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Die Entdeckung des Nichts. Leere und Fülle im Universum

Hanser, München 1994.
416 Seiten, DM 58,-.

Der Titel täuscht! Das Buch handelt keineswegs nur von der Erforschung des Vakuums, das seit der Antike die größten Geister beschäftigte und in der modernen quantenmechanischen Physik der Ausgangspunkt für alle Erklärungs- und Vereinigungsversuche ist; es enthält auch eine kondensierte Geschichte der Physik und der Kosmologie.

Eine ausführliche Diskussion ist der Entstehung der Begriffe und Ideen bei den griechischen Philosophen gewidmet, die wohl zum ersten Male versuchten, das Verständnis der Natur auf einige wenige Prinzipien zurückzuführen – ein Versuch, der die ganze Geschichte der abendländischen Naturforschung durchzieht. Die Änderung der Paradigmen von den Vorsokratikern über Aristoteles, die großen Naturforscher der Renaissance bis zu den modernsten Vorstellungen wird nachvollzogen. Immer wieder geht es um die Frage, ob der leere Raum existiere. Es ist eindrucksvoll und für uns Heutige lehrreich zu erfahren, wie selbst große Philosophen und Wissenschaftler im Geiste ihrer Zeit befangen waren und Vorstellungen, die uns als selbstverständlich erscheinen, nicht akzeptieren konnten. Der Autor macht die Lektüre dadurch interessant, daß er die Entwicklungen nicht streng in der historischen Reihenfolge darstellt, sondern häufig antike Ideen in direkte Verbindung zur modernen Physik bringt – zum Beispiel die der griechischen Atomisten mit der Superfluidität des Heliums.

Henning Genz, Leiter des Instituts für Theoretische Kernphysik an der Universität Karlsruhe, zeigt außer diesen philosophischen Entwicklungen aber auch die Geschichte der Physik und insbesondere ihre Wandlung von spekulativen Ideen zu einer Erfahrungswissenschaft. Die historisch so wichtigen Versuche zur Erzeugung eines luftleeren Raumes einschließlich der spektakulären Experimente des Otto von Guericke (1602 bis 1686) mit den Magdeburger Halbkugeln, die – luftleer gepumpt – selbst mit 16 Pferden nicht zu trennen waren, werden ebenso behandelt wie die modernsten Experimente der Elementarteilchenphysik oder neueste Beobachtungen der Astrophysik. Für den Laien seltsame Begriffe wie Hohlraumstrahlung, Zitterbewegung, Quark-Gluon-Plasma, Schwarze Löcher und dunkle Materie werden allgemeinverständlich erklärt.

Die immer wiederkehrende Frage, ob es den leeren Raum gebe, ist heute mit nein zu beantworten. Aus der Sicht der Quantenmechanik, ohne die weder die Physik noch die Kosmologie auskommt, ist das Vakuum von vielfältigen Prozessen erfüllt, die nicht direkt meßbar sind und deshalb virtuell genannt werden. Die Struktur des Vakuums und seine Symmetrieeigenschaften liefern dabei die Grundprinzipien (first principles) für das Naturverständnis und lassen am Horizont die Möglichkeit für eine Vereinigung der bekannten Kräfte zu einer Universalkraft erkennen. Dadurch würde eine einheitliche Beschreibung (grand unified theory) der vielfältigen Erscheinungen in der Natur möglich – ein Traum, den Werner Heisenberg (1901 bis 1976) in seiner Weltformel vergebens zu verwirklichen suchte. (Als der Dalai Lama einmal das Europäische Kernforschungszentrum CERN in Genf besuchte, bat er mich, die Theoretiker einzuladen, um mit ihm die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen dem Vakuum in der Physik und der shunyata, der all-einen Leerheit im Buddhismus, zu erörtern. Das amüsante Ergebnis war, daß beide nicht leer im Sinne eines absoluten Nichts sind, sondern Phänomene enthalten, die zu einer einheitlichen Beschreibung der Welt verhelfen.)

Ein wesentlicher Teil des Buches handelt davon, wie die jüngsten Ergebnisse der Elementarteilchenphysik vereint mit denjenigen der Astrophysik neue kosmologische Modelle (Urknallmodelle mit und ohne Inflation) nahelegen, die einer experimentellen Prüfung zugänglich sind. Dabei sind unanschauliche Begriffe der Quantenmechanik und der auch für Physiker nicht leicht zu verstehenden Allgemeinen Relativitätstheorie zu erläutern, was Genz mit Bravour gelingt.

Unbeantwortet müssen die tiefen Fragen bleiben, warum die Welt so ist, wie wir sie erleben. Hat ein "anthropisches Prinzip" dafür gesorgt, daß die Naturgesetze genau so beschaffen sind, daß sich Lebewesen entwickeln und Menschen entstehen konnten, die imstande sind, die Natur zu erforschen (Spektrum der Wissenschaft, Februar 1982, Seite 90)? Oder spielte der Zufall in entscheidenden Momenten der kosmischen Entwicklung eine Rolle? Wie steht es mit der in der Alltagsphysik üblichen Trennung von allgemeingültigen Naturgesetzen und Anfangsbedingungen eines speziellen Vorgangs? Ist dies auch für die einmalige Entwicklung des Kosmos möglich?

Das Buch enthält keine Formel, wohl aufgrund der Erfahrung, daß jede Formel die Leserschaft erheblich reduziert. Genz hat mit Erfolg versucht, "exakte Gedanken in nicht exakter Sprache zu vermitteln". Unvermeidlich mußte er bei einer populären Darstellung sehr komplizierter Sachverhalte vereinfachen; seine Kompetenz bürgt aber dafür, daß sich trotzdem keine falschen Darstellungen eingeschmuggelt haben.

Er stellt selbst die Frage, wer ein solches Buch liest, und gibt Ratschläge, wie man es lesen sollte. Es ist für den gebildeten Laien geschrieben, der keine speziellen physikalischen oder mathematischen Voraussetzungen mitbringen muß. Allerdings sind die Fortschritte in bezug auf eine Vereinheitlichung des Verständnisses im Mikro- und Makrokosmos unabdingbar mit größerer Abstraktion verbunden. Der Leser muß sich also in ungewohnte Gedankengänge hineinfinden.

Man kann das Buch kaum wie einen Roman von Anfang bis Ende durchlesen. Ich würde auch nicht dem Ratschlag des Autors folgen, mit dem Prolog und dem Epilog zu beginnen; diese fassen die sehr interessanten Probleme an der Grenze zwischen Physik und Philosophie zusammen, erfordern aber wegen ihrer konzisen Darstellung eine besondere Konzentration. Vielen Lesern wird es dagegen viel Vergnügen bereiten, im Buch zu blättern und Einzelheiten etwa über die Klepshydra (den Wasserheber) des antiken Naturforschers Empedokles, die automatische Öffnung der Tore der antiken Tempel oder die Luftdruckversuche von Evangelista Torricelli (1608 bis 1648), Blaise Pascal (1623 bis 1662) und eben Otto von Guericke zu erfahren.

Ein Schönheitsfehler ist dem Verlag anzulasten. Einige längere Zitate sind als Abbildungen deklariert und durchnumeriert, sehen aber so aus wie Bildunterschriften, zu denen das Bild fehlt. Dies beeinträchtigt aber nicht die äußerst kompetente Darstellung des Themas und die große Fülle von zum Teil wenig bekanntem historischem Material, das Genz zusammengetragen hat. Die Lektüre des Buches ist allen zu empfehlen, die sich für die historische Entwicklung der Paradigmen der Naturbeschreibung und für das aktuelle physikalische Weltbild interessieren; aber auch Physiker und Lehrer werden viele interessante Anregungen darin finden.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 1996, Seite 128
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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