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Grams' Sprechstunde: Mehr Vertrauen ins Immunsystem

Brauchen wir bei leichten Ohrenschmerzen Antibiotika oder Homöopathie? Sicher nicht. Manchmal ist Nichtstun die beste Medizin, meint die Ärztin Natalie Grams.
Globuli

Neulich, mit Kind in der Notaufnahme – schlimme Ohrenschmerzen! Die Dienst habende Notfallärztin des Wochenendes schaut in die Ohren des Kindes, stellt aber keine richtige Mittelohrentzündung fest, sondern nur eine leichte Rötung. Eigentlich also ein erleichternder Befund, eigentlich nicht krank: ein paar Tage Ruhe, abschwellendes Nasenspray, um die Belüftung im Ohr zu gewährleisten, und allenfalls ein leichtes Schmerzmittel dürften hier ausreichen und helfen.

Die Ärztin tippt den Befund in den Computer, dann hebt sie kurz den Blick, sieht mich an und fragt: »Was halten Sie denn von Homöopathie? Das hilft super. Gerade bei Kindern!« Ich entgegne schnell, nur halb entspannt: »Nichts. Gerade nicht bei Kindern!« Ich sehe das Stirnrunzeln der Ärztin, aber schon schiebt sie mit einem keinen Stoßseufzer nach: »Dann schreibe ich Ihnen ein Antibiotikum auf.« Moment, bitte was?

Warum nur trifft die Ärztin hier eine derart falsche Entscheidung und will ein Antibiotikum verschreiben? Das hat weder mit »moderner Medizin« noch mit »Evidenz« oder »leitliniengerechter Behandlung« zu tun, die oft und gerne von uns Ärzten beschworen werden. Nein, das ist hanebüchener Unsinn!

Bei einer solchen kleinen, nicht bakteriellen Entzündung hilft ein Antibiotikum nicht nur nicht, es könnte sogar Nebenwirkungen für das Kind haben und darüber hinaus unnötig Resistenzen erzeugen. Zumal es bei einem solch marginalen Befund typischerweise wohl auch nicht wie vorgeschrieben zu Ende genommen werden wird. Und es ist einfach das falsche Signal! Natürlich verstehe ich das Dilemma, in der Notaufnahme schnell und ad hoc Entscheidungen treffen zu müssen, den Eltern ein Gefühl von »Hier kommen Sie schnell dran und werden auch gut behandelt« zu geben und sich dennoch abzusichern, so dass hinterher keiner kommen und sagen kann: Sie haben mein Kind nicht maximal therapiert. Doch wo führt das hin?

Zunächst zum Untergraben des Vertrauens in unser Medizinsystem. Der ewige vorwurfsvolle Totschlagsatz »Immer gibt es zu viele Antibiotika« erfährt hier Bestätigung. Aber ich finde das untergrabene Vertrauen in die Fähigkeiten unseres Körpers schlimmer. Warum halten wir es so schlecht aus, dass einfach einmal nichts getan und schon gar nichts gegeben werden muss? Dass die meisten Bagatellerkrankungen mit Zeit, einem Tee und etwas Muße wieder vergehen? Wir sind viel zu selten dankbar für unser wunderbares Immunsystem, das wie verrückt arbeitet und Erreger und Maläsen bewältigt, ohne dass wir viel davon mitbekommen. Und gerade bei Kindern können wir diesem Immunsystem, den Selbstheilungsfähigkeiten unseres Körpers beim effektiven Arbeiten zusehen. Es braucht dafür keine »Stimulation« durch erwiesenermaßen unwirksame Methoden der so genannten Alternativmedizin. Vor allem jedoch braucht es kein Antibiotikum, wenn keine schwere bakterielle Infektion vorliegt.

Dafür benötigen wir Ehrlichkeit von ärztlicher Seite: »Wir müssen heute nichts geben, bitte melden Sie sich jederzeit, wenn es sich verschlechtert oder wenn Sie unsicher sind.« Und es braucht Mut und Zutrauen von Patienten/Eltern-Seite – nach dem Motto: »Das schafft der Körper schon selbst.«

Dass wir immer wieder das Bedürfnis verspüren, doch »irgendetwas« zu geben, mag an der Ohnmacht liegen, dass wir eben oftmals nichts tun können. Das hat Folgen, denn wer nichts weiß, muss alles glauben, um hier einen Buchtitel zu zitieren. Wer also nicht weiß, wie gut der Körper ohne Medizin zurechtkommt (der Mensch überstand Jahrtausende mit dem Immunsystem und Placebos) und wie unnötig oder überzogen die Heilsversprechen von Vitamin- oder Homöopathieprodukten sind, der muss glauben, dass es ständig eines Wunders von außen bedürfte.

Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Natürlich gibt es viele Situationen und Krankheiten, in denen wir die Medizin benötigen, weil es der Körper nicht allein schafft. Aber ich halte diese »Verlegenheitstherapien« einfach für schrecklich. Und ich empfinde es als die Aufgabe der Zukunft, mehr darüber aufzuklären, dass es uns allen nicht weiterhilft, Medizin auf diese Weise zu betreiben.

Manche betrachten die Aufklärung als eine Hinwegnahme von Hoffnung. Ich sehe das anders. Besteht Aufklärung nicht darin, dass wir bloßen Glauben und verzweifelte Hoffnung durch Wissen und Zuversicht ersetzen? Das spart uns in der Medizin ganz praktisch Geld, denn Unnötiges wird nicht länger oder nicht mehr so häufig verschrieben. Und es erspart uns die Illusion, es bräuchte eine Alternative zu guter Medizin. Denn diese besteht manchmal eben auch im Nichtstun und Nichthandeln.

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