Kolumnen: Anatomia im/pudica
Nun, die letzten Glossen waren ja in Teilen stark von des Gedankens fahler Blässe – will sagen: philosophisch – beschattet, weswegen es mir an der Zeit zu sein scheint, mal wieder ein handfesteres, publikumswirksameres Thema aufzugreifen.
»Anatomia im/pudica« – wenn man das, samt Schrägstrich, in’s Deutsche setzen wollte, müsste man etwa so schreiben: »Die schamhafte/-lose Anatomie«. Das ist aber arg sperrig, also lieber auf Lateinisch, lieber in der Sprache des Faches, da klingt’s eleganter. Die Anatomie ist nämlich gleichzeitig »pudica« (also schamhaft) und »impudica« (also schamlos), und wieso, weshalb, warum, das schauen wir uns gleich in ein paar saftigen Anekdoten (Fußnote 1) an.
Die Anatomie (grammatikalisch weiblich, jedoch meist von Männern betrieben) ist prinzipiell mal ein schamloses Fach, das in alle dunklen Löcher des menschlichen Leibes eindringt, sie eingehend untersucht, ja, dort Löcher produziert und hineinschneidet, wo normalerweise keine sind. Jede Scham wäre da fehl am Platze, kalte wissenschaftliche Neugier treibt den Anatomen. Die anatomische Durchdringung des Leichnams ist also kein Quell der (Woll)lustbarkeit, und wo doch (was vorkommen soll), ist’s schon wieder pathologisch: »Nekrophilie« nennt man die Abirrung derjenigen Seele, der die Leiche Lust bereitet.
So weit, so gut. Nun aber muss der Anatom – zu seinem Studenten, zu seinem Publikum – von der Sache reden, die er vorfand, und verstrickt sich in der Sprache, in Worten, in deren Regeln von »pudicus« und »impudicus«. Stets ist er bemüht, die professionelle Balance zwischen der prinzipiellen, nüchternen Schamlosigkeit seines Faches und der saftigen, schamlosen, anschaulichen Begriffswelt des Alltags zu wahren. Zwar möcht' er so gerne anschaulich reden, Anschauung ist ja sein Fach. Zugleich aber muss er kühl sein, bis in die Knochen, Wissenschaftler eben. Stellen Sie sich vor, Sie sollten das Playmate des Monats beschreiben und es stünde Ihnen dafür ausschließlich das Vokabular des »Lexikons der Grundbegriffe der Finanzbuchhaltung« zur Verfügung – Sie erkennen das Problem? Lustig wird’s jetzt, wenn die Anatomen die Balance verlieren oder eben sie hochelegant zu halten verstehen: je nachdem. Und das schauen wir uns jetzt an ein paar ausgewählten Beispielen an. Wir fangen im Erdgeschoss an, da, wo’s wirklich genitalisch zugeht, und steigen dann zu einem kleinen Ausflug in die Schamlosigkeiten des Oberstübchens, des Denkorgans auf.
Hochelegant und saugrob zugleich, wenn auch um den Preis eines deftigen »Machismo« (2) wäre hier folgender uralter Anatomenwitz anzubringen, der zu Zeiten angesiedelt ist, als Frauen im Medizinstudium von den Professoren noch mit Missfallen betrachtet wurden – und als die allgemeinen Hürden der Scham und Keuschheit noch höher lagen als heute:
Prüfung.
Der Anatomieprofessor zur Studentin: »Welches menschliche Organ, Frollein, kann sich bei Erregung um das Siebenfache vergrößern?«
Die Studentin (errötend): »Aber Herr Professor …«
Anatomieprofessor (barsch): »Sie sind durchgefallen. Das ist die Pupille. Und ich würde Ihnen raten, nicht mit allzu hohen Erwartungen in’s Eheleben einzutreten.«
Der Witz funktioniert, weil das, was genannt werden soll, nicht genannt wird. Wenn die Anatomen es aber benennen, nennen sie’s: »Penis«. Doch das Wort leitet sich von »pendere« ab, und das heißt (wie in »pendeln«) allerdings: »herabhängen«. Schon dem Herrn Spigelius, einem Anatomen des 15. Jahrhunderts, fiel auf, dass das Organ mit diesem Ausdruck eigentlich nicht in der ganzen Bandbreite seiner Funktionen erfasst wird. Er schlug den Begriff »mentula« vor und kommentierte das mit den Worten: »… quod rigida haec pars, viro mentem eripiat«. Sie sollten sich jetzt wirklich diese Fußnote (3) ansehen.
Gut. Unter unkommentierter Hinterlassung der Anmerkung, dass die scharfsinnigen ollen Griechen die weibliche Schambehaarung als »Gynaecomystax« (»Weiberschnurrbart«) bezeichnet haben, verlassen wir die niederen Gefilde und machen uns auf zu Höherem, zum Gehirn, das sich derlei einfallen lässt. Nicht ohne ein gewisses Bedauern aber, dass wir in den Landschaften des Unterleibes so schamlos interessante Dinge wie den Eierträger der Frau (das »Oophoron«), die bauchbefellte Vagina des Mannes (»Processus vaginalis peritonei«) und noch manches andere zurücklassen müssen – aber vielleicht kommen wir in einer späteren Glosse noch mal darauf zurück.
Zum Hirne also, zum Mittelhirn, um genau zu sein. Es liegt, wie sein Name sagt, mitten drin. Wenn man von unten draufschaut, fallen als Erstes die beiden fast perfekt halbkugeligen Vorwölbungen auf, die Seit' an Seit', von einer Furche getrennt, aus ihm herausragen. Sie heißen »Corpora mammillaria«, was ich Ihnen jetzt sicher nicht übersetzen muss. Gleich neben ihnen liegen zwei ansehnliche Gebilde, die treffend als die Hirnschenkel (»Pedunculi cerebri«) bezeichnet werden. Wenn man sich nun die Oberseite des Mittelhirns anschaut (man muss dazu den Cortex des Großhirns abtragen), sieht man eine Platte, auf der vier flachere Hügel stehen. Die oberen dieser Hügel heißen heute verschämt: »Colliculi superiores« (»obere Hügel«). Bah, wie fade. Als die Anatomie noch in Saft und Kraft stand, unbeleckt von Scham und »verbal correctness«, hießen die Dinger: »Nates cerebri« – die Arschbacken des Gehirns. Zwischen denen hängt, aus dem Zwischenhirn herab, ein Organ von seltener Nutzlosigkeit (4) – die Zirbeldrüse. Sie ähnelt einem Zirbelzapfen, und Zirbel ist nichts weiter als ein altmodisches Wort für: »Nadelbaum, Kiefer«. Doch die Formen des Organs sind variabel, es kann auch mehr stabförmig, länglich ausgebildet sein … weswegen »Penis cerebri« eine zwar frivole, aber nicht ganz unanschauliche Bezeichnung für dieses Organ war. Leider völlig aus der Mode gekommen.
So. Jetzt subsummieren wir mal die Anatomia impudica des Mittelhirns von oben und von unten und stellen fest, dass es sich um einen hermaphroditischen Körper handelt, bei dem die Brüste im Schoß zwischen den Schenkeln liegen, der Penis hingegen auf der Rückseite zwischen den Gesäßbacken herabhängt. Mit anderen Worten: In der Rückansicht finden wir all das vereint, was die Damenwelt an der männlichen Anatomie interessieren könnte, was aber normalerweise auf zwei Körperseiten verteilt ist und sich so dem gleichzeitigen Anblick entzieht. Knackiger Hintern und Mentula eben. Umgekehrt finden wir auf der Vorderseite die weibliche Anatomie in sehr komprimierter, leicht fasslicher, der männlichen Fixierung aufs Wesentliche angemessenen Form.
Ähnliche Fantasien haben bei mir mal, als ich noch jünger war, den Zeichenstift in Aktion gesetzt. Und als ich fertig war, merkte ich, dass ich dem wahren Grund des Kubismus auf die Schliche gekommen war. Jene Kunstform, die es erlaubt, alle möglichen Perspektiven einer Sache in eine Ansicht zu zwingen, erlaubt es eben auch, alles, was am Leib interessant erscheint, gleichzeitig darzustellen.
Jetzt, gegen Ende dieser Glosse, beschleicht mich doch eine gewisse Ratlosigkeit. Was hab' ich eigentlich sagen wollen? Nun, wenn ich darüber nachdenke: dass die Anatomie auch eine Spielwiese sei, eine heitere noch dazu, auf der man auch den Eros und manche Satyrn tanzen sehen kann.
Helmut Wicht ist promovierter Biologe und Privatdozent für Anatomie an der Dr. Senckenbergischen Anatomie der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Fußnoten:
(1) Diese Glosse sei dem Herrn Professor Doktor Josef Hyrtl (1810–1894) gewidmet, dem ich einige (aber nicht alle) Anekdoten, die hierin auftauchen, verdanke. Er war ein Genie, zumindest, was die Umsetzung von Anatomie in Sprache angeht. Ich hab ihm hier die deftigeren, derben Teile seiner »Onomatologia anatomica« (1880, Wien, Verlag von Wilhelm Braumüller) entrissen – aber, glauben Sie mir, seine Reflexionen über neutralere anatomische Themen sind von einer Subtilität, die seither nicht wieder erricht wurde.
(2) Ich bin, gnädige Frau, und ich bitte Sie, das zu verzeihen, ein Mann. Anatom und Motorradfahrer noch dazu, mit allerlei Defekten in der Sozialisation, die man den Trägern dieses Geschlechts, den Tätigen in diesem Beruf und den Praktizierenden dieses Hobbys so nachsagt. Sie werden es also nachzusehen wissen – zumindest hoffe ich es –, dass diese Glosse aus einer etwas einseitigen, fast möcht' ich sagen: testikulär-testosteronigen Perspektive heraus verfasst ist. Ich kann da aber nicht raus. Ich fürchte, es ist was Genetisches …
(3) Ich hoffe, gnädige Frau, durch Einführung dieser Anekdote Ihre Gunst wiedererlangt zu haben, denn sie ist andersrum sexistisch. Ich übersetze: »mentula« kann man mit »Verständlein« wiedergeben, und das passt, schreibt Spigelius, »weil dieses Teil, wenn steif, dem Manne den Verstand entreißen kann«.
(4) Das verzeiht mein Chef mir nie, er forscht daran … Die Nutzlosigkeit des Organs kann man daran ermessen, dass René Descartes (1596–1650), der große Philosoph, die Zirbeldrüse für das Organ der Seele hielt. Und was könnte, so lehrt mich der Blick auf die Errungenschaften der neuzeitlichen »Neurophilosophie«, nutzloser sein als eine Seele? Außerdem kann man das Organ – weit gehend folgenlos – herausschneiden, ja, man muss es mitunter tun, weil es Tumoren tragen kann. Seine Funktion – die Produktion eines Hormons namens Melatonin – wird dann vom Auge übernommen.
»Anatomia im/pudica« – wenn man das, samt Schrägstrich, in’s Deutsche setzen wollte, müsste man etwa so schreiben: »Die schamhafte/-lose Anatomie«. Das ist aber arg sperrig, also lieber auf Lateinisch, lieber in der Sprache des Faches, da klingt’s eleganter. Die Anatomie ist nämlich gleichzeitig »pudica« (also schamhaft) und »impudica« (also schamlos), und wieso, weshalb, warum, das schauen wir uns gleich in ein paar saftigen Anekdoten (Fußnote 1) an.
Die Anatomie (grammatikalisch weiblich, jedoch meist von Männern betrieben) ist prinzipiell mal ein schamloses Fach, das in alle dunklen Löcher des menschlichen Leibes eindringt, sie eingehend untersucht, ja, dort Löcher produziert und hineinschneidet, wo normalerweise keine sind. Jede Scham wäre da fehl am Platze, kalte wissenschaftliche Neugier treibt den Anatomen. Die anatomische Durchdringung des Leichnams ist also kein Quell der (Woll)lustbarkeit, und wo doch (was vorkommen soll), ist’s schon wieder pathologisch: »Nekrophilie« nennt man die Abirrung derjenigen Seele, der die Leiche Lust bereitet.
So weit, so gut. Nun aber muss der Anatom – zu seinem Studenten, zu seinem Publikum – von der Sache reden, die er vorfand, und verstrickt sich in der Sprache, in Worten, in deren Regeln von »pudicus« und »impudicus«. Stets ist er bemüht, die professionelle Balance zwischen der prinzipiellen, nüchternen Schamlosigkeit seines Faches und der saftigen, schamlosen, anschaulichen Begriffswelt des Alltags zu wahren. Zwar möcht' er so gerne anschaulich reden, Anschauung ist ja sein Fach. Zugleich aber muss er kühl sein, bis in die Knochen, Wissenschaftler eben. Stellen Sie sich vor, Sie sollten das Playmate des Monats beschreiben und es stünde Ihnen dafür ausschließlich das Vokabular des »Lexikons der Grundbegriffe der Finanzbuchhaltung« zur Verfügung – Sie erkennen das Problem? Lustig wird’s jetzt, wenn die Anatomen die Balance verlieren oder eben sie hochelegant zu halten verstehen: je nachdem. Und das schauen wir uns jetzt an ein paar ausgewählten Beispielen an. Wir fangen im Erdgeschoss an, da, wo’s wirklich genitalisch zugeht, und steigen dann zu einem kleinen Ausflug in die Schamlosigkeiten des Oberstübchens, des Denkorgans auf.
Hochelegant und saugrob zugleich, wenn auch um den Preis eines deftigen »Machismo« (2) wäre hier folgender uralter Anatomenwitz anzubringen, der zu Zeiten angesiedelt ist, als Frauen im Medizinstudium von den Professoren noch mit Missfallen betrachtet wurden – und als die allgemeinen Hürden der Scham und Keuschheit noch höher lagen als heute:
Prüfung.
Der Anatomieprofessor zur Studentin: »Welches menschliche Organ, Frollein, kann sich bei Erregung um das Siebenfache vergrößern?«
Die Studentin (errötend): »Aber Herr Professor …«
Anatomieprofessor (barsch): »Sie sind durchgefallen. Das ist die Pupille. Und ich würde Ihnen raten, nicht mit allzu hohen Erwartungen in’s Eheleben einzutreten.«
Der Witz funktioniert, weil das, was genannt werden soll, nicht genannt wird. Wenn die Anatomen es aber benennen, nennen sie’s: »Penis«. Doch das Wort leitet sich von »pendere« ab, und das heißt (wie in »pendeln«) allerdings: »herabhängen«. Schon dem Herrn Spigelius, einem Anatomen des 15. Jahrhunderts, fiel auf, dass das Organ mit diesem Ausdruck eigentlich nicht in der ganzen Bandbreite seiner Funktionen erfasst wird. Er schlug den Begriff »mentula« vor und kommentierte das mit den Worten: »… quod rigida haec pars, viro mentem eripiat«. Sie sollten sich jetzt wirklich diese Fußnote (3) ansehen.
Gut. Unter unkommentierter Hinterlassung der Anmerkung, dass die scharfsinnigen ollen Griechen die weibliche Schambehaarung als »Gynaecomystax« (»Weiberschnurrbart«) bezeichnet haben, verlassen wir die niederen Gefilde und machen uns auf zu Höherem, zum Gehirn, das sich derlei einfallen lässt. Nicht ohne ein gewisses Bedauern aber, dass wir in den Landschaften des Unterleibes so schamlos interessante Dinge wie den Eierträger der Frau (das »Oophoron«), die bauchbefellte Vagina des Mannes (»Processus vaginalis peritonei«) und noch manches andere zurücklassen müssen – aber vielleicht kommen wir in einer späteren Glosse noch mal darauf zurück.
Zum Hirne also, zum Mittelhirn, um genau zu sein. Es liegt, wie sein Name sagt, mitten drin. Wenn man von unten draufschaut, fallen als Erstes die beiden fast perfekt halbkugeligen Vorwölbungen auf, die Seit' an Seit', von einer Furche getrennt, aus ihm herausragen. Sie heißen »Corpora mammillaria«, was ich Ihnen jetzt sicher nicht übersetzen muss. Gleich neben ihnen liegen zwei ansehnliche Gebilde, die treffend als die Hirnschenkel (»Pedunculi cerebri«) bezeichnet werden. Wenn man sich nun die Oberseite des Mittelhirns anschaut (man muss dazu den Cortex des Großhirns abtragen), sieht man eine Platte, auf der vier flachere Hügel stehen. Die oberen dieser Hügel heißen heute verschämt: »Colliculi superiores« (»obere Hügel«). Bah, wie fade. Als die Anatomie noch in Saft und Kraft stand, unbeleckt von Scham und »verbal correctness«, hießen die Dinger: »Nates cerebri« – die Arschbacken des Gehirns. Zwischen denen hängt, aus dem Zwischenhirn herab, ein Organ von seltener Nutzlosigkeit (4) – die Zirbeldrüse. Sie ähnelt einem Zirbelzapfen, und Zirbel ist nichts weiter als ein altmodisches Wort für: »Nadelbaum, Kiefer«. Doch die Formen des Organs sind variabel, es kann auch mehr stabförmig, länglich ausgebildet sein … weswegen »Penis cerebri« eine zwar frivole, aber nicht ganz unanschauliche Bezeichnung für dieses Organ war. Leider völlig aus der Mode gekommen.
So. Jetzt subsummieren wir mal die Anatomia impudica des Mittelhirns von oben und von unten und stellen fest, dass es sich um einen hermaphroditischen Körper handelt, bei dem die Brüste im Schoß zwischen den Schenkeln liegen, der Penis hingegen auf der Rückseite zwischen den Gesäßbacken herabhängt. Mit anderen Worten: In der Rückansicht finden wir all das vereint, was die Damenwelt an der männlichen Anatomie interessieren könnte, was aber normalerweise auf zwei Körperseiten verteilt ist und sich so dem gleichzeitigen Anblick entzieht. Knackiger Hintern und Mentula eben. Umgekehrt finden wir auf der Vorderseite die weibliche Anatomie in sehr komprimierter, leicht fasslicher, der männlichen Fixierung aufs Wesentliche angemessenen Form.
Ähnliche Fantasien haben bei mir mal, als ich noch jünger war, den Zeichenstift in Aktion gesetzt. Und als ich fertig war, merkte ich, dass ich dem wahren Grund des Kubismus auf die Schliche gekommen war. Jene Kunstform, die es erlaubt, alle möglichen Perspektiven einer Sache in eine Ansicht zu zwingen, erlaubt es eben auch, alles, was am Leib interessant erscheint, gleichzeitig darzustellen.
Jetzt, gegen Ende dieser Glosse, beschleicht mich doch eine gewisse Ratlosigkeit. Was hab' ich eigentlich sagen wollen? Nun, wenn ich darüber nachdenke: dass die Anatomie auch eine Spielwiese sei, eine heitere noch dazu, auf der man auch den Eros und manche Satyrn tanzen sehen kann.
Helmut Wicht ist promovierter Biologe und Privatdozent für Anatomie an der Dr. Senckenbergischen Anatomie der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Fußnoten:
(1) Diese Glosse sei dem Herrn Professor Doktor Josef Hyrtl (1810–1894) gewidmet, dem ich einige (aber nicht alle) Anekdoten, die hierin auftauchen, verdanke. Er war ein Genie, zumindest, was die Umsetzung von Anatomie in Sprache angeht. Ich hab ihm hier die deftigeren, derben Teile seiner »Onomatologia anatomica« (1880, Wien, Verlag von Wilhelm Braumüller) entrissen – aber, glauben Sie mir, seine Reflexionen über neutralere anatomische Themen sind von einer Subtilität, die seither nicht wieder erricht wurde.
(2) Ich bin, gnädige Frau, und ich bitte Sie, das zu verzeihen, ein Mann. Anatom und Motorradfahrer noch dazu, mit allerlei Defekten in der Sozialisation, die man den Trägern dieses Geschlechts, den Tätigen in diesem Beruf und den Praktizierenden dieses Hobbys so nachsagt. Sie werden es also nachzusehen wissen – zumindest hoffe ich es –, dass diese Glosse aus einer etwas einseitigen, fast möcht' ich sagen: testikulär-testosteronigen Perspektive heraus verfasst ist. Ich kann da aber nicht raus. Ich fürchte, es ist was Genetisches …
(3) Ich hoffe, gnädige Frau, durch Einführung dieser Anekdote Ihre Gunst wiedererlangt zu haben, denn sie ist andersrum sexistisch. Ich übersetze: »mentula« kann man mit »Verständlein« wiedergeben, und das passt, schreibt Spigelius, »weil dieses Teil, wenn steif, dem Manne den Verstand entreißen kann«.
(4) Das verzeiht mein Chef mir nie, er forscht daran … Die Nutzlosigkeit des Organs kann man daran ermessen, dass René Descartes (1596–1650), der große Philosoph, die Zirbeldrüse für das Organ der Seele hielt. Und was könnte, so lehrt mich der Blick auf die Errungenschaften der neuzeitlichen »Neurophilosophie«, nutzloser sein als eine Seele? Außerdem kann man das Organ – weit gehend folgenlos – herausschneiden, ja, man muss es mitunter tun, weil es Tumoren tragen kann. Seine Funktion – die Produktion eines Hormons namens Melatonin – wird dann vom Auge übernommen.
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