Kolumnen: Nichts für zarte Seelen
Wirklich nicht.
Ich hab' Sie gewarnt.
Schon erlebt? Sie geraten in einem Naturkundemuseum oder in einer anatomischen Sammlung vor die Vitrinen, in denen die Missbildungen in Formalin schwimmen. Es wird einem ganz blümerant. Faszination und Schrecken halten sich die Waage, man guckt, wendet sich verstört ab, geht weg, doch die Neugier zieht einen wieder hin.
Und Sie stehen davor, vor dieser und vor anderen Missbildungen, und Ihnen wird auf einmal fast schmerzlich bewusst, dass es durchaus nicht selbstverständlich ist, dass Sie nur fünf Finger an der Hand haben und nicht sieben. Und Sie haben damit vollständig recht: Es ist durchaus nicht selbstverständlich. Wissen Sie, wie viel Prozent aller erfolgreich befruchteten Eizellen es noch nicht mal bis zur Einnistung in die Gebärmutter-Schleimhaut packen, weil schon bei den ersten Zellteilungen so viel schief geht, dass gar nichts mehr geht? So um die 70 bis 80 Prozent, schätzen die Gynäkologen. Es ist schwer, das genau zu sagen, weil man diese frühen "Unfälle" in der Embryonalentwicklung, auch die kurz nach der Einnistung, noch nicht einmal bemerkt. Alles viel zu winzig. Arg sind die späten Unfälle, nach der Einnistung: Die machen die Monstrositäten (Fußnote 1).
Beim Anencephalus bleibt die Entwicklung da, wo ich das rote Sternchen in die Abbildung gesetzt habe, einfach hängen, während der Rest des Körpers sich einigermaßen normal weiterentwickelt. Die Neurulation aber unterbleibt, aus unbekannten Gründen (Fußnote 3). Die Anlage des zentralen Nervensystems bleibt schlicht als Platte offen liegen, die schützenden Knochen können nicht drum herum wachsen: Es fehlt das Schädeldach, es fehlen die dornigen, rückwärtsgerichteten Knochenvorsprünge der Wirbelsäule, die man an sich selbst leicht tasten kann.
Der Anencephalus mit offen liegendem Rückenmark ist die krasseste Form dieser Art von Fehlentwicklung des Nervensystems – aber, wie immer bei den Missbildungen: Es gibt ein Kontinuum, es gibt Abstufungen. Es kann vorkommen, dass am Vorderende, am Kopf, alles gut geht, und dass nur im Bereich des Rückenmarks die Bildung des Neuralrohres unterbleibt: Das nennt man dann einen offenen Spaltrücken, "Spina bifida aperta". Man kann das überleben, wenn auch um den Preis schwerster Behinderungen (Lähmungen).
Im allerharmlosesten Falle geht die Neurulation nur an einer einzigen, eng umschriebenen Stelle schief. Ich hab' das in der Abbildung mit zwei roten Sternchen markiert. Das eigentlich schon geschlossene Neuralrohr bleibt dabei an der Haut, die sich über ihm schließt, einfach kleben, und die von unten und den beiden Seiten herumwachsenden Knochenbögen der Wirbelsäule können sich an dieser einen Stelle nicht zusammenkommen. Man hat dann ein kleines »Loch« in der Wirbelsäule, an einer Stelle (meist im Lenden- oder Kreuzbeinbereich) fehlt der tastbare Dornfortsatz, statt dessen ist da ein weiches, mitunter stark behaartes Grübchen. Man nennt das eine "Spina bifida occulta", einen "versteckten Spaltrücken". Es ist eine harmlose Fehlbildung – ein knappes Viertel von uns hat sie (Fußnote 4). Nur zufällig sind wir keine Monstren geworden, die Möglichkeit war da.
Schauen Sie sich das Schema rechts in der Abbildung noch mal genau an. In ihm steckt eine sehr beunruhigende Einsicht. Die Zwillingsmissbildungen stellen ein Kontinuum an Formen und Übergängen dar, die man auf einer Skala anordnen kann. An den extremen Enden der Skala (rechts und links oben) stehen: die normalen, vollständig getrennten eineiigen Zwillinge (links) und der mit sich selbst identische, aus rechter und linker Hälfte bestehende Mensch. Wir sind also, egal ob wir einen Zwilling haben oder nicht, eigentlich jeweils die Extremform einer siamesischen Missbildung. Sind wir eines, so sind wir zwei Hälften, die vollständig ungetrennt blieben. Sind wir zwei, so sind wir eines, das vollständig getrennt wurde.
WIR sind die Monster.
Helmut Wicht ist promovierter Biologe und Privatdozent für Anatomie an der Dr. Senckenbergischen Anatomie der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Fußnoten:
(1) Kennen Sie noch das alte deutsche Wort für Missgeburt: "Wechselbalg"? Es taucht in Grimms Märchen öfter auf. Und man muss, heißt es an einer Stelle sogar, einen Wechselbalg auf die Herdplatte legen, bis er platzt. Gruslig. Ein anderes altes Wort für Missgeburt ist "Käulkopf" oder "Froschkopf" – und das passt ganz gut zum Aussehen dieser Anencephalen.
(2) Die Missbildung ist gar nicht so selten – man schätzt, dass jede tausendste Schwangerschaft betroffen ist. Bei Vorsorgeuntersuchungen kann sie früh erkannt werden. Außer einem Abort kann man aber nichts tun.
(3) Es gibt eine genetische Prädisposition, aber die ist nur für wenige Fälle verantwortlich. Die Missbildung tritt bei wohlsituierten Eltern weitaus seltener auf als bei solchen mit niedrigem Lebensstandard. Man vermutet deshalb, dass mangelhafte Ernährung (essenzielle Fettsäuren, Vitamine) eine Rolle spielen könnte.
(4) D. Boone, D. Parsons, S. M. Lachmann, and T. Sherwood (1985): Spina bifida occulta: lesion or anomaly? Clinical Radiology, Vol. 36. pp. 159–161.
(5) Dietrich Starck (1975): Embryologie. Thieme, Stuttgart, 704 pp.
Ich hab' Sie gewarnt.
Schon erlebt? Sie geraten in einem Naturkundemuseum oder in einer anatomischen Sammlung vor die Vitrinen, in denen die Missbildungen in Formalin schwimmen. Es wird einem ganz blümerant. Faszination und Schrecken halten sich die Waage, man guckt, wendet sich verstört ab, geht weg, doch die Neugier zieht einen wieder hin.
Was, um Gottes willen, ist das? Ein Anencephalus. Ist das echt? Ja. Ist das so auf die Welt gekommen? Ja. Gibt's das heut' noch? Ja. Hat das gelebt? Ja. Lange? Nein. Kann man da 'was machen? Nein, schaun' Sie doch mal hin, sagt der kaltblütige Anatom, wo soll denn der Arzt die Oberseite des Kopfes samt Gehirn hernehmen, wenn sie fehlen?
Und Sie stehen davor, vor dieser und vor anderen Missbildungen, und Ihnen wird auf einmal fast schmerzlich bewusst, dass es durchaus nicht selbstverständlich ist, dass Sie nur fünf Finger an der Hand haben und nicht sieben. Und Sie haben damit vollständig recht: Es ist durchaus nicht selbstverständlich. Wissen Sie, wie viel Prozent aller erfolgreich befruchteten Eizellen es noch nicht mal bis zur Einnistung in die Gebärmutter-Schleimhaut packen, weil schon bei den ersten Zellteilungen so viel schief geht, dass gar nichts mehr geht? So um die 70 bis 80 Prozent, schätzen die Gynäkologen. Es ist schwer, das genau zu sagen, weil man diese frühen "Unfälle" in der Embryonalentwicklung, auch die kurz nach der Einnistung, noch nicht einmal bemerkt. Alles viel zu winzig. Arg sind die späten Unfälle, nach der Einnistung: Die machen die Monstrositäten (Fußnote 1).
Was, um Himmels willen, ist mit dem Anencephalus (Fußnote 2) passiert? Die Anlage unseres zentralen Nervensystems (also das, was Hirn und Rückenmark werden soll) liegt anfänglich als eine von Wülsten flankierte Platte ("Medullarplatte") direkt an der Körperoberfläche, auf der Rückseite von Kopf und Rumpf. Diese Platte knickt dann entlang der Mittellinie v-förmig ein, schließt sich dabei zum Rohr und löst sich endlich ganz von der Oberfläche. Sie wird zum so genannten Neuralrohr, aus dem wiederum Hirn und Rückenmark entstehen. Deshalb ist unser Hirn übrigens innen hohl! Um das Rohr herum, von unten her und an den Seiten hoch, bilden sich Knochen, die das zentrale Nervensystem schützen: die Wirbelsäule und das Schädeldach. Man nennt diesen Faltungsvorgang die "Neurulation", die Bildung des zentralen Nervensystems.
Beim Anencephalus bleibt die Entwicklung da, wo ich das rote Sternchen in die Abbildung gesetzt habe, einfach hängen, während der Rest des Körpers sich einigermaßen normal weiterentwickelt. Die Neurulation aber unterbleibt, aus unbekannten Gründen (Fußnote 3). Die Anlage des zentralen Nervensystems bleibt schlicht als Platte offen liegen, die schützenden Knochen können nicht drum herum wachsen: Es fehlt das Schädeldach, es fehlen die dornigen, rückwärtsgerichteten Knochenvorsprünge der Wirbelsäule, die man an sich selbst leicht tasten kann.
Der Anencephalus mit offen liegendem Rückenmark ist die krasseste Form dieser Art von Fehlentwicklung des Nervensystems – aber, wie immer bei den Missbildungen: Es gibt ein Kontinuum, es gibt Abstufungen. Es kann vorkommen, dass am Vorderende, am Kopf, alles gut geht, und dass nur im Bereich des Rückenmarks die Bildung des Neuralrohres unterbleibt: Das nennt man dann einen offenen Spaltrücken, "Spina bifida aperta". Man kann das überleben, wenn auch um den Preis schwerster Behinderungen (Lähmungen).
Im allerharmlosesten Falle geht die Neurulation nur an einer einzigen, eng umschriebenen Stelle schief. Ich hab' das in der Abbildung mit zwei roten Sternchen markiert. Das eigentlich schon geschlossene Neuralrohr bleibt dabei an der Haut, die sich über ihm schließt, einfach kleben, und die von unten und den beiden Seiten herumwachsenden Knochenbögen der Wirbelsäule können sich an dieser einen Stelle nicht zusammenkommen. Man hat dann ein kleines »Loch« in der Wirbelsäule, an einer Stelle (meist im Lenden- oder Kreuzbeinbereich) fehlt der tastbare Dornfortsatz, statt dessen ist da ein weiches, mitunter stark behaartes Grübchen. Man nennt das eine "Spina bifida occulta", einen "versteckten Spaltrücken". Es ist eine harmlose Fehlbildung – ein knappes Viertel von uns hat sie (Fußnote 4). Nur zufällig sind wir keine Monstren geworden, die Möglichkeit war da.
Gehen wir eine Vitrine weiter. Ein Craniothoracopagus, eine seltene Spielart des siamesischen Zwillings. Die Geschichte kennen Sie jetzt wahrscheinlich. Siamesische Zwillinge sind stets eineiige Zwillinge, bei denen die Teilung der einen Eizelle oder des einen frühen Embryos, die zu zwei genetisch identischen Individuen führen kann, eben eine nur unvollständige Trennung blieb. Auch hier wieder: Es gibt ein Kontinuum an Formen dieser Missbildung, sie sind in der Abbildung rechts schematisch zusammengefasst. In den harmlosesten Fällen (im Zentrum des Schemas) ist es nur eine zarte Gewebebrücke, ein wenig Haut, die die Körper aneinander fesselt. Man kann sie dann problemlos trennen. In den wirklich bösen Fällen teilen sich die Zwillinge Köpfe, Rümpfe, Becken und Beine.
Schauen Sie sich das Schema rechts in der Abbildung noch mal genau an. In ihm steckt eine sehr beunruhigende Einsicht. Die Zwillingsmissbildungen stellen ein Kontinuum an Formen und Übergängen dar, die man auf einer Skala anordnen kann. An den extremen Enden der Skala (rechts und links oben) stehen: die normalen, vollständig getrennten eineiigen Zwillinge (links) und der mit sich selbst identische, aus rechter und linker Hälfte bestehende Mensch. Wir sind also, egal ob wir einen Zwilling haben oder nicht, eigentlich jeweils die Extremform einer siamesischen Missbildung. Sind wir eines, so sind wir zwei Hälften, die vollständig ungetrennt blieben. Sind wir zwei, so sind wir eines, das vollständig getrennt wurde.
WIR sind die Monster.
Helmut Wicht ist promovierter Biologe und Privatdozent für Anatomie an der Dr. Senckenbergischen Anatomie der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Fußnoten:
(1) Kennen Sie noch das alte deutsche Wort für Missgeburt: "Wechselbalg"? Es taucht in Grimms Märchen öfter auf. Und man muss, heißt es an einer Stelle sogar, einen Wechselbalg auf die Herdplatte legen, bis er platzt. Gruslig. Ein anderes altes Wort für Missgeburt ist "Käulkopf" oder "Froschkopf" – und das passt ganz gut zum Aussehen dieser Anencephalen.
(2) Die Missbildung ist gar nicht so selten – man schätzt, dass jede tausendste Schwangerschaft betroffen ist. Bei Vorsorgeuntersuchungen kann sie früh erkannt werden. Außer einem Abort kann man aber nichts tun.
(3) Es gibt eine genetische Prädisposition, aber die ist nur für wenige Fälle verantwortlich. Die Missbildung tritt bei wohlsituierten Eltern weitaus seltener auf als bei solchen mit niedrigem Lebensstandard. Man vermutet deshalb, dass mangelhafte Ernährung (essenzielle Fettsäuren, Vitamine) eine Rolle spielen könnte.
(4) D. Boone, D. Parsons, S. M. Lachmann, and T. Sherwood (1985): Spina bifida occulta: lesion or anomaly? Clinical Radiology, Vol. 36. pp. 159–161.
(5) Dietrich Starck (1975): Embryologie. Thieme, Stuttgart, 704 pp.
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