Freistetters Formelwelt: Kennen Sie Darcy?
Als Wissenschaftler sehe ich den Wert des Internationalen Einheitensystems durchaus ein. Es ist absolut sinnvoll, dass sich die Forscherinnen und Forscher weltweit darauf geeinigt haben, dieselben Einheiten zur Beschreibung physikalischer Größen zu verwenden. Sekunde, Meter, Kilogramm, Ampere, Kelvin, Mol und Candela: Alles, was es im Universum zu beschreiben gibt, kann mit diesen Einheiten quantifiziert werden.
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In der Theorie jedenfalls. In der Praxis hat sich so gut wie jede Wissenschaft ihre eigenen, nicht standardisierten Einheiten bewahrt. Es ist zum Beispiel in der Astronomie viel praktischer, etwa den Abstand zwischen der Sonne und dem nächsten Stern mit 4,24 Lichtjahren anzugeben, anstatt die »offiziellen« 40 113 497 203 742 592 Meter zu verwenden.
Und sehr oft stecken hinter den Nicht-Standard-Einheiten auch spannende Geschichten. Wie in diesem Fall:
Diese Formel definiert eine Einheit für die so genannte »Permeabilität« K. In den Geowissenschaften beschreibt man damit die Durchlässigkeit von Boden und Gestein für Flüssigkeiten oder Gase. Sie hängt von der dynamischen Viskosität η ab, also der Zähflüssigkeit dessen, was im konkreten Fall fließt. Außerdem von der Fließrate V̇, der durchflossenen Fläche A, der Fließstrecke l und der Druckdifferenz zwischen Eintritts- und Austrittsstelle Δp.
Gemessen wird die Permeabilität K in der Einheit »Darcy«: Ein Medium mit einer Permeabilität von einem Darcy lässt eine Flüssigkeit mit einer Viskosität von einem Centipoise – das entspricht der Zähflüssigkeit von Wasser bei 20 Grad Celsius – bei einem Druckgradienten von einer Atmosphäre pro Zentimeter durch eine Fläche von einem Quadratzentimeter mit einem Kubikzentimeter pro Sekunde fließen.
Wasser für Dijon
Das klingt alles sehr eigenwillig, und dahinter steckt auch eine sehr spezielle Geschichte. Nämlich die des französischen Ingenieurs Henry Darcy, der 1803 in Dijon geboren wurde. Er bekam den Auftrag, die Wasserversorgung seiner Heimatstadt zu verbessern. So wie in vielen anderen Städten der damaligen Zeit war auch in Dijon die hygienische Lage nicht sonderlich gut und der Zugang zu frischem Wasser kaum vorhanden. Entsprechend häufig waren durch diese Umstände ausgelöste Krankheiten.
Darcy untersuchte die Quellen und Flüsse der Umgebung und kam zu dem Schluss, dass sich die Probleme durch einen zwölf Kilometer langen unterirdischen Aquädukt lösen ließen, der Frischwasser aus dem Umland in ein Reservoir nahe der Stadt leitete. Der Behälter fasste 2300 Kubikmeter und wurde mit 8000 Litern Wasser pro Minute gefüllt. Von dort gelangte das Wasser über ein weit verzweigtes Rohrnetz überall in die Stadt. Das ganze System kam ohne Pumpen aus, und um das Wasser zu filtern, verwendete Darcy Sand.
Bei den Experimenten zu diesem Filtersystem entwickelte er auch das, was heute als das »Darcy-Gesetz« bekannt ist. Damit berechnet man die Wassermenge, die durch ein poröses Medium wie Sand strömt. Darcy baute für seine Heimatstadt nicht nur eine für die damalige Zeit sehr moderne Wasserversorgung, sondern schuf auch die Grundlagen für die heutige Wissenschaft der Hydrogeologie.
Ihm zu Ehren wurde in Dijon über dem großen Wasserspeicher eine imposante Gartenanlage mit jeder Menge Brunnen errichtet, die heute den Namen »Jardin Darcy« trägt. Und die Einheit für die im Darcy-Gesetz wichtige Permeabilität wurde nach ihm benannt. Sie findet heute immer noch Verwendung, zum Beispiel wenn es um die Durchlässigkeit von Gestein für Erdöl geht.
In die offiziellen Standardeinheiten konvertiert, würde 1 Darcy einem Wert von 9,869233·10-13 m2 entsprechen (beziehungsweise 0,9869233 µm2). Aber das ist nicht nur eine sehr mühsame Zahl – sie erzählt auch längst keine so spannende Geschichte!
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