachrechnet.
www.papierfalten.de ist die Website des Vereins Origami Deutschland. Trägt zum Polyederfalten leider nicht viel bei.
www.origami-online.de: Website von Ralf Konrad mit einer Vielzahl von selbstgefalteten Origamis und Hinweisen
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