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Epigenetik: Schiebt es nicht auf die Mütter!

Welche Auswirkungen auf das ungeborene Kind haben gesundheitliche Einflüsse auf dessen Vorfahren? Das ist ungeklärt, führt aber zu erregten Diskussionen, warnen Forscher um Sarah S. Richardson von der Harvard University in Cambridge.
DNA-Strang

Sei es in der alten Volksmedizin oder in unserer modernen Welt – schon immer wollten wir wissen, welche Erlebnisse einer Schwangeren ihr ungeborenes Kind prägen. Die letzte Welle dieser Diskussion kommt aus der Epigenetik, einem Forschungszweig, bei dem es um vererbbare Veränderungen der DNA geht, die zwar die Genaktivität, nicht aber die Nukleotidsequenz beeinflussen. Diese DNA-Modifikationen sollen eine Rolle dabei spielen, ob unsere Kinder in der Zukunft an Fettleibigkeit und Diabetes erkranken oder mangelnde Stressresistenz entwickeln.

Die Schlagzeilen in der Presse zeigen, wie die neuen Erkenntnisse oft einseitig auf den Einfluss der Mutter reduziert werden. "Ernährung der Mutter in der Schwangerschaft verändert Baby-DNA" (BBC), "Omas Erfahrungen beeinflussen deine Gene" (Discover) oder "Schwangere Überlebende vom 11. September gaben Trauma an Kinder weiter" (The Guardian). Der Einfluss des Vaters, des Familienlebens und des sozialen Umfelds bleiben hierbei völlig unbeachtet.

Fragen nach den Auswirkungen der Umwelt auf das ungeborene Leben sind Teil eines wachsenden Interesses an dem Forschungsfeld namens Developmental Origin of Health and Disease, kurz DOHaD. So wurde beispielsweise festgestellt, dass 45 Prozent der Kinder von Typ 2-Diabetikerinnen selbst mit Mitte zwanzig Diabetes bekamen, wohingegen nur 9 Prozent der Kinder erkrankten, deren Mütter erst nach der Schwangerschaft Diabetes entwickelten.

Bedenkliche Aktionen

Die Erkenntnisse der DOHaD-Forschung sollten im Idealfall Strategien zur Unterstützung von Eltern und Kindern bieten. In Wirklichkeit machen Übertreibungen und Vereinfachungen die Mütter zum Sündenbock und führen nur dazu, das Leben der Schwangeren stärker zu überwachen und zu reglementieren. Wir als Wissenschaftler aus dem Bereich DOHaD und Kulturwissenschaften sind darüber sehr besorgt. Wir appellieren deshalb an Forscher, Pressevertreter und Journalisten, immer die Auswirkungen von verantwortungslosen Diskussionen zu bedenken.

Schon lange macht die Gesellschaft immer die Mütter für die Krankheiten ihrer Kinder verantwortlich. Allein vorläufige Hinweise auf eine schädigende Wirkung führen zu Verhaltensregeln, die über das Ziel hinausschießen. In den 1970er Jahren wurde erstmals das fetale Alkoholsyndrom (FAS) beschrieben. Hierbei handelt es sich um eine Reihe von physischen und mentalen Problemen bei Kindern, die auf starken Alkoholkonsum der Mütter während der Schwangerschaft zurückzuführen sind. Im Jahr 1981 legte der amerikanische Sanitätsdienst des Militärs fest, dass Alkohol in der Schwangerschaft ganz grundsätzlich problematisch ist. Alkohol während der Schwangerschaft wurde infolgedessen stigmatisiert und sogar unter Strafe gestellt. Bars und Restaurants mussten auf Warnschildern darauf hinweisen, dass Alkohol zu Geburtsfehlern führen kann. Viele Frauen, die Alkohol eh nur mäßig konsumiert hatten, verzichteten nun in der Schwangerschaft völlig darauf – weniger FAS-Fälle gab es trotzdem nicht.

Schwangere mit Rotweinglas | Dürfen Schwangere Alkohol trinken – oder sollten sie ihn gänzlich meiden, um Schäden für ihr Ungeborenes zu verhindern? Neuere Studien deuten darauf hin, dass sehr mäßiger Alkoholkonsum keine negativen Folgen hat.

Auch wenn es sicher stimmt, dass starker Alkoholkonsum während der Schwangerschaft das Kind gefährdet, so wurde doch das Risiko eines mäßigen Konsums durch Politiker überbewertet. Wie eine dänische Studie vor Kurzem bestätigte, hat mäßiger Alkoholkonsum von Schwangeren keine nachteiligen Folgen für ihre Kinder. Trotzdem führen unpassende Warnungen immer noch dazu, dass sich Schwangere bei einem gelegentlichen kleinen Schluck schlecht vorkommen.

In den 1980er und 1990er Jahren führte der steigende Konsum von Crack, der rauchbaren Form von Kokain, in den USA zu einer richtigen Medienhysterie über so genannte "Crack-Babys" – Kinder, die im Mutterleib Kokain ausgesetzt waren. Drogen konsumierende Schwangere erhielten keine Sozialleistungen mehr, ihre Kinder wurden ihnen weggenommen, und sie selbst wurden sogar ins Gefängnis gesteckt. Mehr als 400 meist afroamerikanische Frauen wurden strafrechtlich verfolgt, weil sie ihre ungeborenen Kinder auf diese Weise gefährdeten. Auch diese waren von Anfang an stigmatisiert und sozial verdammt. Heutzutage werden Crack und Kokain nicht als schädlicher eingestuft als Tabak oder Alkohol – die strafrechtliche Verfolgung von Schwangeren mit Drogenkonsum geht aber weiter.

Frühere Generationen beschuldigten ihre Frauen bereits auf andere Weise. Noch in den 1970er Jahren wurden die so genannten "Kühlschrankmütter" – eine abfällige Bezeichnung für Mütter, die ihrem Kind nicht genügend emotionale Wärme entgegenbringen – für das Auftreten von Autismus verantwortlich gemacht. Bis ins 19. Jahrhundert wurden Geburtsdeformationen, mentale Defizite und kriminelles Verhalten auf die Ernährung und die nervliche Belastung der Mutter sowie ihre sozialen Kontakte während der Schwangerschaft zurückgeführt.

Auch wenn es heute nicht mehr ganz so extrem ist, so ist die Reaktion der Öffentlichkeit auf Untersuchungen der DOHaD-Forschung doch ähnlich beunruhigend. Der Einfluss allein der Mutter auf das verletzliche Ungeborene wird stark hervorgehoben, die Rolle sozialer Faktoren dagegen gar nicht. Und dies, obwohl die heutigen Studien weit über Drogenkonsum allein hinausgehen und alle Aspekte des täglichen Lebens einbeziehen.

Auf den Kontext kommt es an

Eine Studie aus dem Jahr 2013, auf der Website des Gesundheitsservice WebMD zu finden, zeigt, welche Art von verantwortungsvoller Berichterstattung wir gerne öfter sehen würden. Die Studie beschreibt ein vierfach gesteigertes Risiko für bipolare Störungen bei Kindern, deren Mutter während der Schwangerschaft an Influenza erkrankt war. Sie betont aber auch ein insgesamt nur kleines Gesamtrisiko und die Therapierbarkeit von bipolaren Störungen. Es wird auch angesprochen, dass nur einer von vielen möglichen Risikofaktoren betrachtet und keine Ursache-Wirkungs-Beziehung aufgestellt wurde. Hinzu kommt, dass keine erschreckenden Zahlen in der Titelzeile prangen.

In einer anderen Studie aus dem Jahr 2012 waren wesentlich weniger Zusatzinformationen zu finden. Laut den Untersuchungen an Ratten mit einer hochkalorischen Fetternährung während der Schwangerschaft hatte die zweite Generation eine 80-prozentigeige Wahrscheinlichkeit für Krebs, im Vergleich zu Kontrollratten mit einem 50-prozentigen Risiko. Die Schlagzeile hieß: "Warum du dich für das Essverhalten deiner Großmutter interessieren solltest". "Denk zweimal nach, bevor du die Tüte Kartoffelchips leerst. Du isst für mehr als zwei", stand in einer anderen Story. Die Artikel erwähnten aber nicht, dass die eingesetzten Ratten schon von Haus aus ein hohes Krebsrisiko hatten. Außerdem wurden inkonsistente Ergebnisse der Studie nicht aufgeführt. So traten bei den Ratten der dritten Generation sogar weniger Tumoren auf als bei den Kontrolltieren.

Unangemessen hervorgehobene und in einen unpassenden Kontext gestellte Aussagen finden sich auch in eigentlich gut gemeintem Informationsmaterial. Die Website beginbeforebirth.org wird von Wissenschaftlern vom Imperial College in London zusammengestellt, um "schwangere Frauen zu unterstützen und betreuen". Ein Video auf der Website stellt einen 19-Jährigen vor, der nach einer Arbeitsstrafe wegen Plünderung aus dem Gefängnis entlassen wurde. "Seine Probleme könnten sich direkt auf das ungeborene Kind auswirken", sagt der Sprecher. "Können wir Verbrechen nicht verhindern, wenn wir uns besser um Schwangere kümmern?" Solche Vorschläge stellen die Befunde aktueller Studien allenfalls völlig verzerrt dar.

Nicht nur die Mutter hat Einfluss

Inzwischen wird in der DOHaD-Forschung immer mehr anerkannt, dass auch Väter und Großeltern die Gesundheit der Nachkommen beeinflussen. So führen Ernährung und Stress zu epigenetischen Veränderungen der Spermien und erhöhen das Risiko der Nachkommen für Herzerkrankungen, Autismus und Schizophrenie. Auch der Einfluss des Vaters auf den psychischen und physischen Zustand der Mutter wird immer mehr erkannt, genauso wie der Einfluss von Rassendiskriminierung, mangelndem Zugang zu gesunder Ernährung und die Auswirkungen toxischer Umweltsubstanzen.

So gesehen bieten die Erkenntnisse aus der DOHaD-Forschung eine gute Grundlage für die Verbesserung der Lebensqualität von Frauen und Männern. Sie dürfen aber nicht zur Belehrung Einzelner genutzt werden, wie im Jahr 2014 in einer Sendung der US-Medienorganisation National Public Radio geschehen. Hier wurde eine tierexperimentelle Studie zur Epigenetik mit den Worten kommentiert: "In der Schwangerschaft sollten Sie auf gesundes Essen umsteigen, wenn Sie nicht wollen, dass Ihr Kind zeitlebens mit Fettleibigkeit zu kämpfen hat." Wie sollen Frauen mit Zeitmangel oder ohne Zugang zu gesundem Essen auf solch einen Ratschlag reagieren?

Wir appellieren eindringlich an Wissenschaftler, Erzieher und Reporter, immer zu bedenken, wie diese Studien bei Diskussionen im täglichen Leben ausgelegt werden könnten. Auch wenn keiner bestreitet, dass ein gesundes Verhalten während der Schwangerschaft wichtig ist, so sollten doch alle Beteiligten stets auch klarmachen, dass die Studienergebnisse noch zu vorläufig sind, um Grundlage von Empfehlungen für das tägliche Leben zu sein.

DNA-Strang | Die Ernährung und das soziale Umfeld beeinflussen, wie unsere Gene abgelesen werden – damit entscheiden sie auch über unser Wohlergehen mit.

Vorsicht sollte man in vier Bereichen walten lassen. Erstens sollte man es vermeiden, von Tierexperimenten uneingeschränkt auf den Menschen zu schließen. Die in Studien willkommene kurze Lebensdauer der Tiere und die große Zahl von Nachkommen führen dazu, dass sich die Ergebnisse nur schwer auf den Menschen übertragen lassen. Zweitens sollte immer die Rolle von beiden Elternteilen – Vater und Mutter – betont werden. Dies könnte den Trend bremsen, negative Folgen allein dem Verhalten der Mutter zuzuschreiben. Drittens sollte immer die Komplexität der Situation hervorgehoben werden. Einflüsse auf das Kind im Mutterleib kann das Erkrankungsrisiko erhöhen oder senken, genauso wie eine Vielzahl miteinander verflochtener und noch unverstandener Faktoren aus den Bereichen Genetik, Lebensstil, Sozioökonomie und Umwelt. Viertens sollte immer die Rolle der Gesellschaft einbezogen werden. Viele der Stressoren im Mutterleib, die von der DOHaD mit negativen Auswirkungen über die Generationen hinweg belegt wurden, korrelieren mit dem sozialen Gefälle von Klasse, Rasse und Geschlecht. Deshalb sind gesellschaftliche Veränderungen statt individueller Lösungen vonnöten.

Bisherige Auswüchse in Richtung "Schande über die Mutter" mögen vielleicht die Begeisterung über Forschungsergebnisse der Epigenetik dämpfen. Aber letztendlich wird die Forschung doch dazu beitragen, die Gesundheit unserer Nachkommen zu verbessern, ohne die Freiheit der Mütter einzuschränken.

Der Artikel erschien unter dem Titel "Society: Don't blame the mothers" in "Nature" 512, S. 131–132, 2014.

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