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Quasikristalle in neuem Licht

Es gibt zwar eine theoretische Vorstellung, wie Atome sich zu Festkörpern mit einer ungewöhnlichen Symmetrie zusammenballen könnten; aber die Atome haben wenig Anlaß, dieser Vorstellung zu folgen. Ein neues, plausibleres Muster könnte die Erklärungsnot lindern.


Die Physiker machen eine Entdeckung, und siehe da: Auf wundersame Weise haben die Mathematiker schon eine Erklärung dafür bereit. Das geht häufig so; ein spektakuläres Beispiel war die Entdeckung der Quasikristalle 1984, für die der israelische Physiker Dan Shechtman jüngst mit dem Wolf-Preis geehrt wurde. Unter gewissen Bedingungen fügen sich Atome von – zum Beispiel – Aluminium und Mangan nicht, wie in einem gewöhnlichen Kristall, zu einer Anordnung, die sich in allen drei Raumrichtungen periodisch wiederholt, sondern zu einem Gebilde mit fünfzähliger Symmetrie (Spektrum der Wissenschaft, Juni 1991, S. 48). Die beiden Möglichkeiten – periodisch oder fünfzählig-symmetrisch – schließen sich gegenseitig aus.

Zunächst glaubte niemand, daß die Atome eines Festkörpers ein Volumen mit einer gewissen Ordnung, aber ohne Periodizität füllen könnten. Immerhin ist eine solche Füllung möglich, wenn man anstelle der Atome Rhomboeder nimmt: Würfel, die in allen drei Raumrichtungen derart verzerrt sind, daß ihre Grenzflächen keine Quadrate, sondern Rhomben (Rauten) sind. Der inzwischen emeritierte Tübinger Physiker Peter Kramer hat eine lückenlose Füllung des Raumes mit Rhomboedern gefunden, die nachweislich nicht periodisch sein kann, auch nicht mit beliebig großer Periode, dafür jedoch eine fünfzählige (genauer: Ikosaeder-)Symmetrie aufweist.

Da zwei Dimensionen einfacher zu verstehen sind als drei, spielte sich der größte Teil der Forschungsaktivitäten nicht im Raum, sondern in der Ebene ab, mit gewöhnlichen Rauten anstelle der Rhomboeder. Das bekannteste Ergebnis dieser Aktivitäten sind die Pflasterungen der Ebene, die der Oxforder Mathematiker Roger Penrose (derselbe, der in jüngster Zeit durch seine Auseinandersetzung mit Stephen Hawking von sich reden machte, siehe Spektrum der Wissenschaft, September 1996, S. 46) in den siebziger Jahren intensiv erforscht hat. Man kann sich deren Bestandteile als Pflastersteine oder Kacheln (tiles) vorstellen. Bei der Penrose-Pflasterung gibt es zwei Sorten davon: dicke und dünne Rauten. Wenn man lauter Kacheln einer Sorte parallel nebeneinanderlegt, ergibt sich ein sehr langweiliges und vor allem periodisches Muster. Um das zu verhindern, gelten bestimmte Einpassungsregeln (matching rules).

Penrose-Pflasterungen gibt es in verschiedenen Erscheinungsformen. Man kann Kacheln zerlegen und die Fragmente über die Grenzen der ursprünglichen Kacheln hinweg zu neuen Bauteilen zusammensetzen – und zwar immer denselben dank der Einpassungsregeln. So gibt es äquivalente Pflasterungen mit zwei Arten von Dreiecken, mit Fünfecken, Fünfsternen, dünnen Rauten und Schiffchen oder mit Drachen und Pfeilen; in der letzten Form sind sie durch einen folgenreichen Artikel von Martin Gardner im "Scientific American" (Spektrum der Wissenschaft, November 1979, S. 22) berühmt geworden.

Demnach könnten die Physiker sich die Struktur ihrer Quasikristalle bei den Mathematikern abholen: Die eine Sorte Kachel ist ein Aluminiumatom, die andere ein Manganatom, und die Anlegeregeln drücken die Kräfte zwischen den Atomen aus. Wo eine matching rule es verbietet, eine Mangankachel anzulegen, da ist im echten Quasikristall eben die Plazierung eines Manganatoms energetisch ungünstig.

Nun ist über die Kräfte zwischen Atomen in einem Festkörper zwar so wenig bekannt, daß sich darüber trefflich spekulieren läßt; aber so einfach wie geschildert konnte die Sache dann doch nicht sein. Atome sind eben nicht rauten- oder rhomboederförmig. Eher war denkbar, daß eine Kachel mehreren Atomen entspricht. Die Kunst besteht dann darin, eine Kachel oder eben ein Rhomboeder so mit Atomen zu bestücken – der Fachausdruck ist "Dekoration" –, daß das Gesamtergebnis mit dem experimentellen Befund übereinstimmt. Es gibt bereits erste, bescheidene Erfolge. Allerdings fällt es schwer sich vorzustellen, warum Atome es vorziehen sollten, sich ausgerechnet zu solch rhomboederförmigen Clustern zusammenzutun.

Selbst mit einer gelungenen Dekoration bleibt jedoch eine entscheidende Frage unbeantwortet: Wie entsteht ein Quasikristall? Wenn man nämlich eine Penrose-Pflasterung aufzubauen versucht, indem man unter Beachtung der Einpassungsregeln eine Kachel nach der anderen an das wachsende Gebilde anlegt, landet man mit großer Wahrscheinlichkeit in einer Sackgasse: An bestimmten Stellen kann man gar nichts mehr anlegen. Die Einpassungsregeln sind zwar notwendig, aber nicht hinreichend für eine Penrose-Pflasterung. Das gilt selbst dann noch, wenn man die Regeln verschärft, indem man vorschreibt, in welcher Anordnung die Rauten um eine Ecke herumliegen dürfen (die sogenannten Vertex-Konfigurationen).

Ein perfekter Quasikristall müßte jedoch auf genau diese Weise heranwachsen: An einen Kristallisationskeim lagert sich ein Atom nach dem anderen an, geleitet durch die Kräfte, die in unmittelbarer Umgebung seiner momentanen Position herrschen. Wenn diese lokale Information ihm nicht mehr sagt, als durch die Einpassungsregeln ausgedrückt ist, wird es seinen Platz nicht finden und der Quasikristall nicht über das Nanostadium hinauswachsen.

Wie kommen die Mathematiker dann überhaupt an fehlerfreie, unendlich ausgedehnte Pflasterungen? Ganz einfach: Die Bedeckung der Ebene mit Rauten ist interpretierbar als der Schatten eines sehr einfachen, periodischen Musters in fünf Dimensionen. Nichtperiodisch ist es nur, weil das fünfdimensionale Gitter in einem sehr schrägen (irrationalen) Winkel beleuchtet wird. Dank dessen Einfachheit gibt es eine reichhaltige Theorie der nichtperiodischen Parkettierungen. Aber selbstverständlich fragt ein Atom nicht in der fünften Dimension nach, wo es sich hinsetzen soll.

Neue Ansätze zur Lösung des Problems müssen also auf dem Teppich bleiben, sprich in zwei (beziehungsweise drei) Dimensionen. Ein solcher Ansatz ist Petra Gummelt von der Universität Greifswald gelungen ("Geometriae Dedicata", Bd. 62, S. 1-17, 1996, und "Aperiodische Überdeckungen mit einem Clustertyp", Shaker Verlag, Aachen 1999). Sie erweiterte an einer entscheidenden Stelle den Blickwinkel, indem sie sich nicht auf Pflasterungen beschränkt, das heißt lückenlose und überlappungsfreie Bedeckungen der Ebene, sondern Mehrfachüberdeckungen zuläßt.

Dadurch wird interessant und fruchtbar, was bereits dem flüchtigen Beobachter der Penrose-Pflasterung in der Dreiecksform auffällt: Das Muster enthält zahlreiche regelmäßige Zehnecke. Penrose hat sie cartwheels ("Wagenräder") getauft. Die Seite eines solchen Zehnecks ist so lang wie eine kurze und eine lange Dreiecksseite zusammen, und Wagenräder kommen derart häufig vor, daß jeder Punkt der Ebene von mindestens einem bedeckt ist.

Die reichhaltige Theorie der Penrose-Pflasterungen liefert noch mehr Informationen (Kasten S. 15). Zwei dieser Zehnecke können sich, wenn überhaupt, nur auf ganz bestimmte Weise überlappen. Diese Vorschriften lassen sich auf einleuchtende Weise veranschaulichen. Man färbt Teile des Zehnecks rot ein und setzt folgende matching rule: Zehnecke müssen farblich passend – rot auf rot und weiß auf weiß – aufeinanderliegen, und rote Flächen müssen stets mindestens zweifach überdeckt sein (Kasten S. 14) .

Petra Gummelts Ergebnis bringt die Physiker ihrem Ziel, die Entstehung eines Quasikristalls zu erklären, schon deutlich näher. Denn erstens gibt es nur noch eine Sorte "Pflasterstein". (Man könnte treffender von Flicken reden, die zu einem Patchwork aufeinandergenäht werden.) Das ist plausibler als die Vorstellung, daß dieselben Atome bereit sein sollten, sich zu Pflastersteinen zweier verschiedener Sorten zu fügen, und zwar mit annähernd gleicher Bereitwilligkeit. Normalerweise ist eine bestimmte Anordnung energetisch günstiger und kommt damit viel häufiger vor als andere. Demnach wäre zu erwarten, daß es nur eine Sorte Pflaster- beziehungsweise Überdeckungsstein gibt.

Zweitens ist die Zehnecksform schon ziemlich wohlgerundet. Daß sich Atome zu einem derartigen Cluster vereinigen – oder was immer dem in drei Dimensionen entspricht –, ist weniger abwegig als die spitzwinkligen Rautenformen.

Drittens ist es immerhin denkbar, daß ein Quasikristall durch sukzessives Anlagern nach der Zehnecksüberdeckungsregel heranwächst, in ei-ne Sackgasse gerät – und sich nachträglich zurechtruckelt. Gewisse eigentlich schon plazierte Teile des Gebildes würden von einer erlaubten Konfiguration in eine andere, ebenfalls erlaubte, übergehen, weil dadurch ein weiteres Zehneck einen Platz findet. Dadurch würde der Quasikristall aus der Sackgasse herauskommen und auf dem Pfad der Tugend weiterwachsen.

Was könnte ihn dazu veranlassen? Das Übliche, nämlich das Streben nach minimaler Energie. Es könnte ja sein, daß eine Anordnung auf einer bestimmten Fläche energetisch um so günstiger ist, je mehr Zehnecke sie enthält. Die "richtige" Anordnung hat nämlich die maximal überhaupt mögliche Dichte an Zehnecken.

Diese Idee hat Paul Steinhardt, Physiker an der Universität Princeton, weitergeführt. Er fand eine Dekoration des Zehnecks mit Atomen, die nicht nur die Überdeckungsregeln wiedergibt, sondern zusätzlich, bezogen auf eine große Fläche, um so günstiger ist, je dichter die Zehnecke liegen (Bild S. 16). Außerdem ist sie mit dem, was man über die interatomaren Kräfte weiß, zumindest vereinbar. Schade nur, daß sich real existierende Quasikristalle in der Regel wenig um die – geringen – Energiedifferenzen zwischen verschiedenen Zuständen scheren. Es sieht eher so aus, als würde ein in der Schmelze nach den Regeln der statistischen Mechanik erreichter Zustand beim Erstarren des Festkörpers gewissermaßen eingefroren (entropische Stabilisierung).

Bislang spielen sich diese Überlegungen alle in zwei Dimensionen ab. Aber das steht einer Überprüfung an der Realität nicht im Wege. Es gibt nämlich Quasikristalle, die aus gleichartigen, periodisch übereinandergestapelten Ebenen mit fünfzählig-symmetrischer Anordnung der Atome bestehen: quasiperiodisch in zwei Dimensionen, periodisch in der dritten.

Fernziel wäre, die Techniken, die Petra Gummelt am zweidimensionalen Fall entwickelt hat, auf drei Dimensionen anzuwenden. Eine Arbeit, die Peter Kramer am 1. April im Internet veröffentlicht hat (http://xxx.lanl.gov/abs/math-ph/9904001), könnte da weiterhelfen, indem sie eine Struktur im abstrakten höherdimensionalen Raum angibt, von der die Zehnecke die zweidimensionalen Schatten sind.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 1999, Seite 14
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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