Mäders Moralfragen: Die Epidemie aus dem Labor
Vor 100 Jahren nahm eine Pandemie ihren Lauf, die heute als »Spanische Grippe« bezeichnet wird. Rund 50 Millionen Menschen fielen ihr zum Opfer – vor allem junge Erwachsene, die ansonsten gesund waren. In Deutschland dürften es mehr als 400 000 Todesfälle gewesen sein, schätzt das Robert Koch-Institut in Berlin. Eine solche Katastrophe könnte sich wiederholen, da Viren wandlungsfähig sind und überraschend zuschlagen können. Um herauszufinden, was auf uns zukommen könnte, manipulieren manche Forscher die Influenza-Viren im Labor und testen die Wirkung an Frettchen. Weil das Ziel darin besteht, den Viren zusätzliche Fähigkeiten zu verpassen, werden die Experimente als »Gain of Function«-Forschung bezeichnet.
Vor einigen Jahren fanden zwei Forscherteams unabhängig voneinander heraus, dass nur wenige Mutationen nötig sind, um aus einem schwer übertragbaren Virus ein flugfähiges zu machen. Die Frettchen steckten sich bei ihren Artgenossen im Nachbarkäfig an, obwohl sie keinen direkten Kontakt hatten. Weil die Teams mit H5N1-Viren arbeiteten, also den Erregern der für Menschen tödlichen Vogelgrippe, löste schon die Ankündigung der Publikation Sorgen aus. Zum Glück waren die Viren nach der Manipulation nicht mehr so gefährlich wie vorher – die Frettchen überlebten die Infektion. Aber es stand die Frage im Raum, ob man nicht Terroristen mit solchen Experimenten eine Bauanleitung für einen Anschlag gibt. Schließlich kann ein leicht übertragbares Virus auch dann Schrecken verbreiten, wenn es nur jeden 1000. Menschen tötet.
Angst vor Pannen im Labor
Vor zwei Wochen habe ich am Beispiel eines anderen Themas (der künstlichen Intelligenz) dafür argumentiert, dass Transparenz für die Wissenschaft wichtig ist: Ohne überprüfen zu können, was die Kollegen machen, kommt die Forschung kaum voran. Doch im Lauf der Jahre hat sich die Debatte über die »Gain of Function«-Experimente gewandelt, berichten die Virologen Michael Imperiale und Arturo Casadevall aktuell im Magazin »Frontiers in Bioengineering and Biotechnology«: Sorgen bereiten heute eher einige Laborpannen aus den vergangenen Jahren. Diskutiert wird also weniger die Frage, ob man die Ergebnisse veröffentlichen sollte, als vielmehr, ob die Experimente wirklich so wichtig sind, dass man die versehentliche Freisetzung von gefährlichen Viren in Kauf nehmen kann.
Für den Laien ist es kaum möglich, diese Frage zu entscheiden – und auch die Wissenschaftler sind gespalten. Vor vier Jahren, auf dem Höhepunkt der Debatte, gründeten sie sogar zwei Verbände: Die Gruppe »Scientists for Science«, die sich vor allem aus Virologen zusammensetzt, hält den Nutzen für groß und die Risiken für beherrschbar. Die Mitglieder der »Cambridge Working Group«, die aus unterschiedlichen Disziplinen stammen, fordern hingegen ein Moratorium der Forschung. Im Herbst 2014 hatte die US-amerikanische Gesundheitsbehörde National Institutes of Health (NIH) für etwa ein Dutzend Versuche ein solches Moratorium verhängt, hob es aber im Dezember 2017 wieder auf. Die Experimente laufen nun erneut an, und man darf wohl davon ausgehen, dass die Versuche in chinesischen Labors, die nicht von den NIH finanziert werden, ohnehin während des Moratoriums weiterliefen.
Mehr Anwendungsbezug gefordert
Die US-amerikanische Ethikkommission NSABB kam im Mai 2016 zu keinem klaren Ergebnis in diesem Punkt: Die »Gain of Function«-Forschung erhöhe zwar den Wissensstand, doch ob sie auch vor der nächsten Epidemie wappne, sei unklar. »Dieser Punkt ist umstritten, mit starken Stimmen dafür und dagegen«, heißt es knapp im sonst umfangreichen Bericht. Bei der Recherche bin ich allerdings auf einen Fall gestoßen, der aufhorchen lässt: Ein Team der University of Maryland in den USA hat H7N1-Viren manipuliert, um sie unter Säugetieren leichter übertragbar zu machen. Simon Wain-Hobson vom Institut Pasteur in Paris ist über diese Studie entsetzt, weil dieses Virus noch nicht bei Menschen beobachtet worden ist. Ging es bei dem Experiment tatsächlich darum, die Welt auf eine mögliche Pandemie vorzubereiten?
Die Virologen Michael Imperiale und Arturo Casadevall machen in ihrem aktuellen Debattenbeitrag zu dieser Frage einen neuen Vorschlag: Die »Gain of Function«-Forschung sollte sich auf konkrete, drängende Fragen konzentrieren. Denn wenn eine drohende Gefahr zu untersuchen ist, kann man das Risiko einer Laborpanne eher tragen als bei Experimenten der Grundlagenforschung, in denen es darum geht, die Funktionsweise von Viren besser zu verstehen. Die Wandlungsfähigkeit eines Virus zu untersuchen, das noch keinen Menschen befallen hat, dürfte wohl nicht zu den drängenden Problemen gehören.
Die Moral von der Geschichte: Wer die Gesellschaft einem Risiko aussetzt, sollte es in ihrem Interesse tun.
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