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Warkus' Welt: Keine Ausnahmen von der Regel

Ob im Straßenverkehr, bei der Begrüßung oder beim Schach: Die allermeisten Menschen halten sich an die geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze des sozialen Miteinanders. Ist das nur der Angst vor Konsequenzen geschuldet?
Schachfiguren auf einem Brett

Warum halten Sie sich eigentlich an Regeln? Gut, vielleicht sind Sie so jemand, der in seinem Social-Media-Profil stehen hat, dass er stets sein eigenes Ding durchzieht, sich zu gar nichts verpflichtet fühlt und für "Hater" nur den Mittelfinger übrig hat. Selbst dann haben Sie sich aber immer noch an einige Regeln gehalten, nicht zuletzt (hoffentlich) an die der deutschen Rechtschreibung.

Wenn man genau darauf achtet, dann stellt man fest, dass sich die allermeisten Menschen an die allermeisten Regeln halten. Aber warum ist das so? Warum schnallen Sie sich im Auto an? Wieso kaufen Sie einen Fahrschein, bevor Sie in die U-Bahn steigen?

Vor vielen Jahren, als ich noch jung und dumm war und vorhatte, Informatiker zu werden (dass ich dann Philosoph wurde, ist eine andere Geschichte), hatte ich einmal einen langen und zähen E-Mail-Austausch mit einem in Fachkreisen recht bekannten US-amerikanischen Programmierer. Dabei kamen wir auch auf dieses Thema. Er erklärte mir klipp und klar, an Regeln – oder zumindest an staatliche Gesetze – hielten sich Menschen nur, weil sie mit dem Tod bedroht würden. Wenn ich in die U-Bahn stieg, dann kaufte ich mir seiner Meinung nach einen Fahrschein, weil ich Angst hatte, auf der Flucht erschossen zu werden. Es könnte ja sein, dass ich kontrolliert werde, Geld bezahlen muss, mich weigere, deswegen zu einer Haftstrafe verurteilt werde und diese aber partout nicht absitzen möchte.

Tödliche Konsequenzen

Immerhin akzeptierte mein Widersacher, dass es auch gesetzliche Regelungen gibt, an die man sich durchaus aus nacktem Eigeninteresse halten könnte – sich im Auto anzuschnallen nutzt tendenziell sowohl dem Insassen (weil Unfälle ihm weniger schaden) als auch seinen Angehörigen (deren Risiko sinkt, einen geliebten Menschen zu verlieren), dem Gesundheitssystem, dem man Beiträge leistet, und so weiter. Er fand allerdings, solche Regeln seien Heuchelei. Das echte Mitgefühl gegenüber den Hinterbliebenen, aus dem heraus man auf die Idee kommen könnte, es sei besser, sich anzuschnallen, werde sozusagen überdeckt und ungenießbar gemacht durch die Drohung des Staates, mir ein Bußgeld aufzuerlegen (und damit in letzter Instanz: mich einzusperren und zu töten), wenn ich diese Einsicht nicht zeigte.

Wie ich in dieser Kolumne schon einmal erwähnt habe, wird es philosophisch unter anderem immer dann interessant, wenn behauptet wird, etwas sei "eigentlich" oder "in Wirklichkeit" anders, als es oberflächlich scheint. Halten wir uns in Wirklichkeit nur an Regeln, weil wir die in allerletzter Konsequenz potenziell tödlichen Auswirkungen eines Regelverstoßes auf der Rechnung haben?

Es ist schwer, dagegen zu argumentieren. Ich bin in dieser Gesellschaft voller geschriebener und ungeschriebener Gesetze aufgewachsen und habe nie etwas anderes gekannt, als mich den ganzen Tag an Vorschriften zu halten – vom Umsatzsteuergesetz bis hin zur Regel, seinem Gegenüber zur Begrüßung die rechte Hand zu geben und nicht die linke. Wer weiß schon, ob ich nicht unbewusst jeden Regelverstoß mit schlimmen Konsequenzen verbinde? Sind wir alle zutiefst verängstigte Wesen, die sich vor dem Eingriff der Mächtigen fürchten wie vor dem eines alttestamentarischen Gottes? Wäre wahre Freiheit erst dann erreicht, wenn wir alle Regeln brechen könnten, ohne uns vor irgendetwas fürchten zu müssen?

Gegen dieses Argument spricht ganz simpel betrachtet zum Beispiel die Tatsache, dass es Regeln gibt, an die wir uns alle, wann immer wir uns an sie halten, freiwillig halten: nämlich Spielregeln. Keine Macht gebietet es mir, beim Schach meinen Läufer stets diagonal zu ziehen, meinen Turm dagegen niemals. Man könnte sicher auch ein Spiel spielen, bei dem die Türme bei Gelegenheit auch mal diagonal ziehen dürfen; das wäre allerdings kein Schach mehr. Dass ich mich an die Regeln halte, macht aus, dass ich Schach spiele; es konstituiert das Schachspiel, fachsprachlich gesagt. Spielregeln sind konstitutive Regeln: ein Ausdruck, der von John Searle stammt, der sich auch viel mit Sprechakten beschäftigt hat.

Eine große Frage, die wir uns daher stellen können (und die die Überlegung, warum sich Menschen eigentlich an Regeln halten, sozusagen absorbiert und als Teilproblem einschließt), ist die Frage danach, welche gesellschaftlichen Regeln konstitutiv sind und welche nicht. An welche Regeln halten wir uns, um überhaupt bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse zu ermöglichen? Und gibt es Beispiele für Regeln, die wir als Gesellschaft sozusagen abgeschüttelt haben, indem wir schlagartig aufgehört haben, uns an sie zu halten? Wie auch immer Sie hierauf antworten: Ich bin mir recht sicher, dass es einige gesellschaftliche Regeln gibt, an die ich mich auch halten würde, wenn mich keine Macht dazu zwingen könnte.

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