Mathematik: Die verborgene Ordnung der Quasikristalle
Sie haben eine Ordnungsstruktur, die über viele Atome hinweg ihre Wirkung zeigt; gleichwohl sind sie keine herkömmlichen Kristalle. Abstrakte mathematische Konstruktionen helfen das Geheimnis der Quasikristalle zu enthüllen.
Schickt man parallele Röntgenstrahlen durch einen Kristall, so ergeben sich schön anzusehende, symmetrische, aus lauter Punkten zusammengesetzte Beugungsbilder. Diese Punktmuster erlauben weit gehende Rückschlüsse auf die Struktur des durchstrahlten Objekts: Ein Kristall ist periodisch, das heißt, man kann ihn sich aus so genannten Elementarzellen zusammengesetzt denken, Gruppen von wenigen Atomen, die sich über den gesamten Kristall hinweg wiederholen wie Ziegelsteine in einem Mauerwerk. Genauer: Ein Kristall geht durch Translationen um jeden von drei unabhängigen Vektoren (die "Kanten des Ziegelsteins") wieder in sich selbst über.
Manchmal sehen die Beugungsbilder sogar so kristallähnlich aus, dass man auf den ersten Blick meinen könnte, sie spiegelten direkt die Atompositionen im Kristallgitter wider. Sie geben jedoch die Symmetrie eines anderen Gitters wieder, die des dualen (oder reziproken) Gitters.
Fast achtzig Jahre lang glaubte man, das Vorkommen scharfer, punktförmiger Reflexe im Beugungsbild sei auf (gewöhnliche) Kristalle beschränkt; entsprechend galten Translationssymmetrie, Kristallstruktur und rein punktförmige Beugungsreflexe als drei verschiedene Ausdrücke für dieselbe Sache. Es war daher für die Kristallographie ein Schock, als 1982 Materialien entdeckt wurden, deren Beugungsbilder zwar nur punktförmige Beugungsreflexe – wie eben bei den üblichen periodischen Kristallen – zeigen, aber eine fünfzählige Drehsymmetrie aufweisen, die mit einer Gittersymmetrie nicht vereinbar ist! Diese neuen Stoffe, die ganz sicher keine herkömmlichen Kristalle waren, wurden "Quasikristalle" getauft (SdW 10/1986, S. 74, und 6/1991, S. 48). Alsbald suchten die Forscher nach ihren physikalischen Eigenschaften und nach mathematischen Modellen, die ihre Geometrie erklären konnten.
In diesem Artikel beschäftigen wir uns mit mathematischen Fragen, die sich aus dieser Entdeckung ergeben. Quasikristalle sind offensichtlich geordnet – sonst hätten sie keine punktförmigen Beugungsreflexe –, aber im Allgemeinen nicht periodisch. Wie kann es aperiodische Ordnung geben, wie kann man sie ausfindig machen und quantifizieren, und wie konstruiert man geordnete aperiodische Muster? Welchen Platz nehmen die Quasikristalle und ihre geometrischen Modelle zwischen der perfekten Ordnung der idealen Kristalle und der weit gehenden Unordnung der amorphen Stoffe ein? Wie können wir den Grad ihrer "Unordnung" charakterisieren?
Eine Dimension weniger: ebene Parkette
Für den Einstieg ist es hilfreich, Quasikristalle in zwei statt in drei Dimensionen zu betrachten. Das sind nicht-periodische, aber in gewisser Art regelmäßige Anordnungen von Atomen in einer Ebene. Man findet sie sogar in der Realität: Viele solcher ebenen Anordnungen aufeinander gestapelt ergeben einen Quasikristall, der aperiodisch in zwei Dimensionen und periodisch in der dritten ist. Hier soll es jedoch um die mathematische Idealisierung gehen, die zahlreiche theoretische Ergebnisse liefert.
Man verbinde in Gedanken die Atome durch Striche mit ihren nächsten Nachbarn; dadurch erhält man eine Aufteilung der Ebene in Vielecke. Solche Aufteilungen haben die Mathematiker schon vor der Entdeckung der Quasikristalle intensiv studiert. Es geht um Parkettierungen (tilings), das sind lückenlose, überlappungsfreie Bedeckungen der Ebene mit bestimmten Figuren, die dann Parkettsteine (tiles) heißen. Interessant sind vor allem Parkette, die aus einem begrenzten Sortiment von Steinen, den "Ursteinen" (proto-tiles), gelegt sind. Die einfachsten Parkette bestehen aus lauter Exemplaren eines einzigen, parallelogrammförmigen Ursteins, die so langweilig aneinander gelegt sind wie Standard-Badezimmerkacheln. Sie entsprechen den (aufs Zweidimensionale reduzierten) Elementarzellen eines herkömmlichen Kristalls.
Umgekehrt kann man jedes Parkett als Anordnung von Atomen interpretieren. Wenn die Ursteine Vielecke sind, setze man zum Beispiel in jede Ecke ein Atom. Man hat jedoch die Freiheit, jeden Urstein an geeigneten Stellen mit Atomen zu besetzen (zu "dekorieren"); für den Physiker sind diejenigen Dekorationen interessant, die zu den Kräften zwischen den Atomen passen.
Eine sehr intensiv studierte Parkettierung hat als Ursteine eine dicke und eine dünne Raute. Man kann mit ihnen periodische und – zumindest halbwegs – ungeordnete Parkette legen (Kasten rechts). Berühmt geworden ist allerdings die so genannte Penrose-Parkettierung, bei der die Freiheit, Steine aneinander zu legen, durch bestimmte Regeln eingeschränkt ist (Bild Seite 65 und Kasten rechts; vergleiche auch Spektrum der Wissenschaft 11/1979, S. 22 und 7/1999, S. 14). Diese Regeln werden zum Beispiel durch Pfeile an den gemeinsamen Kanten ausgedrückt; solche Merkmale, welche die Einhaltung der Anlegeregeln erzwingen, heißen ebenfalls Dekorationen. Der britische Mathematiker Roger Penrose hat diese Parkettierung in den siebziger Jahren entwickelt; Frühformen finden sich bereits bei Johannes Kepler (1571-1630).
Ein korrekt konstruiertes Penrose-Parkett hat mehrere erstaunliche Eigenschaften, darunter die folgenden:
- Ein vollständiges Penrose-Parkett ist aperiodisch, es besitzt überhaupt keine Translationssymmetrie.
- Setzt man Atome in die Eckpunkte der Steine, so ist diese Atomanordnung rein punktstreuend, das heißt, in ihrem Beugungsbild kommen nur scharfe Reflexe vor, und zwar mit zehnzähliger Drehsymmetrie.
Eine andere aperiodische Parkettierung stammt von Robert Ammann, einem Postbeamten und mathematischen Autodidakten, und Frans P. M. Beenker. Sie ist aus zwei einfachen Ursteinen aufgebaut: einem Quadrat und einer Raute (Kasten Seite 68/69). Wie bei der Pen-rose-Parkettierung ergibt sich bei der Beugung an den Eckpunkten reine Punktstreuung, allerdings diesmal mit achtzähliger Symmetrie.
Inflation und Deflation: Aus eins mach viele
Das Geheimnis vieler besonders interessanter Parkettierungen enthüllt sich mit einem sehr mächtigen Konzept. Es heißt "Inflation", und gemeint ist der ursprüngliche Sinn des Wortes, nämlich "Aufblasen". Die Umkehrung der Inflation wird "Deflation" genannt. Im Prinzip ist das Konzept der Inflation für alle Parkettierungen, auf die es überhaupt anwendbar ist, dasselbe; in den Einzelheiten gibt es Unterschiede. Die folgende Darstellung trifft auf das Ammann-Beenker-Parkett genau und auf andere Parkette mit leichten Modifikationen zu.
Inflation besteht zunächst darin, dass man sämtliche Steine eines Parketts mit einem gewissen Faktor vergrößert. Das ist noch nicht bemerkenswert; aber die Ursteine unserer Parkette haben eine spezielle Eigenschaft: Man kann ihre vergrößerten Versionen in Ursteine der ursprünglichen Größe zerlegen, und zwar so, dass die neuen Steine, geeignet dekoriert, die Anlegeregeln wieder erfüllen, wenn das auch für die unzerlegten Steine gilt.
Man nehme nun ein beliebig kleines Stück eines solchen Parketts, zum Beispiel einen einzelnen Stein, wende auf ihn die Inflation an, auf das Ergebnis wieder, und so weiter. Bei jedem Inflationsschritt vergrößert sich die Fläche, die das Muster bedeckt. So erhält man eine unendliche Folge von regelgerechten Mustern, die immer größere Teile der Ebene ausfüllen.
Es ist auf diese Weise sogar ein Muster konstruierbar, das die ganze unendliche Ebene bedeckt, dank einer zusätzlichen Eigenschaft: Nach jeweils zwei Inflationsschritten ist das Muster nicht nur größer geworden, sondern enthält auch das ursprüngliche Muster als Teilmuster. Nehmen wir einen beliebigen Punkt der Ebene. Nach einer gewissen Anzahl von Inflationsschritten ist das Muster so groß geworden, dass es diesen Punkt bedeckt. Zwei Muster später liegt wegen der Teilmustereigenschaft wieder derselbe Stein auf dem Punkt, und so weiter bis in alle Ewigkeit. Mathematisch ausgedrückt: Die Folge, die aus jedem zweiten Muster der Inflationsfolge besteht, strebt an jedem Punkt der Ebene gegen einen wohldefinierten Grenzwert (der Stein bleibt einfach derselbe). Der Grenzwert dieser Musterfolge ist das unendliche Muster.
Wenn man auf dieses unendliche Muster die doppelte Inflation anwendet, bleibt es unverändert; so ist es ja konstruiert. Man nennt es einen Fixpunkt ("festen Punkt") der doppelten Inflation.
Die so erhaltene Parkettierung der Ebene hat eine weitere erstaunliche Eigenschaft: Ein beliebiger Ausschnitt des Parketts kommt unendlich oft wieder vor. Wir können sogar eine maximale Entfernung angeben, bis zu der wir höchstens suchen müssen, um diesen Ausschnitt wieder zu finden. Ein Muster mit dieser Eigenschaft nennt man repetitiv. Ein perfekter Kristall ist ein Beispiel für eine repetitive Struktur, aber durch die Inflationsvorschrift gewinnen wir nun neue, interessante Fälle.
Wie kommt es zur Repetitivität? Nehmen wir zunächst den Fall, dass der Ausschnitt ein einziger Stein ist. Nach zwei Inflationsschritten findet man diesen Stein in mehreren Exemplaren mit gleicher Orientierung und Dekoration wieder. Das kann man am oktagonalen Ammann-Beenker-Parkett direkt nachprüfen; beim Penrose-Parkett braucht man, genau genommen, vier statt zwei Inflationsschritte und muss dann einen Stern aus fünf dicken Rauten ins Zentrum legen. Mit jedem weiteren – doppelten beziehungsweise vierfachen – Inflationsschritt vervielfacht sich die Anzahl dieser gleichen und gleich orientierten Steine und wächst damit über alle Grenzen.
Für größere Ausschnitte kommt die Umkehrung der Inflation ins Spiel. Eine doppelte (beziehungsweise vierfache) Deflation ändert am gesamten (unendlich großen) Muster nichts, ebenso wenig wie die gleiche Anzahl an Inflationen; das ist gerade die Fixpunkteigenschaft. Jeden beliebigen Ausschnitt endlicher Größe kann man durch wiederholtes Anwenden der mehrfachen Deflation so lange kleiner machen, bis er gänzlich in einem Stein enthalten ist. Von diesem Stein gibt es, wie wir oben gesehen haben, unendlich viele weitere Exemplare in gleicher Orientierung. Diese halte man im Auge, wende nun auf das Muster so viele Inflationen an, wie man zuvor Deflationen anwenden musste, und verfolge das Schicksal dieser ausgewählten Steine. Sie werden sämtlich zu Mustern, die den ursprünglichen Ausschnitt enthalten. Also kommt dieser Ausschnitt in unendlich vielen Ausfertigungen vor.
Repetitivität: Wiederholung ohne Periode
Unser unendliches Muster hat also eine seltsame und scheinbar paradoxe Eigenschaft: Es ist repetitiv auf allen Skalen – einerlei wie groß diese sind –, kann sich aber nicht periodisch wiederholen! Das sieht man wiederum mit einem Deflationsargument: Angenommen, es gäbe einen – möglicherweise sehr großen – Ausschnitt des Musters, der sich periodisch wiederholt. Dann mache man diesen durch Deflation so lange kleiner, bis er in einen einzigen Stein passt. Damit hätte man ein Muster gewonnen, in dem viele Exemplare ein und desselben Steins periodisch unmittelbar aneinander liegen. Das aber ist unmöglich; das verbieten bereits die Anlegeregeln. Also kann das Muster nicht periodisch sein.
Aus dieser Tatsache folgt eine weitere verblüffende Eigenschaft: Steht man irgendwo auf dem Parkett und betrachtet seine Umgebung, so kann man nicht wissen, wo auf dem Parkett man sich gerade befindet. Man kann auch aus der Betrachtung eines endlichen Stücks Parkett nicht entnehmen, wie es fortzusetzen ist, sodass sich das unendliche Parkett ergibt. Nehmen wir an, es gäbe eine solche eindeutige Fortsetzungsvorschrift. Denkbar wäre ja, dass man unter Beachtung der Anlegeregeln und vielleicht weiterer Vorschriften einfach Steine zu dem bisherigen Stück hinzufügt. Aber dann würden zwei Leute, die an verschiedenen Stellen des Parketts auf gleichen Ausschnitten stehen, diese in gleicher Weise ergänzen. Also würde das Parkett durch Translation von dem einen Ausschnitt auf den anderen in sich übergehen. Dann aber wäre es periodisch, was nicht sein kann.
Andererseits gilt: Wenn ein unendliches Parkett – aus Penrose-Rauten oder aus Ammann-Beenker-Steinen – an jeder Stelle die Anlegeregeln erfüllt, dann ist es bereits ein perfektes Parkett. Das bedeutet zwar nicht, dass es ein Fixpunkt der doppelten Inflation wäre; aber es ist einem solchen zum Verwechseln ähnlich, präzise ausgedrückt: durch Betrachten eines (beliebig großen) endlichen Ausschnitts nicht von ihm unterscheidbar.
Wieso kann man dann nicht durch vorschriftsmäßiges Anlegen aus einem endlichen Muster eines gewinnen, das die ganze Ebene bedeckt? Weil man bei dieser Anlegeoperation stecken bleiben kann. Es gibt dann unter Umständen keine Möglichkeit, noch überhaupt einen Stein vorschriftsmäßig anzulegen. Um diesen Sackgassen zu entgehen, muss man jedoch das gesamte Parkett kennen, und dazu reicht lokale Information nicht aus.
Noch eine Dimension weniger: Parkette auf einer Linie
In Anbetracht dieser Schwierigkeiten hält man Ausschau nach anderen Methoden, große fehlerfreie Parkettausschnitte zu konstruieren. Zum besseren Verständnis einer solchen Methode gehen wir nochmals eine Dimension abwärts und betrachten eindimensionale Parkettierungen. Deren "Steine" sind ziemlich langweilig – nichts weiter als Strecken verschiedener Länge, denn mehr gibt es in einer Dimension nicht. Dafür ist ihr Verhalten auch einfacher zu durchschauen.
Unsere zwei Ursteine haben die Längen 1 und a=1+. Wieder kann man eine Inflation definieren und erhält im Grenzwert unendlich vieler Inflationsschritte eine Parkettierung der gesamten Zahlengerade. Sie wird eindeutig durch die Koordinaten der linken Endpunkte aller Steine beschrieben. Diese bilden eine unendliche Menge A={?, -a -1, -a, 0, a, a+1, 2a +1, ?}.
Offensichtlich haben die Punkte von A alle die Form u+v mit ganzzahligen Koeffizienten u und v. Aber welche Werte von u und v kommen nun vor und welche nicht? Wenn man alle ganzzahligen u und v zuließe, wäre die Zahlenge-rade dicht mit Punkten besetzt.
An dieser Stelle hilft ein Trick aus der Schulmathematik, Übersicht zu gewinnen: Zusätzlich zu einem Wurzelausdruck betrachtet man denselben Ausdruck mit dem umgekehrten Vorzeichen vor der Wurzel. (Wenn so ein Wurzelausdruck im Nenner eines Bruches steht, erweitert man mit dem Ausdruck mit umgekehrtem Vorzeichen, wodurch der Nenner rational wird.) Nach diesem Rezept definieren wir zu jedem Punkt x=u+v den "konjugierten Punkt" x*=u-v. Außerdem entzerren wir das ganze Bild: Wir setzen unsere Punkte nicht auf die Gerade, wo es in der Tat sehr eng wird, sondern in die Ebene. Unsere ursprüngliche Gerade wird die x-Achse dieser Ebene. Anstelle des Punktes x der Geraden zeichnen wir den Punkt (x, x*) der Ebene.
Dadurch klärt sich das Bild: Alle Punkte der Form (u+v, u-v), wobei u, v ganze Zahlen sind, ergeben ein Gitter (einen zweidimensionalen mathematischen Kristall). Die Punkte, die den Punkten unserer Menge A entsprechen, liegen alle in einem horizontalen Streifen. Indem man die zweite Koordinate dieser Punkte weglässt, das heißt sie auf die horizontzale Achse projiziert, erhält man genau die Punkte unseres Parketts, also die Menge A.
Es ist nun sehr einfach, die linken Endpunkte der eindimensionalen Parkettsteine und damit das gesamte Parkett zu berechnen. Man erzeugt auf einem Computer systematisch Punkte der Form u+v (und zwar mit einem geschickten Verfahren nur solche, auf die es ankommt). Zu jedem dieser Punkte testet man, ob der konjugierte Punkt u-v im Streifen liegt. Wenn das der Fall ist, nimmt man diesen Punkt in die Liste der Parkettpunkte (die Computerversion der Menge A) auf. Durch genauere Analyse kann man bestimmen, ob er linker Randpunkt eines kurzen oder eines langen Steins ist.
Streifenprojektion
Diese Konstruktion liefert uns einen bemerkenswerten Zusammenhang zwischen einer algebraischen Berechnungsvorschrift für das Parkett und seiner Geometrie. Allgemein besteht das Verfahren darin, aus einem Gitter einen Streifen auszuschneiden (cut) und die in diesem Streifen liegenden Punkte zu projizieren (project). Die dadurch entstehende Punktmenge nennt man eine "Streifenprojektionsmenge" (cut and project set). Der Streifen wiederum besteht in unserem Beispiel aus allen Punkten, deren y-Koordinate in einem gewissen Intervall der y-Achse liegt (hellblau im Kasten oben). Dieser Teil der y-Achse (der im Allgemeinen nicht unbedingt ein Intervall sein muss) heißt "Fenster" der Projektionsmethode. Das Verfahren geht in der Physik auf Peter Kramer aus Tübingen zurück; in der Mathematik gibt es mehrere Vorläufer.
Aus der Konstruktion geht unmittelbar hervor, dass die Menge A aperiodisch sein muss. Nehmen wir an, sie wäre periodisch, es gäbe also eine Verschiebung t (nach links oder rechts), welche die Menge auf sich selbst abbildet. Dann müsste t von der Form r+s sein – schließlich besitzen alle Punkte von A diese Form. Jeder Punkt x der Menge A würde also in x+t übergehen; dieser Punkt müsste wieder in A enthalten sein, also läge (x+t)*=x*+t*=x*+r-s wieder im Fenster. Das gesamte Fenster müsste also beim Verschieben um r-s in sich übergehen! Das ist jedoch unmöglich, außer wenn r-s=0, also r=s ist. Nun ist irrational, s und r sind jedoch ganze Zahlen, deshalb ist die einzig mögliche Lösung r=s=0.
Kehren wir nach diesem Ausflug in die Welt der eindimensionalen Parkette wieder zu den zweidimensionalen zurück. Auch hier ist die Streifenprojektionsmethode anwendbar. Wir haben uns die Verhältnisse in einer Dimension übersichtlicher gemacht, indem wir die Gerade in die zweidimensionale Ebene eingebettet haben; die Struktur, in die man ein zweidimensionales Parkett einbettet, muss entsprechend höherdimensional sein. Man erhält die Eckpunkte des oktagonalen Parketts durch die Projektion bestimmter Punkte eines vierdimensionalen Gitters; das Fenster ist ein (zweidimensionales) Achteck.
Hier können wir die Verbindung zur Inflationsmethode herstellen. Die Inflation macht aus einem Ausschnitt des Parketts einen größeren, das heißt, die Eckpunkte werden zahlreicher und ihre Koordinaten größer. Die zu den Eckpunkten gehörigen konjugierten Punkte fallen alle, wie es sein muss, in das achteckige Fenster und füllen es mit jedem Schritt gleichmäßig immer dichter aus.
Nun ist ein vierdimensionales Gitter nicht gerade das, was man anschaulich nennen würde. Vom mathematischen Standpunkt ist es jedoch weit einfacher als das zweidimensionale Parkett, das man sehen kann. Die dahinter stehenden Konzepte sind sehr mächtig und stellen Verbindungen zwischen Geometrie, Algebra und Analysis her, die für das Verständnis der Quasikristalle von entscheidender Bedeutung sind.
Die Eckpunkte des Penrose-Parketts können ebenso mit der Streifenprojektionsmethode konstruiert werden, wie auch viele andere ähnliche Punktmengen. Dass diese aperiodisch sind, lässt sich auf dieselbe Weise zeigen wie bei unserem eindimensionalen Beispiel.
Eine weitere physikalisch interessante Parkettierung besteht aus Quadraten und gleichseitigen Dreiecken. Sie kann durch eine kompliziertere Inflationsregel oder ebenfalls mit der Streifenprojektionsmethode hergestellt werden. Das entsprechende Fenster zeigt eine neue Eigenschaft: Es ist eine kompakte Menge mit fraktalem Rand.
Die Beugungsmuster der Quasikristalle
Die Streifenprojektionsmethode erklärt auch, warum Quasikristalle punktförmige Beugungsreflexe aufweisen. Sie interpretiert nämlich einen (aperiodischen) Quasikristall als den "Schatten" eines höherdimensionalen periodischen Gebildes. Wenn man Licht durch dieses höherdimensionale Gitter schicken würde (was immer das heißen mag), bekäme man wie bei jedem Kristall punktförmige Beugungsbilder. Der zweidimensionale Schatten erbt gewissermaßen von seinem vierdimensionalen Urbild die Eigenschaft, punktstreuend zu sein.
Diese Erklärung ist zwar suggestiv, aber leider nur die halbe Wahrheit. Das Beugungsbild eines Schattens ist nämlich nicht dasselbe wie der Schatten des Beugungsbildes – diese allegorische Aussage lässt sich mathematisch exakt fassen –, und der Schatten vom Streifen eines periodischen Gitters ist im Allgemeinen nicht wieder periodisch. Die genaue Analyse des Sachverhalts erfordert erheblichen mathematischen Aufwand.
Am Ende stellt sich heraus: Das Beugungsbild unseres eindimensionalen Quasikristalls ist zwar punktförmig, aber die Punkte liegen nicht "diskret" wie im periodischen Fall: In jeder beliebig kleinen Umgebung eines Bildpunktes gibt es weitere Bildpunkte. Allerdings ist das Beugungsbild bei Betrachtung mit endlicher, wenn auch beliebig großer Sehschärfe nicht von einem diskreten zu unterscheiden.
Es verhält sich so wie bei der berühmten Frage des Astronomen und Arztes Heinrich Olbers (1758-1840): Wieso wird es nachts eigentlich dunkel? An welchen Punkt der Himmelskugel man auch blickt, in seiner unmittelbaren Nähe findet man mit einem hinreichend starken Fernrohr stets einen Stern. Wieso ist der Himmel dann nicht gleichmäßig erleuchtet? Die Antwort ist für Sterne und Beugungsreflexe dieselbe: Die leuchtstärkeren Objekte sind sehr selten und die Helligkeit der übrigen so gering, dass selbst die Summe der Helligkeiten unendlich vieler Objekte einen endlichen Wert ergibt; und der liegt obendrein meistens – bis auf die wenigen Punkte hoher Intensität – unterhalb der Wahrnehmbarkeitsschwelle.
Ein Parkett für die Logiker
In den angeführten Beispielen leistet die Streifenprojektionsmethode gute Dienste bis hin zu einer Erklärung der punktförmigen Beugungsmuster. Gleichwohl wirkt sie ein wenig wie Hexerei. Zwar haben wir inzwischen herausgefunden, warum wir ausgerechnet durch Umdrehen des Vorzeichens vor der Wurzel so weit kommen und unter welchen Umständen der Trick funktioniert. Aber wir wissen noch nicht, ob es vielleicht aperiodische, repetitive, rein punktstreuende Punktmengen gibt, die nicht mit der Streifenprojektionsmethode gewonnen werden können – auch nicht mit einer Verallgemeinerung. Wir wissen jedoch: Es müssen nicht unbedingt irrationale Zahlen wie vorkommen. Ein sehr interessantes und früh entdecktes Beispiel dafür ist die Robinson-Parkettierung.
Die Ersten, die sie intensiv studierten, waren nicht die Geometer oder die Kristallographen, sondern bemerkenswerterweise die Logiker. Sie wollten klären, unter welchen Umständen ein formales Verfahren (ein Algorithmus) eine Frage über unendliche Mengen in endlicher Zeit beantworten kann. Als Beispiel wählten sie die folgende Frage: Gegeben seien endlich viele Ursteine. Kann man mit Steinen aus diesem Sortiment die Ebene lückenlos und überlappungsfrei bedecken – eben parkettieren?
Hao Wang und sein Student Robert Berger haben 1966 bewiesen, dass es einen Algorithmus, der diese Frage entscheidet, nicht geben kann. Kernstück dieser Unentscheidbarkeitsaussage sind Ursteine, die eine periodische Parkettierung nicht zulassen; daraufhin suchten die Forscher intensiv nach dem kleinstmöglichen Ursteinsortiment mit dieser Eigenschaft. Bislang ist die kleinste bekannte Anzahl 2; sie wird zum Beispiel von den dekorierten Penrose-Rauten realisiert. Ob es einen einzigen Urstein gibt, der eine aperiodische Parkettierung der Ebene erzwingt, ist unbekannt.
Raphael Robinson bewies 1971 eine Aussage folgender Art: Wenn es einen Algorithmus gäbe, der die Frage der Parkettierbarkeit entscheidet, dann könnte man ihn zu einem Programm umfunktionieren, welches das berühmte "Halteproblem" entscheidet: Wird eine Turing-Maschine je anhalten, wenn sie einen gegebenen Input bearbeitet (Spektrum der Wissenschaft 2/1995, S. 10)? Da bekannt ist, dass es ein solches Programm nicht geben kann, hatte Robinson damit die Unentscheidbarkeit des Parkettierungsproblems bewiesen.
In diesem Zusammenhang dachte er sich eine einfache Kollektion aus 6 quadratischen Ursteinen aus, die eine aperiodische Parkettierung erzwingen. Eigentlich sind es 28 Ursteine, wenn man alle gedrehten und gespiegelten Versionen mitzählt.
Versehen wir nun die Mitte jedes Steins mit einem farbigen Punkt entsprechend der Steinsorte, so erhalten wir 6 (oder 28) Familien von Punkten, die Un-termengen des Quadratgitters sind. Diese Punktmengen sind sogar Streifenprojektionsmengen, aber nun ist der "höherdimensionale" Raum viel exotischer: Er besteht aus dem Produkt einer euklidischen Ebene und eines arithmetisch-topologischen Raums, der auf den so genannten 2-adischen Zahlen basiert. Dennoch lässt sich beweisen, dass jede dieser Punktmengen rein punktstreuend ist! Die Methoden sind im Prinzip dieselben wie im eindimensionalen Beispiel.
Weiterhin offen bleibt jedoch die schwierige Frage, wie man Streifenprojektionsmengen allgemein charakterisieren kann, ob man also erkennen kann, ob es eine solche Projektion gibt, ohne dass sie explizit vorliegt.
Quasikristalle mit Baufehlern
Die bisher vorgestellten Konstruktionen für Quasikristalle sind alle sehr deterministisch: Ein übergeordnetes Prinzip, sei es Inflation oder die Projektion aus dem Streifen, weist jedem Stein oder eben jedem Atom seinen eindeutigen Platz zu.
Offensichtlich kann ein echter Quasikristall auf diese Weise nicht entstehen. Ein Atom, das sich an einen wachsenden Quasikristall anlagert, findet sicher keinen Platzanweiser vor, sondern allenfalls lokale Kräfte, die wie Anlegeregeln (oder auch weniger einschränkend) wirken. Die allein aber können, wie wir oben gesehen haben, nicht verhindern, dass der Aufbau der Struktur in eine Sackgasse gerät. Ein realer Quasikristall muss solche Baufehler entweder ausbessern können oder sie tolerieren, was seine Eigenschaft, rein punktstreuend zu sein, nur mäßig beeinträchtigen darf.
Zusätzlich zu den strengen Konstruktionsprinzipien muss es also Möglichkeiten geben, dass ein realer Quasikristall seine Struktur an einzelnen Stellen verändert. Für die Ammann-Beenker-Parkettierung gibt es eine solche Möglichkeit: den "Flip". In einem Sechseck aus einem Quadrat und zwei Rauten kann das mittlere Atom seine Position verändern, ohne dass der Rest des Parketts gestört wird: . Viele Flips können aufeinander folgen.
Damit betrachten wir anstelle eines einzigen Quasikristalls ein ganzes Ensemble von Strukturen, die von dem nach strengen Prinzipien erzeugten Quasikristall mehr oder weniger stark abweichen. Da die Anzahl der möglichen Abweichungen mit der Größe der Struktur exponentiell anwächst, ist eine Betrachtungsweise aus der statistischen Mechanik angebracht.
Für die Ammann-Beenker-Parkettierung ergibt sich dabei Erstaunliches. Man betrachte die große Klasse aller Parkettierungen der Ebene mit Quadraten und 45-Grad-Rauten, bei denen immer genau eine Kante an genau einer Kante liegt, das so genannte uneingeschränkte Quadrat-Raute-Zufallsparkettierungs-Ensemble. Indem man den En-tropiebegriff aus der statistischen Mechanik auf dieses rein kombinatorisch definierte Ensemble überträgt, kann man zeigen: Die Parkettierungen mit der höchsten Entropie, und das heißt die erdrückende Mehrheit der Parkettierungen des Ensembles, haben genau dasselbe Verhältnis von Quadraten zu Rauten wie das perfekte Ammann-Beenker-Parkett und zeigen achtzählige, also maximale, Symmetrie.
Letzteres ist allerdings im statistischen Sinne zu interpretieren: Jeder überhaupt vorkommende Ausschnitt tritt mit derselben Häufigkeit in allen acht Orientierungen auf. Diese statistische Symmetrie ist weit weniger als die klassisch-strenge Symmetrie. Aber sie reicht aus, um im Beugungsbild eine exakte achtzählige Symmetrie zu erzeugen.
Für die realen Quasikristalle bedeutet das: Möglicherweise entstehen sie nicht dadurch, dass geheimnisvolle Kräfte alle Atome an den richtigen Platz setzen, sondern weil unter den astronomisch vielen Anordnungen, die den Atomen zur Auswahl stehen, die quasikristallin-symmetrische die wahrscheinlichste ist – statistisch gesehen. Indizien aus jüngster Zeit sprechen vielfach für diese Interpretation, die Veit Elser von der Cornell-Universität in Ithaca (New York) 1985 erstmals vorgeschlagen hat.
Was ist aperiodische Ordnung?
Das Faszinierende an der hier betrachteten Ordnung ist ihre enge Verwandtschaft zur periodischen Ordnung, ohne dass sie selbst periodisch wäre.
Zur Zeit haben wir ein einigermaßen gutes qualitatives und zum Teil quantitatives Verständnis von aperiodischer Ordnung; einiges davon haben wir in diesem Artikel vorgestellt. Von einer vollständigen und abschließenden Theorie sind wir jedoch noch weit entfernt.
Es gibt ein ganzes Universum an interessanten Fragestellungen. Viele überraschende Ergebnisse werden zu Tage kommen und Querverbindungen zwischen scheinbar völlig verschiedenen Disziplinen herstellen.
Literaturhinweise
Directions in Mathematical Quasicrystals. Von M. Baake und R. V. Moody (Hg.). AMS, Providence (Rhode Island) 2000.
Tilings and Patterns. Von B. Grünbaum und G. C. Shephard. W. H. Freeman, New York 1987.
Metallic phase with long-range orientational order and no translational symmetry. Von D. Shechtman, I. Blech, D. Gratias und J. W. Cahn in: Physical Review Letters, Bd. 53, S. 1951, 1984.
Beugungsbilder von Kristallen
Der Effekt ist ähnlich der Beugung von Lichtstrahlen am Gitter. Wenn parallele Lichtstrahlen auf ein großes Beugungsgitter treffen, das heißt eine Platte, die sehr viele schmale, parallel und in gleichem Abstand angeordnete transparente Spalte enthält und im Übrigen lichtundurchlässig ist, dann darf man nach dem Huygens?schen Prinzip jeden Spalt als Quelle einer (zylindrischen) Lichtwelle auffassen. Diese Wellen interferieren konstruktiv nur in gewissen Richtungen und löschen sich an-sonsten aus. Die hellen Streifen (Beugungsmaxima) auf dem Schirm liegen ebenfalls in gleichen Abständen, und zwar um so weiter auseinander, je dichter die Gitterspalte liegen.
Ein unregelmäßiges Gitter würde dagegen nur ein verwaschenes oder gar kein erkennbares Beugungsmuster ergeben. Jeder Punkt des Beugungsmusters gibt also Auskunft über den gesamten ausgeleuchteten Bereichs des Objekts (in diesem Fall des Gitters), und zwar über den Grad der Ordnung in dessen Struktur.
Beleuchtet man nun einen Kristall mit Röntgenstrahlen, so spielen die Atome des Kristalls die Rolle der Gitterspalte. Sie sind zwar in drei Dimensionen periodisch angeordnet statt nur in einer, und die physikalischen Prozesse sind weitaus verwickelter. Gleichwohl gilt: Eine periodische Atomanordnung (sprich ein herkömmlicher Kristall) ergibt ein Beugungsmuster aus lauter Punkten; diese bilden das so genannte duale Gitter zum Kristallgitter.
Aus dem dualen Gitter lässt sich rechnerisch das ursprüngliche Kristallgitter rekonstruieren. Max von Laue (1879-1960), der diesen Effekt 1912 entdeckte und zwei Jahre später dafür den Nobelpreis erhielt, schuf damit eine der wichtigsten Untersuchungsmethoden der Kristallographie.
Insbesondere gibt das Beugungsbild Auskunft darüber, ob der Kristall außer seinen drei Translationssymmetrien über weitere Symmetrien verfügt, zum Beispiel, ob die Anordnung seiner Atome bei einer Rotation um eine bestimmte Achse mit einem bestimmten Winkel wieder in sich übergeht (Bild auf der Briefmarke). Je nach dem Vorhandensein solcher weiterer Symmetrien kann man 230 verschiedene Symmetrieklassen (die so genannten Raumgruppen) unterscheiden. Nach dieser mathematischen Erkenntnis vergingen allerdings noch fast hundert Jahre bis zu dem Nachweis, dass sämtliche Raumgruppen in Kristallen realisiert sind.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 2002, Seite 64
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