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Alles graue Theorie?
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Einführung
Die Theorie - für manch einen ein rotes Tuch, weil er damit die eigene Schulzeit, jahrelanges Lernen
und praxisferne Spielereien verbindet, die ein Buch mit sieben Siegeln geblieben sind. Der andere
mag damit ein Konzept verbinden, das ihm weitergeholfen hat: die Theorie liefert Erklärungen
und Verständnis eines Sachverhaltes. Manchmal kann sie eine tiefere Sicht der Dinge freigeben oder
eine völlig neue Sicht auf scheinbar Vertrautes offenbaren.
Als Begriffspaar tritt die Theorie mit der Praxis auf. Theorie und Praxis stehen in dem gleichen Gegensatz
zueinander, wie die Begriffspaare denken und handeln oder abstrakt und konkret.
Aber im selben Maße bedingen sie sich auch gegenseitig. Wer handelt, bevor er denkt, handelt ziellos.
Diese Symbiose von Theorie und Experiment hat beide Teile in einem steten Fluss weiterentwickelt, und den
Kenner beflügelt weiterzudenken und weiter zu beobachten.
Die Etymologie lehrt, dass der Begriff Theorie bereits sehr alt und dem Griechischen entlehnt ist:
théa bezeichnet "das Anschauen", horáein meint "sehen". Dabei ist die
Verwandtschaft zum griechischen Wort für "Gott", théos, kein Zufall. Er ist derjenige, der
unablässig auf die Menschheit herabschaut. Das Adjektiv theoretikós beschreibt eine innere
Geisteshaltung, etwas gedanklich zu erfassen. Heute manifestiert sich diese Haltung beim Theoretiker.
Ein häufiges Bonmot ist die graue Theorie, entlehnt aus dem Zitat in Goethes Faust (Szene im
Studierzimmer) "Grau, teurer Freund, ist alle Theorie und grün des Lebens goldner Baum.". Dieser
Satz bezieht sich in dieser Situation darauf, dass die Beschäftigung mit Theorien Zeitverschwendung sei,
nur das Leben sei wertvoll. So erklärt sich der Unmut des Protagonisten Faust. Der Ausspruch nutzt geschickt
die Psychologie der Farben und belegt die Theorie als grau, während das Leben als grün betitelt wird. Damit
stellt Goethe implizit eine Verbindung der Theorie zum Tod her.
Sicherlich ist die Theorie weit davon entfernt, nichts mit dem Leben zu tun zu haben: in Gestalt biologischer
und evolutionärer Theorien (Darwinismus) versucht sie gerade, das Leben zu beschreiben und zu erklären.
Was bezweckte Goethe also mit dieser Aussage? Verfolgen wir diese Frage nicht viel weiter und verharren ein wenig
in der Aporie, die sich hier bietet - Tod, im Sinne von Nicht-in-Kontakt-Sein mit der Praxis, der konkreten
Durchführung eines Akts ist sicherlich eine Attribution, die sich die Theorie gefallen lassen muss. In diesem
Sinne ist sie tot, abstrakt, statisch. Diese "Weltferne" hat sie dem alltäglichen Trubel entrückt und in den
Elfenbeintürmen der Forscher verschwinden lassen.
Apropos Elfenbeintürme. Das hört man zumindest oft, dass Forscher in ihren
"Elfenbeintürmen" säßen und weltfremd seien, aber was meint man denn damit? Eigentlich meint man
alltagsfremd: "Der gemeine Forscher grübelt viel; das, was das Volk treibt, ist ein Spiel.", könnte
man satirisch formulieren. Denn eine andere Sichtweise - die des Forschers - kann sein, dass das Volk mit
"Brot und Spielen" beschäftigt ist, ständig in Konsumbereitschaft: im Kino, beim Fußball, beim Fahren mit dem
neuen Auto, das immer noch keine drei Liter Spritverbrauch hat, beim Telefonieren mit dem Handy, das Fotos
knipsen kann. "Braucht kein Schwein, aber ich kaufe es mir trotzdem.". Das ist es, was dem Volk so
wichtig ist: Spiel, Spaß und Unterhaltung - aber bitte nicht nachdenken, das deprimiert mich so und
außerdem strengt es an.
Und was macht der Forscher? Er grübelt. Konsum ist ihm eine Last, es lenkt nur von der geistigen Arbeit
ab; nur Kaffee (bitte intravenös), vielleicht einen Keks, mehr braucht der geistige Motor nicht, um zu
laufen. Und wenn die Kiste einmal stottert, ist es eben nur ein weiterer typischer Manierismus des
"verrückten Professors". Der Forscher - natürlich bebrillt, auch wenn Brillen im Zeitalter der
Wegwerfkontaktlinsen und Laseroperationen hoffnungslos anachronistisch sind - denkt über die Welt nach,
was sie im Innersten zusammenhält, was sie sich drehen lässt, woher man zukunftsfähige Energieressourcen
(Politikerrhetorik) bekommen kann, wie sich die Bevölkerungsexplosion (ob mit oder ohne demographischen
Faktor) aufhalten lässt. Und er findet Antworten! Antworten über die Welt - Forscher sind nicht
weltfremd, ganz im Gegenteil!
Genug der Satire. Der Aufbau dieses Essays wird folgendermaßen strukturiert sein: In der Einführung
wurde angedeutet, was eine Theorie ist, danach wird ihre Zielsetzung diskutiert und darauf eingegangen,
wie Theorien in der Wissenschaftstheorie beschrieben werden und wer Theorien erstellt.
Der Zugang zur Theorie an sich soll ganz allgemein gehalten werden und an naturwissenschaftlichen Theorien
(im Speziellen der Physik aufgrund meiner persönlichen Affinität) illustriert werden. Danach geht es um
die Gewinnung, Entwicklung und Anpassung, vielleicht sogar der Verwerfung von Theorien. Dies leitet über
zu den Gefahren, die Theorien bieten und schließt ab mit den Grenzen von Theorien und Verständnis.
Was will die Theorie?
Die Theorie hat einen anderen Anspruch, als praxisnah zu sein: sie möchte nicht bewegen, sondern
Bewegtes in Form eines gedanklichen, in sich schlüssigen Gerüstes erklären. Dabei bedient sie sich
wohl definierten und nicht beliebigen Gesetzmäßigkeiten, die im besten Fall auf wenigen Axiomen
beruhen (deduktive Theorie, dazu später). Dieses minimalistische Prinzip der Theorie - von
Wenigem ausgehen, um Vieles zu erklären - ist eines ihrer Kennzeichen.
Das Erklären-Wollen setzt jedoch einen Schritt voraus: das Beobachten. Diese Beobachtung ist im Kern
dafür verantwortlich, dass die Theorie Theorie heißt, wie der etymologische Ausflug oben belegt.
Zunächst muss ein Sachverhalt mit den Sinnen wahrgenommen oder - naturwissenschaftlich gesprochen - detektiert
worden sein, bevor man sich über dessen Ursache Gedanken macht. Der Mensch hat es geschafft, nach Ausnutzung
seiner (beschränkten) Sinne die Detektorpalette sukzessiv zu erweitern. So kennen wir in der Physik Detektoren
wie die CCDs (Charged Coupled Device), die im Prinzip das gesamte elektromagnetische Spektrum erfassen
können, während das menschliche Auge nur den schmalen Ausschnitt von rot bis violett wahrnehmen kann. Jede moderne
Digitalkamera enthält einen CCD-Chip, der das Licht, das die vorgeschaltete Optik auf ihn leitet, in elektrische
Ströme umwandelt. CCDs findet man heutzutage in vielen astronomischen Detektoren, ob sie nun Infrarot-, optische,
Röntgen- oder Gammastrahlung messen.
Daneben kennt die experimentelle Teilchenphysik Detektoren, die bestimmte Teilchen wie Protonen, Elektronen oder
Neutrinos messen können, eine Fähigkeit, die in der Tierwelt einzigartig ist, wenn wir den Mensch zu den Tieren
zählen wollen. Der Begriff des Detektors kann hier durchaus allgemeiner gesehen
werden, als nur auf die Naturwissenschaften beschränkt. In den Geisteswissenschaften und anderen
nicht-naturwissenschaftlichen Disziplinen müssen auch Phänomene zunächst erkannt, also wahrgenommen werden,
zum Beispiel eine demographische Entwicklung in der Soziologie oder ein Abwärtstrend des Aktienindex in der
Ökonomie. Erst dann kann eine theoretische Auseinandersetzung folgen.
Der Mensch hätte natürlich das Hinterfragen seiner dinglichen Umgebung gar nicht erst anfangen müssen.
Die Neugier, das Verstehen-Wollen, aber setzten ihn unter Zugzwang: es drängte ihn, ein Abbild der
Wirklichkeit zu erschaffen und mithilfe der Sprache, die selbst ein abstrahiertes Abbild der Realität ist,
einen gedanklichen Rahmen zu schaffen. Dabei kann die Sprache durchaus mathematisch sein, wie in den
Naturwissenschaften. Das hat den Vorteil, dass die Sprache die nötige Exaktheit erhält, die sie in
vielen Theorien braucht. Daneben hat sie den unbestreitbaren Vorteil der Universalität, eine Errungenschaft,
die bei den "normalen Sprachen" versagt geblieben ist. Weltweit kann jeder, der Kenntnisse der Mathematik
besitzt, sofort mit anderen "mathematisch kommunizieren": nämlich eine mathematische Problemstellung mithilfe
wohl definierter Regeln lösen und das Ergebnis mitteilen. Da bedarf es eigentlich nicht einmal der "normalen
Sprache". Die Mathematik kann daher als konsequente Weiterentwicklung der lingualen Sprachen gesehen werden.
Mit dem Abbild der Realität ist ein besonders wichtiger Begriff verbunden, wenn man von Theorien spricht:
das Modell. Das Modell ist gerade ein abgebildeter Ausschnitt der Wirklichkeit, allerdings mit
fixierten Spielregeln. Die Theorie kann gewissermaßen als Nebenwelt, koexistent mit "der Welt" angesehen
werden. Das Konzept der "Gedanken nach Regeln" legt den intelligiblen Charakter von Theorien fest: Theorien
werden gedacht. Es ist von außerordentlicher Wichtigkeit, dass man nicht der Versuchung erliegt, das Modell
bzw. die Theorie mit der Wirklichkeit zu verwechseln! Das Modell hat nur abbildenden Charakter und ist keine
Ersatzwirklichkeit. Dieser Verwechslung unterliegen auch manche Physiker. Die Natur ist mehr als ein
komplexes, mathematisches Konstrukt.
Fassen wir kurz zusammen: Theorien wollen unter Zugrundelegung bekannter oder a priori fixierter Axiome und
gefundener Gesetze einen beobachteten Sachverhalt erklären.
Theoriebegriff in der Wissenschaftstheorie
Es klingt fast wie eine Tautologie, aber es gibt eine Theorie, die sich mit
Theorien beschäftigt, die Wissenschaftstheorie. In gewisser Weise kann dieser Essay als
wissenschaftstheoretischer Exkurs bezeichnet werden. Die Wissenschaftstheorie sieht in der Theorie ein
Gefüge von Aussagen mit Form und Inhalt. Sie fasst eine Reihe wissenschaftlicher Ergebnisse in
übersichtlicher und kompakter Form zusammen.
Im Allgemeinen unterscheidet man empirische Theorien und deduktive Theorien. Empirische Theorien
sind gewissermaßen induktiv, weil einzelne Beobachtungsergebnisse verallgemeinert werden und zu einem
Geflecht aus verifizierten Gesetzeshypothesen führen. Im Reduktionismus fordert man, dass sich alle
Elemente einer empirischen Theorie auf Beobachtbares zurückführen lassen. Das legt gerade ihr Attribut
empirisch nahe. Die Erfahrung mit Theorien lehrt jedoch, dass es gerade nicht möglich ist, alle Elemente
einer Theorie per Beobachtung nachzuweisen. Der Gehalt, das heißt die zentralen Aussagen einer Theorie, die in
der Terminologie der Wissenschaftstheorie Prinzipien heißen, pflanzen sich von Beobachtungsergebnissen
über Gesetze fort und können schlussendlich in einer empirischen Theorie, die viele Gesetzeshypothesen verifiziert
hat, konstatiert werden.
In deduktiven Theorien hingegen geht man von Axiomen aus. Axiome sind "erste Sätze", die nicht weiter
bewiesen werden können. Welche Axiome herangezogen werden, entscheidet die Zweckmäßigkeit. Viele Axiome bilden
dann ein Axiomatisches System, dessen zentrale Eigenschaft die Widerspruchsfreiheit ist. In der Mathematik
kennt man eine Reihe solcher Axiomatischer Systeme, das bekannteste und historisch erste ist sicherlich die
Euklidische Geometrie. Als im 19. Jahrhundert Nicht-Euklidische Geometrien entdeckt wurden, für die
das "Parallelenaxiom" (Euklids 5. Axiom) nicht gilt, wurde ein damit äquivalentes Axiomatisches System bekannt.
Damit verloren die Axiome ihren absoluten Wahrheitsanspruch und wurden zu Zweckmäßigkeitsregeln.
In der Physik kennt man die Newtonschen Axiome, die auf die klassische Gravitationstheorie führten.
Die Relativitätstheorie besitzt hingegen neue Axiome, wie das Äquivalenzprinzip. Das Bohrsche Atommodell geht
ebenfalls von (an sich "unphysikalischen") Axiomen aus, nämlich dass Elektronen einen Atomkern strahlungslos
umlaufen. Dies verwundert deshalb, weil seit der klassischen Elektrodynamik Maxwells bekannt war, dass
beschleunigte Ladungen elektromagnetische Strahlung emittieren und durch diesen Energieverlust immer langsamer
werden sollten, also immer kleinere Umlaufbahnen um den Atomkern beschreiben und schließlich in ihn
hineinstürzen sollten. Trotzdem war das Bohrsche Atommodell zur Beschreibung bestimmter Sachverhalte erfolgreich.
Die Mathematik hat sich Euklids axiomatischen Zugang bis heute bewahrt: Die übliche Struktur mathematischer Theorien
folgt den Begriffen Axiom, Definition, Satz (Theorem), Beweis.
Die Wissenschaftstheorie unterscheidet weiterhin wahre Theorien und erfolgreiche Theorien.
Während eine wahre Theorie einen Absolutheitsanspruch hat und singulär - das heißt einzigartig - ist, kann es
durchaus mehrere Theorien geben, die einen Sachverhalt mehr oder weniger erfolgreich beschreiben. In diesem
Sinne können Theorien inkommensurabel sein, also zwar ein und denselben Sachverhalt, aber mit nicht
vergleichbaren, "nicht deckungsgleichen" Mitteln beschreiben. So sind Relativitätstheorie und Newtonsche Theorie
inkommensurabel, weil sie zwar dieselben Begriffe (Zeit, Masse, Energie etc.) benutzen, diese aber mit
unterschiedlichen Bedeutungen in der jeweiligen Theorie gefüllt sind. Ebenso verhält es sich mit der klassischen
Mechanik und der Quantenmechanik, wo beispielsweise die Begriffe Teilchen, Welle und Bahn mit unterschiedlichen
Interpretationen versehen sind.
Einer der bekannteste Wissenschaftstheoretiker ist sicherlich Sir Karl Raimund Popper (1902 - 1994). Er
sah keine Unabhängigkeit zwischen Beobachtung und Theorie in dem Sinne, dass Beobachtungsaussagen immer
theoriebedingt seien. Gesetzesaussagen gelten zunächst nur hypothetisch (Gesetzeshypothesen) und
müssen sich bewähren. Diese Bewährung bestehe jedoch darin, dass sie sich nicht widerlegen, nicht falsifizieren,
ließen. Eine sukzessive Annäherung an die Wahrheit, dem zentralen Gehalt einer Theorie, könne man nur durch die
Beseitigung widerlegter, also falsifizierter, Aussagen leisten. Die Methode ähnelt einer Sequenz von
Trial and Error, also Versuch und Irrtum, die nach und nach eine seriöse Theorie frei legen.
Pseudo-Theorien bzw. pseudowissenschaftliche Systeme seinen dagegen nicht falsifizierbar, sondern dogmatisch
oder metaphysisch. Sie haben einen Absolutheitsanspruch, weil sie weder kritisiert, noch falsifiziert werden können.
Wer macht Theorien?
"Theoretiker sind praktisch Menschen, die in der Praxis theoretisch aufgeschmissen sind."
Andreas Müller (chiastische Paronomasie)
Theorien macht eigentlich jeder, auch wenn er es vielleicht anders bezeichnen würde. Wir alle haben eine
globale Vorstellung von dem entwickelt, was uns umgibt, wie alles ineinander greift. In dieser gedanklichen
Vorstellungswelt sind wir auch analytisch tätig und zerlegen die Welt in Teilbereiche, in Disziplinen,
denen wir einen Zuständigkeitsbereich zuerkennen. Ein synthetisches Denken, kommt dabei oft zu kurz. Die
gewonnenen Einsichten in den Disziplinen stehen nicht nur allein, sie sollen auch puzzleartig zusammengefügt
werden, um eine globale Perspektive zu erhalten. Interdisziplinäres Denken und Handeln sind hier die
Schlagworte, die zu Synergieeffekten führen, wie es gerne in der Wirtschaft betitelt wird.
Manchmal lenkt vielleicht mehr die Intuition, als fundiertes, disziplinäres Wissen das, was wir als unser
Weltbild bezeichnen. Das ist im Zuge der breiten Diversifikation des Wissens auch nicht anders denkbar.
Die Zeit der Universalgenies ist deshalb vorbei, weil das Wissen in jeder einzelnen Disziplin bereits so tief
ist, das kaum jemand im Stande ist, alles zu verstehen oder alles abrufbar zu haben. Ein treffender Vergleich
findet sich in der Musik: Ein Virtuose beherrscht in der Regel nur ein Instrument, das spielt er aber so
exzellent wie kaum ein anderer. Der Multi-Instrumentalist spielt viele Instrumente, aber er beherrscht sie
nicht virtuos. Die Ursache besteht darin, dass es einfach eine gewisse Zeit kostet die Spieltechniken zu
erlernen, dann ist ständiges Üben erforderlich, damit nichts verlernt wird. Das mit vielen Instrumenten
leisten zu können ist nahezu unmöglich. Ebenso verhält es sich mit Wissenschaftlern, die sich ein breites
Spektrum an wissenschaftlichen Techniken und Methoden aneignen müssen und diese durch häufiges Anwenden
üben müssen, um sie nicht zu vergessen.
Das Internet ist sicherlich keine zufällige Entwicklung, sondern eine logische Konsequenz von Wissenszunahme,
Wissenstransport und Wissensabrufbarkeit. Es erleichtert den Zugang und die Verbreitung von Wissen enorm.
Der Theoretiker ist nun derjenige, der professionell bestehende Theorien verarbeitet und neue Theorien
erarbeitet. Der internationale Austausch hat sich in den letzten Jahrzehnten drastisch verbessert und die
"Theorienflut" beschleunigt. Der Theoretiker hat - wie etymologisch ausgeführt - die nötige Geisteshaltung sich
theoretisches Wissen anzueignen. Dabei sei betont, dass das nicht automatisch Praxisferne zu bedeuten hat,
im Gegenteil: Ein guter Theoretiker ist auch damit vertraut, wie die Sachverhalte wahrgenommen bzw. detektiert
werden. Umgekehrt sollte ein guter Experimentator mit theoretischen Konzepten vertraut sein. Die wissenschaftliche
Praxis zeigt leider auch, dass beide Gruppen bisweilen "unterschiedliche Sprachen sprechen". In Konferenzen
und Tagungen versucht man solchen Tendenzen entgegen zu wirken.
Es hat sich als erfolgreiche Strategie erwiesen, die Wissenschaftler - gerade in den Naturwissenschaften,
jedoch nicht in den Geisteswissenschaften - in Theoretiker und Experimentatoren einzuteilen. Während die
Experimentatoren die Phänomene in der Natur beobachten, versuchen die Theoretiker dafür eine wissenschaftlich
fundierte Erklärung zu liefern. In der Astrophysik nennt man die beiden Teilgruppen insbesondere Theoretiker
und Beobachter, weil die Experimentatoren der Astrophysik mit Teleskopen den Himmel beobachten. Es ist ein
erstaunlicher Zufall, wie nahe der Begriff Beobachter am ursprünglich griechischen Begriff
Theorie ist!
Der theoretische Physiker ist Simplizist. Er vereinfacht ein physikalisches Problem so weit, bis es
lösbar ist. Dann werden allmählich kompliziertere Effekte hinzugenommen. Diese Analytische Strategie
in Form der Problemzerlegung und Problemverharmlosung ist ungeheuer erfolgreich und hat riesige Vorteile:
man macht sich das Leben zunächst einfach und bekommt Effekte, die - in bestem Falle, nicht immer - in
erster Ordnung erklärbar sind. Höhere Komplexität des Problems führen zu neuen Effekten usw.
Der Nachteil dieser Herangehensweise ist, dass - bei aller Ehrlichkeit - nur ein schmaler Bereich der
Natur eigentlich zugänglich und streng genommen verstanden ist. Bei einer kritischen Komplexität werden
physikalische Fragestellungen sehr unübersichtlich und die Kunst besteht darin, relevante Effekte von
irrelevanten unterscheiden zu können. Eine wesentliche Ausnahme bilden die nichtlinearen Prozesse, gemeinhin
als Chaos bezeichnet. Hier sorgt die nichtlineare Struktur der mathematischen Gleichungen dafür, dass kleine
Unsicherheiten in den Anfangsbedingungen, große Auswirkungen auf das physikalische Resultat haben
(Beispielsysteme: Pendel, Wetter). Die "Chaostheorie" wurde geboren, die auch hier brauchbare Analysemethoden
des nichtlinearen Problems an die Hand gibt.
Wesentliche physikalische Theorien
Ich möchte mich hier auf Theorien einer bestimmten Naturwissenschaft, der Physik, beschränken, weil ich hier
involviert bin. Sie mögen als Beispiele dienen, um eine konkrete Umsetzung für erfolgreiche Theorien zu
betrachten und deren Rückwirkung auf die Forscher, die Öffentlichkeit und die Menschheit einschätzen zu können.
In der Physik gibt es bestimmt viele wichtige Theorien, in den letzten dreißig Jahren viele Entwicklungen, die
erwähnenswert sind. Im Hinblick auf Brisanz und Radikalität des neuen, daraus entstandenen Weltbildes gibt es
jedoch nur zwei Theorien im vergangenen Jahrhundert: die Relativitätstheorie und die Quantentheorie.
Ich werde mich natürlich nicht in weitschweifigen Gleichungen verirren und Sie mit Formeln langweilen, aber
ich möchte kurz skizzieren, was das radikal Neue an diesen Theorien war.
Relativitätstheorie und Quantentheorie wurden fast zeitgleich entwickelt, ein in erster Näherung
abgeschlossenes Konzept war früher bei der Relativitätstheorie erreicht. Natürlich werden beide Theorien bis
heute weiterentwickelt und die modernen Physiker laben sich immer noch an den Früchten der Relativitätstheorie.
Die Relativitätstheorie wird bekanntlich in zwei Teile gegliedert: in Spezielle und Allgemeine Relativitätstheorie.
Die Spezielle Relativitätstheorie ist eine Theorie der gegeneinander gleichförmig bewegten Bezugssysteme. Diese
Betrachtungen münden in eine Relativität von Zeit und Länge, einem Verlust des Gleichzeitigkeitsbegriffs und
einer maximalen Signalgeschwindigkeit, der Lichtgeschwindigkeit, die darüber hinaus in allen Bezugssystemen
den gleichen konstanten Wert hat. Die Spezielle Relativitätstheorie veröffentlichte Albert Einstein 1905. Ihre
Verallgemeinerung kostete Einstein weitere zehn Jahre. Erst 1915 publizierte er die Allgemeine Relativitätstheorie.
Die relativen Bewegungszustände der Bezugssysteme werden hier noch allgemeiner gefasst, auch Beschleunigungen
sind möglich. Weil fallende Körper im Gravitationsfeld beschleunigt werden, mündete die Allgemeine Relativitätstheorie
in eine Theorie der Gravitation und löste damit die klassische Gravitationstheorie von Sir Isaac Newton ab, die im 17.
Jahrhundert begründet wurde. Die Resultate der Allgemeinen Relativitätstheorie sind eine Gleichbehandlung von Raum- und
Zeitdimension, die in der Raumzeit zusammengefasst werden. Im Allgemeinen ist diese Raumzeit kein starres, flaches
Gebilde, sondern gekrümmt und unterliegt auch zeitlichen Veränderungen, die von Gravitationswellen vermittelt werden.
Die Krümmungen in der Raumzeit werden von Energieformen hervorgerufen, auch die Materie ist eine mögliche
Energieform, neben Strahlung und anderen Feldern. Die Raumzeit ist die Bühne für diese Energien. Diese komplizierte
Wechselbeziehung von Raumzeit und Energie gipfelt in einem System von nichtlinearen Differentialgleichungen: den
Einsteinschen Feldgleichungen. Die uns ungebende, topologisch einfach strukturierte Raumzeit (Minkowski-Metrik),
rotierende, magnetisierte Neutronensterne, aber auch Schwarze Löcher (Schwarzschild- und Kerr-Metrik) und
ganze Universen (Friedmann-Robertson-Walker- und de Sitter-Räume) sind Lösungen dieser Feldgleichungen.
Die Folgen dieser neuen, relativistischen Erkenntnisse sind bahnbrechend: der Zeitbegriff wurde neu definiert.
Von der Absoluten Zeit gemäß Aristoteles und Newton musste man sich verabschieden, den das Verrinnen
der Zeit wird vom Bewegungszustand und von Gravitationsfeldern beeinflusst. Das Universum der relativistischen
Kosmologie entpuppt sich als relativ einfaches Objekt, dessen Entwicklung von wenigen Parametern (Energieinhalt,
Dunkle Energie) bestimmt wird. Raum und Zeit stellten sich als verwandte Dimensionen heraus, die in komplexer
Weise miteinander verquickt sind und ein relativ starres Trägermedium von Wellen sein können.
Diese Erkenntnisse waren subversiv und sind auch heute erstaunlich, doch in vielen Beobachtungen bestätigen
sich die relativistischen Theorien.
Die Quantentheorie hat in vergleichbarer Form die Fesseln des klassischen, physikalischen Denkens gesprengt.
An dieser Theorie waren weit mehr Physiker und Mathematiker beteiligt, als an der Relativitätstheorie. Von
einer anfänglichen Erweiterung der Mechanik, der Quantenmechanik, entwickelte sich die Quantentheorie zu
einem Konzept, dass als Quantenfeldtheorie alle Bereiche der Mikrophysik revolutioniert hat. Die vier
fundamentalen Kräfte in der Natur - elektromagnetische, schwache, starke und gravitative Wechselwirkung -
versuchen insbesondere Teilchenphysiker im allgemeinen Formalismus der Quantenfeldtheorie zu beschreiben.
Die Gravitation verwehrt sich bisher einer erfolgreichen Quantenbeschreibung.
Was sind nun Quanten? Quanten bezeichnen in der Physik diskrete Größen. Es stellt sich heraus, dass viele
physikalische Eigenschaften quantisiert sind: die Energie, elektromagnetische Felder, der Spin, die elektrische
Ladung etc. Oft sind damit Teilchen assoziiert, die Quanten, wie die Elektronen, Photonen, Magnonen, Fluxonen.
Die fundamentale Skala wird dabei von einer Größe diktiert, der Planck-Konstante oder auch Plancksches
Wirkungsquantum genannt. Weil diese Konstante sehr klein ist, vergleicht man sie mit typisch makroskopischen
Skalen, treten Quanteneffekte erst bei mikroskopischen Skalen auf, typisch im atomaren und subatomaren Bereich.
In der Quantentheorie findet man fundamentale Probleme in der Detektion physikalischer Prozesse. Detektion
heißt, dass Informationsträger (Teilchen), von zu beobachtenden Objekten mit der Messapparatur ausgetauscht
werden müssen. Im atomaren und subatomaren Bereich sind die Energien jedoch so klein, dass diese Wechselwirkung
im Messprozess das zu untersuchende Objekt beeinflusst. Als Konsequenz wird das Ergebnis verfälscht, der
Messprozess ist ein manipulativer Vorgang. Als Gesetz formuliert man diesen Sachverhalt als Heisenbergsche
Unschärferelation: man kann nie gleichzeitig beliebig scharf Ort und Geschwindigkeit eines Teilchens messen.
Doch die Quantentheorie birgt noch weitere, unanschauliche Phänomene, die das an den Alltag gewöhnte
Vorstellungsvermögen auf die Probe stellen. So gibt es den Welle-Teilchen-Dualismus, eine ambivalente Eigenschaft
des Quants, das sich in dem einen Experiment als Welle, in dem anderen als korpuskulares Teilchen beschreiben lässt.
Es lässt sich vor der Durchführung des Experiments nicht sagen, als welche dieser dualen Formen sich das Quant
manifestieren wird. Das führt auf den Begriff der Wellenfunktion, eine räumliche und zeitliche Verteilung, die
komplexwertig sein kann und deren Absolutquadrat mit der Aufenthaltswahrscheinlichkeit des mit der Wellenfunktion beschriebenen
Teilchens assoziiert ist. Die Wellenfunktion ist die Lösung einer Differentialgleichung, die eine ähnliche
Bedeutung für die Quantentheorie hat, wie die Einsteinschen Feldgleichungen für die Relativitätstheorie, der
Schrödinger-Gleichung.
Die Wahrscheinlichkeitsinterpretation hat das moderne, naturwissenschaftliche Weltbild nachhaltig erschüttert.
Damit war ein Abschied von der klassisch fixierten Teilchenbahn verbunden, denn Quanten sind um eine
idealisierte Sollbahn "verschmiert". Die Elektronen, die als wohl definierte, kugelige Teilchen im Bohrschen
Atommodell um den Atomkern kreisen, werden im Orbital-Modell durch elektronische Wellenfunktionen ersetzt,
die um den Atomkern verteilt sind.
Erst die Wellenfunktion macht den klassisch völlig unverständlichen Tunneleffekt verstehbar. Die
Wahrscheinlichkeitsinterpretation ermöglicht es Quanten auch dort mit endlicher Wahrscheinlichkeit angetroffen
werden zu können, wo klassisch kein Teilchen wäre. Deshalb ist der radioaktive Alphazerfall überhaupt möglich,
weil Heliumatomkerne (Alphateilchen) aus dem Atomkern des Radionuklids durch den klassisch unüberwindbaren
Coulomb-Wall tunneln. Aus diesem Grund gelang der Bau von Elektronenmikroskopen, weil getunnelte Elektronen
aus der Oberfläche eines Materials durch eine spitze Anode abgesaugt werden können und damit eine Visualisierung
von Materialoberflächen im atomaren Bereich möglich wird.
Diese großen, physikalischen Theorien des 20. Jahrhunderts haben das physikalische Weltbild umgestürzt. Die
Erkenntnisse mündeten in innovative Technologien, die die Gesellschaft entscheidend geprägt haben bzw. prägen
und so ökonomischen, politischen und soziologischen Einfluss hatten bzw. haben. Ein neues naturwissenschaftliches
Weltbild bewirkt immer ein neues Gesellschaftsbild.
Die damit sich ergebende Verantwortung der Wissenschaftler liegt auf der Hand. Der Wissenschaftler
muss sich über die Mächtigkeit von Theorien, eben auch im nicht-wissenschaftlichen Bereich, im Klaren sein.
Der schweizerische Dramatiker Friedrich Dürrenmatt konkretisierte dies in seinem Werk "Die
Physiker" (1962), das zur Zeit des Kalten Krieges die Bedrohung durch Kernwaffen problematisierte und
verantwortliches Handeln der Naturwissenschaftler proklamierte.
Ein letzter Aspekt ist die Abgeschlossenheit von Theorien. Wann spricht man eigentlich von einer Theorie,
wann nur von einem Theorem oder Gesetz? Die Geschichte zeigt, dass häufig erst a posteriori der Theoriebegriff
geprägt wird, weil erst dann die Voraussetzungen und die Grenzen einer Theorie geklärt sind. Oft verschmelzen
Theorien, wenn zusätzliches Wissen eine globalere Sichtweise offenbart. So ist es bei den fünf Stringtheorien
geschehen, die man in der M-Theorie synthetisierte. Von der Relativitätstheorie - einer Theorie klassischer,
unquantisierter, aber starker Gravitationsfelder - und der Quantentheorie - einer quantisierten Theorie
verschwindender oder schwacher, unquantisierter Gravitationsfelder - erwartet man eine Verschmelzung in Form
einer Quantengravitation. Diese Theorie muss Allgemeine Relativitätstheorie und Quantentheorie im Limes enthalten,
also in Korrespondenz in den Grenzfällen ableitbar sein. Dies leistet bereits die Allgemeine Relativitätstheorie,
die die klassische Newtonsche Gravitationstheorie im Limes enthält.
Es sei darauf hingewiesen, dass alte Theorien, die abgelöst werden nicht notwendigerweise falsch sind. Die
wenigsten Theorien erweisen sich mit dem Aufkommen neuer Theorien als falsch. Nur die Modelle sind restriktiver
und der Anwendungsbereich alter Theorien entsprechend kleiner.
So versagt die Newtonsche Theorie, wenn man in den Bereich hoher Geschwindigkeiten oder starker Gravitationsfelder
kommt, weil sie - mathematisch gesprochen - nur Galilei-invariant, aber nicht Lorentz-invariant ist. Es wäre trotzdem
unangebracht, Newtons Theorie als falsch zu betiteln. Ein Physiker würde nie auf die Idee kommen, in der makroskopischen
Welt beispielsweise bei einem schwingenden Fadenpendel, die relativistischen Gleichungen zu verwenden. Sicher
sollten sie die richtigen Lösungen liefern, doch würde man sich die Problemlösung unnötig erschweren, weil die
relativistischen Gleichungen komplizierter sind. Hier ist das Regime der Newtonschen Gesetze völlig ausreichend.
Analog verhält es sich mit allen Theorien. Sie sind ein Modell mit gewissem Gültigkeitsbereich, den der
Wissenschaftler kennen sollte. Stehen mehrere Theorien koexistent zur Verfügung (z.B. inkommensurable Theorien),
so entscheidet das Regime und die Praktikabilität darüber, für welche sich der Theoretiker entscheidet.
Dies gilt insbesondere in den Naturwissenschaften, ähnlich ist es bei den Geisteswissenschaften. In der
Philosophie spricht man beispielsweise von Schulen (Sokrateische, Stoische, Pythagoreische Schule etc.), deren
Ideologien zueinander in Widerspruch stehen oder koexistieren können.
Anmerkung:
Aus Übersichtlichkeitsgründen habe ich auf detaillierte Erklärungen physikalischer Begriffe verzichtet
und eine globale Kenntnis vorausgesetzt. In meinem Online-Lexikon können viele
Begriffe nachgeschlagen werden, die ein tieferes Verständnis von Relativitätstheorie, Quantentheorie und
Kosmologie ermöglichen.
Verifizierbarkeit und Falsifizierbarkeit
"Ohne Theorie ist die Praxis gedankenlos, ohne Praxis ist die Theorie leblos."
Andreas Müller (Chiasmus)
Die wissenschaftstheoretische Behandlung zeigte bereits den wesentlichen
Zusammenhang zwischen Theorie und Beobachtung (Experiment). Man kann soweit gehen zu sagen, dass diese
beiden Aspekte eine Symbiose eingehen: beide bedingen sich gegenseitig, stützen sich und befruchten sich,
so dass am Ende eine Theorie steht, die eine "tiefere Wahrheit" als zuvor enthüllt.
Als Beispiel mögen wieder Newtonsche Gravitationstheorie und Relativitätstheorie in der Physik dienen, die für
sich genommen eine Wahrheit bieten und die Natur in geeigneten Limites richtig beschreiben. Am
Begriff der Zeit erkennt man jedoch, wie sich eine tiefere Erkenntnis in der
Relativitätstheorie offenbart.
Popper hat darauf hingewiesen, unter welchen Umständen eine Theorie falsifizierbar ist und hat sie
dadurch streng von unseriösen Pseudo-Theorien unterschieden. Pseudo-Theorien sind dogmatisch oder metaphysisch
und verwehren sich falsifizierbarer Aussagen. Dadurch kann man sie leicht entlarven.
Durch Poppers Zugang ergibt sich also eine Gewichtung zwischen den beiden Methoden Verifikation und
Falsifikation. Die Falsifikation ist schwerwiegender, weil sie entscheidende Gesetzeshypothesen einer (noch
unvollständigen) Theorie entfernt. Die Verifikation stützt zwar die Hypothese, "schmälert" aber nicht die
Theorie zu einem Konstrukt mit Inhalt und kompakter Form.
Die Falsifizierbarkeit ist eine faire Methode: So steht prinzipiell jedem - Wissenschaftlern
wie Laien - offen, Theorien zu erarbeiten, die sich entsprechend bewähren müssen. Es nur in der Regel so, dass der
Wissenschaftler des jeweiligen Faches zunächst Kenner (Fachidiot oder Koryphäe) seines Gebietes ist und viele
bereits erfolgreiche Strategien und Theorien kennt. Zudem beherrscht er die Fachsprache nach jahrelanger
Ausbildung, was ihm gegenüber dem Laien entscheidende Vorteile bringt, neue Theorien zu erfinden und zu
etablieren.
Wie erfolgreich die Verfolgung von Verifikation und Falsifikation bzw. Trial and Error ist, zeigt die
Vergangenheit. Gerade die Physik dient als Musterbeispiel, wie die Theorie neue Experimente (die elektroschwache
Theorie in der Teilchenphysik prognostizierte exakt die Massen der schwachen Eichbosonen) und umgekehrt
Experimente in neue Theorien mündeten (Michelson-Morley-Experiment mit negativem Nachweis des Weltäthers
führte zur Speziellen Relativitätstheorie).
Die schlechte Nachricht ist, dass Verifizierbarkeit und Falsifizierbarkeit ihre experimentellen Grenzen haben.
In der Kosmologie müsste man streng genommen, den Urknall unter kontrollierten Bedingungen im Labor ablaufen
lassen, um die Theorie vom Urknall testen zu können. Natürlich ist das nicht möglich.
Im Prinzip könnte man "theoretisieren" und inkommensurable Theorien aufstellen, ohne zu wissen, welche wahr
(abschwächend gesagt: erfolgreich) ist. Die Hoffnung besteht darin, immer sekundäre Gesetzeshypothesen finden
zu können, die man testen kann. So wäre im Fall des Urknall-Modells und der Großen Vereinheitlichten Theorien
(GUT) zu testen, ob der Zerfall des freien Protons wirklich stattfindet. Denn dies sagen die GUT voraus.
Eine ähnliche Problematik findet sich aktuell in den Stringtheorien. Sie sind ein Beispiel dafür,
wie viel theoretische Aspekte zu einer Theorie publiziert werden können. Aber Anzeichen für experimentelle Verifikation
oder Falsifikation fehlen fast völlig, obwohl viele experimentelle Versuche unternommen wurden. So kann man
immer noch nicht von Evidenz für das Branenwelt-Szenario sprechen oder die exakte Anzahl von Extradimensionen
angeben (dies ist in der Theorie ein freier Parameter). Aber vielleicht bieten in Kürze die modernsten
Teilchenbeschleuniger eine Möglichkeit, die Stringtheorien auf eine harte Probe zu stellen: falls dort eine
Laborphysik Schwarzer Löcher gelänge, sollten sich nicht nur Signaturen für
Hawking-Strahlung, sondern auch für die Extradimensionen studieren lassen.
Was haben uns Theorien gebracht?
Es ist vermutlich nicht vorstellbar, wo die Menschheit heute stünde, hätte sie keine Theorien entwickelt.
Der Technokrat würde zunächst die technologischen Verdienste der wissenschaftlichen Theorien aufzählen. Die
Errungenschaften sind vielfältig, fast unzählbar:
Vom Rad über den Sextanten, von der Buchdruckkunst bis zur Kaffeemaschine, von der medizinischen Diagnostik
und Therapeutik bis zur Raumfahrt (Mondlandung 1969), von der Entschlüsselung des Genoms in der
Molekularbiologie bis zum Verständnis des Universums in der Kosmologie - all das ist ohne Theorien nicht
denkbar. Alles, was den Menschen heute auszeichnet, was er konstruieren konnte, was er gedanklich fassen kann
- alles ist Theorie.
Man kann sogar noch weiter gehen und die Religionen als "theologische Theorien" begreifen. Damit ist der Wert
von Theorien unbestreitbar. Theorien sind mächtig: sie liefern nicht nur Verständnis, sondern können
eingesetzt bzw. umgesetzt und weiterentwickelt werden. Der Stand der Theorien ist kein Stillstand, sondern
eine unaufhörliche Weiterentwicklung des Wissens. Dies mündet in neue Theorien, neue Sichtweisen,
neue Technologien und neue Ideologien.
Die Menschheitsgeschichte ist voll von Beispielen: In welchen Einheiten würden wir heute die Zeit messen,
wenn die Babylonier nicht das Sexagesimalsystem begründet hätten? Welche Bauwerke stünden in Ägypten, wenn die
ägyptischen Vorfahren nicht architektonische Kenntnisse gehabt hätten? Welche Sternzeichen würden den
Himmel zieren, wenn die Griechen keine Sagengestalten gehabt hätten? Wie sähen die Prunkstätten der
Maya-Kultur ohne astronomisches Wissen aus? Welche Stellung hätten freies Denken und der Freiheitsbegriff
überhaupt ohne Aufklärung und Französische Revolution? Welche Weltordnung hätten wir ohne Kalten Krieg und
der abschreckenden Wirkung von Nuklearwaffen?
Die ersten Kulturen der Menschheitsgeschichte hatten sicherlich keine geschlossenen Theorien, heute würde
man eher von Wissensfragmenten reden, die kulturell und rituell eingebunden wurden. Aber nichtsdestotrotz
waren es Kenntnisse, die eine moderne Zivilisation begründet und deren Entfaltung ermöglicht haben.
Theorien tun das bis heute.
Welche Gefahren bergen Theorien?
Aber Theorien haben nicht nur Vorteile, wie einige politische Beispiele im letzten Abschnitt andeuten.
Theorien wurden auch immer von Machthabern instrumentalisiert, um die eigene Macht zu erhalten und
zu vergrößern. Schon die Maya-Kultur hatte naturwissenschaftliches Wissen mit religiösen Anschauungen
verquickt. Die Priesterastronomen der Maya verstanden es geschickt, ihr astronomisches Wissen auszunutzen,
um Unwissende an ihren Glauben und an sich zu binden. Im Zeitalter der Kolonialisierung wurden
"unterentwickelte" Völkergruppen von mächtigeren Zivilisationen unterjocht und ausgebeutet. Theorien wurden
ausgetauscht, aufgezwungen oder gar ideologisiert, um einen langfristigen Machterhalt zu garantieren. Mit
subtileren Mitteln wird diese Form der Manipulation heute sicherlich fortgesetzt. Das ist eine Form der
Gefahr von Theorien.
Eine gänzlich andere Form der Gefahr ist die Unübersichtlichkeit. Diversifikation des Wissens und
einhergehende "Disziplinarisierung" haben auch eine Fragmentation des Wissens als Folge. Der Orthopäde
wird kein Herz transplantieren, der Psychologe wird keinen Kernspintomographen bedienen, der Hausarzt wird
keinen Zahn ziehen. Doch alle Fachgebiete versammeln sich unter dem Oberbegriff Medizin. In anderen
Wissenschaften ist die Tendenz analog. Ein Ende der Diversifizierung scheint nicht absehbar. Im schlimmsten
Fall geht diese Entwicklung weiter und wir werden uns die pejorative Betitelung als "Fachidiot" oder
ameliorativ als "Koryphäe" gefallen lassen müssen.
Es besteht aber auch die nicht prognostizierbare Chance, dass sich im besten Fall viele Theorien auf wenige
oder sogar eine reduzieren lassen. In der Physik gibt es dafür zahlreiche Beispiele:
- Elektrizität und Magnetismus können in der klassischen Elektrodynamik vereinigt werden.
- Quantenelektrodynamik, schwache Wechselwirkung, Quantenchromodynamik können einheitlich als
Quantenfeldtheorien formuliert werden.
- Die fünf bekannten Stringtheorien münden höchstwahrscheinlich in eine einzige übergeordnete Theorie,
der M-Theorie.
Ein Nebeneffekt der Disziplinarisierung ist die Flut neuer Theorien bzw. auch die Publikationsflut. Selbst
der Fachmann hat es nicht leicht, in seiner schon sehr beschränkten Fachrichtung ständig auf dem Laufenden
zu sein. Jeden Monat gibt es hunderte neue Papiere zu nur einem Thema und die Tendenz ist steigend. Der
Austausch ist daher zwingend, Teilnahme an Konferenzen und Tagungen Voraussetzung im alltäglichen
Wissenschaftsbetrieb. Nur so bleibt der Forscher an der Spitze der aktuellen Entwicklung. Eine Auszeit
von zwei Jahren bedeutet schon das Aus und ist schwer wettzumachen.
Sie mögen mir die Ich-Erzählweise im Folgenden nachsehen, aber es geht um eine Thematik, die mir persönlich
besonders am Herzen liegt:
Eine letzte Form der Gefahr, deren Entwicklung ich mit Argwohn beobachte, ist die Scharlatanerie,
also die Ausnutzung etablierter Theorien oder der Aufbau von Scheintheorien oder Pseudo-Theorien,
um unseriös theoretische Konzepte für eigene Belange auszunutzen. Dafür kann es unterschiedliche Motive geben:
von Machterhalt bis Geltungssucht, von Neid über Neurose bis Technophobie, von Geldknappheit bis Geldgier.
Die letzte Motivation ist weit verbreitet.
Auf den ersten Blick scheint alles bestens: wissenschaftliches oder wissenschaftlich klingendes Vokabular,
Auftauchen vertrauter Theorien und Gesetze. Doch bei genauerem Hinschauen bzw. Lesen offenbart sich Ernüchterung:
exklusives Verwenden banaler Sprache/Mathematik, unzulässige Schlussweisen, unbewiesene Aussagen, Überschreitungen
des Gültigkeitsbereiches bestehender Gesetzmäßigkeiten, schlimmstenfalls blankes Unverständnis wissenschaftlicher
Konzepte, "unwissenschaftliche" Begrifflichkeiten bis zu unsinnigen, neuen Wortschöpfungen. Die Krux ist, dass in der
Regel nur der Fachmann diese Unzulänglichkeiten entlarven kann, der Laie bleibt im Glauben, er lese einen
seriösen, wissenschaftlichen Artikel. Was ist zu tun, damit der Informationssuchende nicht zwischen Wissenschaft
und Mystik stecken bleibt?
Es ist die Pflicht der Theoretiker unseriöse Theorien zu entlarven, dem Laien (und das ist jeder
auf irgendeinem Gebiet!) das Rüstzeug an die Hand zu geben, seriöse von unseriösen Theorien zu unterscheiden,
kurz gesagt Öffentlichkeitsarbeit und Aufklärung zu leisten. Die Pflicht der Laien besteht
darin, immer kritisch zu sein, nachzufragen, gründlich zu recherchieren oder seriöse Informationsquellen
zu nutzen, die sich bewährt haben.
Ein Stück weit können Sie diesen Essay als Pamphlet auffassen, dessen Intention es ist,
- aufzuklären, was Theorien sind und wozu sie verwendet werden;
- sensibel zu werden für das, was als Theorie verkauft wird;
- kritikfähig zu sein, um seriöse von unseriöser oder seltsam anmutender Theorie unterscheiden zu können.
Meine unmittelbare Motivation für diesen Essay ergab sich, als ich abermals hier im Internet von einer
physikalischen Theorie las, die "alles erklären" wollte, natürlich besser als alles, was zuvor unzählige
Physikergenerationen in jahrhundertelanger Arbeit aufgebaut haben. Oftmals sind beim ersten, spätestens beim
zweiten Blick, diese so genannten "Theorien" nicht das Papier wert, auf dem sie geschrieben sein könnten (sind
sie daher nur elektronisch verfügbar?). Erschwerend kommt hinzu, dass diese so genannten Theoretiker häufig nicht
einmal Physiker sind, also nicht mit physikalischen Methoden, bestehenden physikalischen Theorien und
Gesetzmäßigkeiten vertraut sind. Ich möchte natürlich nicht den Eindruck erwecken, dass nur exklusiv
Physiker die Befähigung und das Recht haben, neue physikalische Theorien aufzustellen; aber die Diskussion
über diversifiziertes Wissen zeigte bereits, dass es einen erheblichen Zeitaufwand (auch für den Physiker!)
erfordert überhaupt mit bestehenden Konzepten vertraut zu werden, bevor man neue lancieren kann. Es ist daher
unwahrscheinlich, nicht ausgeschlossen, dass fachfremde Theoretiker bahnbrechende neue Theorien entdecken.
Es gibt ein paar Hinweise, die den aufmerksamen Leser stutzig machen sollten. Hüten Sie sich vor
Schlagzeilen wie "Die Relativitätstheorie ist falsch!", "Einstein irrte!" oder
"Quanten- und Stringtheorien sind Humbug!". Das sind reißerische Überschriften, die laienhafte Leser
anlocken sollen, aber untragbar sind. Solche Äußerungen an sich sind eine Unverschämtheit und zeugen nicht
nur von mangelndem Sachverstand, sondern sogar absoluter Unkenntnis, die man nicht einmal mit
zweiundvierzigjähriger Abwesenheit von diesem Planeten entschuldigen könnte.
Die Relativitätstheorie ist über jeden Zweifel erhaben. Albert Einsteins Theorie hat sich in vielen Experimenten
glänzend bestätigt und ist aus dem Weltbild und der Forschung der modernen Physik nicht mehr wegzudenken. Sogar
die Satelliten navigieren mit einer Technologie, die so präzise ist, dass allgemein relativistische Effekte
einkalkuliert werden müssen.
Zur Quantentheorie, Quantenfeldtheorie, Quantenkosmologie und den Stringtheorien, die in der M-Theorie vereinigt
scheinen, kann man sicherlich unterschiedlicher Auffassung sein, weil sie - verglichen mit der
Relativitätstheorie - weniger konsistent, vielleicht sogar unästhetisch, erscheinen mögen. Aber es sind
seriöse Theorien, die moderne Physiker als ernsthafte Antwort auf sehr komplizierte Fragen erachten. Die
Quantentheorie hat sich vielfach im Experiment bestätigt, auch wenn es schwer fällt, sich mit Begriffen wie
Unschärfe, Wahrscheinlichkeit, Dualität und Wellenfunktion anzufreunden. Einsteins ästhetisch motivierter
Widerwillen diesbezüglich ist legendär: "Gott würfelt nicht!". Das alles belegt nur, welchen Veränderungen
der menschliche Geist ausgesetzt ist, wenn er seine Umgebung adäquat erfassen und verstehen möchte.
Die Stringtheorien müssen sich bestimmt erst bewähren, aber sie sind ein ernstzunehmendes Konstrukt, um die
schwierigen Fragen der modernen Physik zu lösen. Vielleicht enthält sie den Schlüssel zu einer Quantengravitation.
Eine echte Alternative kann die Loop-Quantengravitation darstellen. Diese neuere Theorie schlägt eine andere
Richtung ein und basiert nur auf den Konzepten der Allgemeinen Relativitätstheorie und der Quantenmechanik. Die
Konzepte der Relativitätstheorie werden hier konsequent umgesetzt, was sie von den Quantenfeldtheorien und Stringtheorien
unterscheidet. Die Basis der Theorie sind Schleifen (engl. loop) bzw. in ihrer neueren Formulierung
Spin-Netzwerke. Das, was die Loop-Quantengravitation leistet, ist enorm und macht sie attraktiv: Aus ihr folgt
eine Körnung der Raumzeit. Die Raumzeit ist also nicht glatt wie in der Relativitätstheorie, sondern auf der
Längenskala von 10-33 Zentimetern quantisiert in Volumenquanten. Diese Quantisierung der Raumzeit muss sich
bemerkbar machen, wenn man Effekte auf dieser Skala studiert. Teilchenbeschleuniger sind weit davon entfernt in
diese winzigen Dimensionen vorzudringen, aber vielleicht bieten kosmische Objekte (Schwarze Löcher, Gamma Ray
Bursts) oder indirekte Konsequenzen der Theorie (nicht konstante Lichtgeschwindigkeit) die Möglichkeit, die Auswirkungen
der Loop-Quantengravitation zu verifizieren. Die aktuellen Entwicklungen auf diesem Gebiet sind sehr spannend.
Was bleiben sollte ist eine gesunde Mischung aus Aufgeschlossenheit und Toleranz für neue Theorien, plus
einem gesunden Kritikvermögen. "Nicht müde werden Fragen zu stellen", dass ist eine Maxime, die
für den Experten und für den Laien gelten und praktiziert werden muss. Diese Fragen müssen auf falsifizierbare
Aussagen führen, damit Theorie von Pseudo-Theorie separiert werden kann. Nur so ist wissenschaftlicher
Fortschritt denkbar. Denn auf der einen Seite steht die ständige Selbstkontrolle der Wissenschaft, die sie
nicht immun macht gegenüber Modifikation und Falsifikation. Wissenschaft pendelt zwischen Vorläufigkeit
und Bewährung. Wissenschaft ist fair. Auf der anderen Seite steht eine Öffentlichkeit, die das Recht hat, in
verständlicher Sprache zu erfahren, was erforscht wird, warum es erforscht wird und welche Forschungsergebnisse
vorliegen - nicht zuletzt deshalb das Recht hat, weil die Forschung in Deutschland vielfach aus Steuergeldern
und öffentlichen Mitteln finanziert wird.
Was ist vorstellbar?
Diese Frage kann nur so beantwortet werden: die Grenze ist die Imagination des menschlichen Geistes.
Es ist schon erstaunlich, wie weit ein theoretisches Verständnis der unmittelbaren, mittelbaren und fernen
Umgebung des Menschen gediehen ist. Das drastischste Beispiel ist wohl die Kosmologie: der Mensch hat eine
sehr subtil ausgearbeitete Vorstellung davon, woraus das Universum entstanden sein könnte, wie es sich über
Milliarden von Jahren entwickelte, wann und warum seine Heimatgalaxie, sein Zentralgestirn und sein Heimatplanet
entstanden und wie sich schlussendlich das irdische Leben entwickelte, bis zum heutigen Tag. Mehr noch: Der
Mensch kann sogar abschätzen, wie das Universum endet! Sicher, das Wissen um die komplette Kausalkette weist
Löcher auf, aber im Groben ist auf der Basis naturwissenschaftlicher Gesetze eine Theorie konstruierbar,
die faszinierend viele Aussagen macht und Erklärungen liefert. Die allem übergeordnete Theorie, die man
naturwissenschaftliches Weltbild nennen könnte, ist mächtig!
Man kann sich freilich fragen, wie dieses Wissen Einzug in den menschlichen Geist gehalten hat. Anders und
provokativ gefragt: Ist die Theorie nur eine abstrahierte und komplizierte Illusion? Wieder fällt mir der
Aphorismus des spanisch-jüdischen Schriftstellers Elias Canetti ein: "Ein niederschmetternder
Gedanke: dass es vielleicht überhaupt nichts zu wissen gibt; dass alles Falsche nur entsteht, weil man es
wissen will."
Der Ästhet mag einwenden: "Dazu passt alles zu schön!" Und es fällt schwer sich vorzustellen, dass es dem
menschlichen Geist gelang, immer einen Haken zu schlagen, wenn ein "experimentelles Problem" auftauchte.
Der Platonist wird einwenden, dass nur er bzw. der Philosoph befähigt ist, die Wahrheit zu schauen. Dies leitet
sich vom Höhlengleichnis Platons ab, wo die Schatten der Idee des Guten an der Höhlenwand abgebildet werden.
Sind unsere erfolgreichen, wissenschaftlichen Theorien nur "Schatten einer Theorie des Guten"? - Wir wissen es
nicht.
Wenn nun der menschliche Geist die natürliche Grenze des Vorstellbaren ist, wie kann dieses möglicherweise unendliche
oder wenigstens sehr vielfältige Wissen in einem Gehirn endlicher Masse Platz finden? Könnte man Theorien wiegen,
wüssten wir wann definitiv Schluss ist. Aber es scheint, dass die Natur oder der Mensch auch hier einen Trick auf
Lager hat: Prinzipen wiederholen sich, Strategien finden sich immer wieder in ganz unterschiedlichen Disziplinen.
Eine erfolgreiche Theorie kann somit auf (scheinbar) verschiedene Phänomene in der Natur angewendet werden.
Möglicherweise findet sich alles (zumindest in der Physik) in einer einzigen Theorie oder einer einzigen
Gleichung wieder: der Theorie von Allem (engl. Theory Of Everything, TOE) oder der
Weltformel. Es darf bestritten werden, dass eine solche Weltformel einen praktikablen Wert hätte, denn
in Praxi ist zu erwarten, dass sie in die mannigfaltigen "Untertheorien" und Gesetze herunterbricht, die wir bereits
kennen (oder zu kennen glauben). Den Terminus "Herunterbrechen" können Sie übrigens zu den spontanen
Symmetriebrechungen in der Teilchenphysik in Bezug setzen. Diese Phänomene, die immer mit skalaren Higgs-Feldern
assoziiert sind, treten bei der Aufspaltung von einer in zwei, drei und schließlich vier Naturkräften infolge
Abkühlung (oder äquivalent Expansion des Universums) auf. Die Symmetrie einer einzigen Naturkraft stellt man
sich auf Energieskalen des Urknalls vor (Planck-Skala). Die Gleichungen, die sich bei restaurierter Symmetrie
ergeben (die man jedoch in Ermangelung einer Quantengravitation noch nicht kennt), sind ein heftig favorisierter
Kandidat für die Weltformel.
Die Reduktion auf wenige (Natur-)Prinzipien hat sich bewahrheitet, zumindest in der Physik. Hier
fand man durch Unifikation neue Theorien. In der Theorie der Wechselwirkungen, wie man mit guter Berechtigung
die Quantenfeldtheorien nennen dürfte, ist es gelungen die fundamentalen Naturkräfte sukzessiv zu vereinigen -
bis auf die Gravitation. Wie bei der Diskussion der Stringtheorien angemerkt, sträubt sich die schwächste aller Kräfte
nach wie vor erfolgreich vor einer Vereinigung in Form einer Vereinheitlichten Theorie (engl. Unified Theory,
UT) oder Quantengravitation. Aber die Physiker lassen sich nicht entmutigen.
Einen Aspekt haben wir in dieser ratiophilen Diskussion über Wissenschaften, Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften
nicht bedacht: Emotionen. Sehen wir die Theorien als rein rationale Konstrukte an, so erhebt sich doch die Frage,
wo unsere Gefühlswelt dabei bleibt. Immerhin bereichert (und erschwert auch) sie unser Leben und ist sicherlich mit dafür
verantwortlich, dass heiß umkämpfte und leidenschaftlich verteidigte Theorien Erfolge feiern.
In Zeiten von EQ, soft skills und human resources muss man feststellen, dass die Gefühlswelt in der
Theorie nahezu völlig unverstanden ist. Die Neurologen bemühen sich zwar um ein Verständnis, doch ist diese naturwissenschaftliche
Forschung in den Kinderschuhen und Lichtjahre von dem disziplinären Verständnis der Kosmologen entfernt. Ich
denke, das ist auch gut so.
Literatur
- Kluge, "Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache" (1999), De Gruyter Verlag
- Schülerduden, "Philosophie" (2002), Duden Verlag
- Bertelsmann Lexikonreihe, "Fremdwörterlexikon" (1977), Bertelsmann Verlag
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© Andreas Müller, August 2007
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