Freistetters Formelwelt: Die falsche Hexe von Agnesi
1748 wurde in Mailand das Buch »Instituzioni Analitiche Ad Uso Della Gioventù Italiana« veröffentlicht. Es war das erste echte Lehrbuch, in dem die damals noch recht neue Infinitesimalrechnung enthalten war, und gilt als das erste mathematische Buch, das von einer Frau verfasst wurde. Darin hat die Autorin, Maria Gaetana Agnesi, auch eine Kurve beschrieben, die durch diese Formel definiert ist:
Man kann die Kurve aus einem Kreis konstruieren. Dazu wählt man zwei Punkte (den Ursprung O und einen weiteren Punkt M), durch die ein Kreis mit dem Radius a gezeichnet wird. Für jeden anderen Punkt A, der auf dem Kreis liegt, bestimmt man nun den Punkt N, an dem die Sekante von O zu A die Tangente in M schneidet. Dann zeichnet man eine Parallele zur Linie OM, die durch N verläuft und eine Linie, die im rechten Winkel dazu durch den Punkt A geht. Der Schnittpunkt dieser beiden Geraden ist ein Punkt P, der auf der durch die Formel beschriebenen Kurve liegt. Die gesamte Kurve ergibt sich aus allen Punkten P, die auf diese Weise aus einer Wahl von O und M gebildet werden können.
Agnesi hat diese Kurve nicht erfunden, aber bekannt gemacht, und auf italienisch wurde sie daher »la versiera di Agnesi« genannt, was an das lateinische Wort für Segel (versoria) erinnert und an die Form der Kurve angelehnt ist. Das »la versiera« las der englische Mathematikprofessor John Colson allerdings als »l'avversiera« was er mit »witch«, also »Hexe« interpretierte, wodurch die Kurve zu ihrem heutigen Namen kam.
Maria Gaetana Agnesis Fähigkeiten mögen aber durchaus ein wenig »magisch« gewirkt haben. Mit neun Jahren sprach sie schon fließend Latein, zwei Jahre später beherrschte sie insgesamt sieben Sprachen. Ihre ebenfalls vorhandene mathematische Begabung wurde von ihren Eltern gefördert. Das Wunderkind wurde zur Mathematikerin, die ihre wissenschaftliche Karriere aber schon im Alter von 34 Jahren beendete. Da starb der Vater von Agnesi, und Maria wandte sich dem Glauben zu. Sie studierte Theologie und übernahm später die Leitung eines Altenheims.
Ihre mathematische Arbeit aber lebt weiter. Man findet ihre Kurve in der Wahrscheinlichkeitsrechnung, der Polynominterpolation oder der Modellierung von Wellen.
Interessanterweise kann man sogar in der Astronomie auf die »Hexe von Agnesi« treffen. Die Formel für die Kurve taucht hier in einer Arbeit aus dem Jahr 1932 auf, in der es darum geht, die Form von Spektrallinien im Röntgenlicht zu beschreiben. Solche Linien werden mit entsprechenden Messinstrumenten detektiert, aber damit erhält man nur einzelne Datenpunkte. Um genauere Analysen durchführen zu können, will man diese Messwerte durch eine Kurve mathematisch beschreiben, und Agnesis Kurve scheint sich gut dafür zu eignen -insbesondere wenn man die Fläche berechnen möchte, die unter der Kurve der Spektrallinie liegt. Sie ist ein Maß für die so genannte Linienintensität, die uns etwas über die chemische Zusammensetzung der Körper sagt, von denen die elektromagnetische Strahlung ausgeht. Diese Fähigkeit macht die Spektroskopie zu einem der wichtigsten Instrumente der Astronomie, etwa wenn es darum geht, mehr über das Innere der unerreichbar fernen Himmelskörper herauszufinden.
Die Fähigkeit der Astronomie, noch aus dem schwächsten Licht eine unglaubliche Menge an Informationen zu holen, ist ihre größte Stärke. Mit der richtigen Technik und der richtigen Mathematik können wir Sterne und Galaxien untersuchen, die selbst in den großen Teleskopen kaum zu sehen sind. Dadurch sind wir in der Lage, ihre Zusammensetzung, ihr Alter, ihre Temperatur und jede Menge andere Parameter zu messen. Was zugegebenermaßen manchmal tatsächlich wie Hexenwerk erscheinen kann …
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