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Tagebuch: Der lange Weg durch den Sumpf

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Ich habe zurzeit eine intensive Begegnung mit einer Zielgruppe besonderer Art. Es handelt sich um Leute, die mit einer gewissen Regelmäßigkeit dem Irrtum unterliegen, "Spektrum" sei zu schwer für sie. Was sollen dann erst gewöhnliche Akademiker denken?

Immerhin sind meine Gesprächspartner hochbegabte Schülerinnen und Schüler, die ein Jahr vor dem Abitur stehen. Jede Schule darf ihren Jahrgangsbesten benennen, der sich dann um die Teilnahme an einer Schülerakademie bewerben darf. Eine solche Akademie, deren jeden Sommer mehrere stattfinden, versammelt sechs Kurse, in denen jeweils 16 Leute ein Thema bearbeiten, das ungute Assoziationen an den (langweiligen) Schulunterricht gar nicht erst aufkommen lassen soll. Hier in Hilden gibt es außer der Mathematik, die von mir und meiner Kodozentin Almut Pöppe vertreten wird, Physik, Chemie, Informatik, Poesie und Philosophie (Homepage der Schülerakademie; siehe auch Spektrum der Wissenschaft 2/2006, S. 78).

Falsche Vorzeichen hüpfen herum wie die Flöhe

Normalerweise flirrt es auf einer solchen Akademie vor Aktivität: Spontane Ideen finden Gleichgesinnte – anders als an der Heimatschule –, man kann auf einmal mit seinesgleichen über die schwierigsten Dinge diskutieren, bis in die Nacht an den wissenschaftlichsten Fragen arbeiten ...

Und was machen wir Mathematiker? Wir stecken im Sumpf. Wunderschöne Sterne leuchten am Ende unseres Weges (zu finden in dem Buch "Indra's Pearls" oder auch hier), und wir versuchen die Mathematik hinter den eindrucksvollen Bildern richtig nachzuvollziehen. Vor diesem hehren Ziel liegen nur ein paar nette kleine theoretische Konzepte – Symmetrien, Gruppen, komplexe Zahlen, nichts wirklich Hochgestochenes –; aber um sie zu verstehen, muss man sie wenigstens einmal angewandt haben.

Und schon stecken wir auf unserem Weg zu den Sternen mitten im Morast. Da wollen ein paar Klammern ausmultipliziert werden, die widerwärtigen Additionstheoreme für Winkelfunktionen machen sich unentbehrlich, falsche Vorzeichen hüpfen herum wie die Flöhe und sind kaum zu bändigen, man macht sich die Finger dreckig an irgendwelchen Termen, die sich nicht wegheben wollen, fällt unversehens in das Loch einer Division durch null, kommt vom Weg ab, und wenn man endlich raushat, was rauskommen soll, bleibt die bange Frage: "Wieso haben wir jetzt bewiesen, dass das eine Gruppe ist?!"

Es geht nicht anders. Die Schönheit der Mathematik will erarbeitet werden. Eigentlich weiß ich das (da war doch was mit den ungelösten Übungszetteln im Studium ...). Bleibt zu hoffen, dass die Durststrecke nicht zu lange dauert.

Zwischen Zeckenzicken und Zöckenböcken

Noch sind wir in der Kennenlernphase. Vorgestern Abend haben die Kursleiter sich den Teilnehmern etwas ausführlicher vorgestellt: Schade, dass man sich nicht gleichzeitig in einen der anderen Kurse setzen kann. Mit den Philosophen könnte ich mich stundenlang auseinandersetzen. Die Chemiker bieten demnächst jeden Abend das "Gute-Nacht-Experiment" an. So eine kleine Explosion ist doch genau das Richtige zum Schlafengehen.

Und die Poeten erst! Unser Dozent mit dem Künstlernamen Alex Dreppec hat uns zur Vorstellung eine Kostprobe seiner Kunst gegeben. Schreiben Sie erstmal ein Gedicht, dessen Wörter sämtlich mit L anfangen (und das auch noch so köstlich unanständig ist). Dieses Werk können Sie unter www.dreppec.de nachlesen, ebenso, wie die zuckend zackigen Zeckenzicken die Zöckenböcke zwacken. Aber die Lektüre gibt nur einen müden Abklatsch von dem leibhaftigen Auftritt.

Christoph Pöppe

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