Kolumnen: Vom Hirnpferd
Das da:
"Dieser Ventrikel Böden, und zwar die Teile, die zur Mitte weisen, überragt [...] eine sich erhebende weiße Substanz, die aus der unteren Fläche wie ein Postament hervorgehoben wird, und die sich in einen harfenförmigen oder schildkrötenpanzergleich gewölbten Körper fortsetzt und die, der Länge nach, nach vorne, zur Stirn hin, in einer unregelmäßigen Form endet und die insgesamt mit einer gebogenen Figur versehen ist, welche an den Hippocampus, das ist das Abbild des Meer-Pferdchens, oder besser, des Seidenwurms, erinnert ..."
Fein. Und während wir uns daranmachen, die Wunderwelt der Assoziationen der Anatomen zu sezieren, erklär ich Ihnen parallel in neuzeitlichen Worten, was man da eigentlich sieht. (1a) ist das, was wir heute den "Hippocampus" nennen. Das ist, ganz klar, das "Postament" von Herrn Arantius. Die "unregelmäßige Form" (1b), in der das Ganze nach vorne, zu Stirn hin, endet, trägt einen ganz und gar albernen Namen, den sie einem holländischen Anatomen, einem gewissen Herrn Diemerbroek, zu verdanken hat, der 100 Jahre nach Arantius lebte. Der nannte das Vorderende das "Pes hippocampi", was nun verbatim "Fuß des Seepferdchens" heißt. Seepferdchen haben aber gar keine Füße, sie haben noch nicht mal, wie jeder anständige Fisch, Brust- und Bauchflossen, sie haben nur eine Rückenflosse. So ein Quatsch! Aber wenn schon Quatsch, dann richtig und mit aller Konsequenz: Die Knubbel vorne am Fuß (1c), das sind dann natürlich die "Digitationes pedis hippocampi", also die Seepferdchenfußzehen. Sie heißen heute noch so. Schon drollig, nicht wahr? Selbst wenn man dem Herrn Arantius zugesteht, dass die gebogene Gesamtgestalt vielleicht doch irgendwie an ein Meeresrösslein mit Rumpf und Wickelschwanz erinnert – selbst wenn man das zugibt, dann hätte das Seepferd nun, nach Herrn Diemerbroeks Operation, die Fußzehen am Kopf. Ei, ei ...
Nach hinten zu wird die Sache schlank und schlanker und fängt an, sich in einem eleganten Bogen zu krümmen (2a-b). Dazu sagen wir heute "Fornix", und das heißt "Gewölbe". Das ist also des Professor Arantius' "hochgewölbter Schildkrötenpanzer". Gar nicht so schlecht, dieser Vergleich. Denn der Fornix der Gegenseite kommt noch dazu, die beiden vereinigen sich, und das Ganze sieht wirklich ein wenig aus wie ein Rippengewölbe. Und im Übrigen sieht ein Schildkrötenpanzer, von innen besehen, auch aus wie ein Gewölbe, man sieht da wirklich die Rippen unter den Knochenplatten. Weswegen der Herr Arantius an dieser Textstelle das lateinische Wort testudo (Schildkröte) verwendete, das eben auch "geripptes Gewölbe" bedeuten kann.
Umso verwunderlicher ist der "Hippocampus". Nochmal – sehen Sie da irgendwo ein Seepferd? Nun – Bologna liegt nicht am Meer, vielleicht hat ja der Herr Arantius nie ein Seepferdchen zu Gesicht bekommen. Diemerbroek (der mit dem Pferdefuß) lebte in Utrecht, und da gibt es, soweit ich weiß, auch keine Seepferdchen. Der berühmte Anatom Josef Hyrtl hat 1880, in seiner "Onomatologia anatomica" (Fußnote 2), einen matten Versuch zur Ehrenrettung der Assoziationen seiner Altvordern unternommen. Nicht das Seepferdchen sei gemeint gewesen, sondern der "Hippokamp", ein Fabelwesen, vorne Pferd, hinten Fisch, mitunter an Neptunsbrunnen, so auch an der Fontana di Trevi in Rom, zu bewundern. Naja ... wie ein "Hippokamp" sieht's auch nicht aus. Außerdem haben die Vorderläufe mit Schwimmflossen ohne richtige Zehen, und noch dazu sind diese Vorderbeine gerade andersherum gebogen als der Hippocampus und der Fornix. Blind, die Anatomen waren blind, zumindest auf dem Seepferdchenauge.
"Die Gall dieser Thier soll eine sonderbahre Artzney seyn wider die Mängel der Augen."
Ha! Erwischt! Der Professor Arantius hatte an dem Tag vergessen, seine Seepferdchengalle zu schlucken, und da konnt' er halt nicht richtig gucken und entscheiden, ob's jetzt ein Meerpferd oder ein Seidenwurm war!
Seepferdgalle, echte und Fabelseepferde ... lauter Verrücktheiten. Noch verrückter ist es freilich, dass die Anatomie selbst all die Irren, die von nicht vorhandenen Seetieren im Gehirn fabulierten, einholte. Als ob ihr selbst etwas an dem Seepferdchen gelegen wäre, als ob irgendein alberner, kichernder Anatomiegott zu sich gesagt hätte: "Na, da woll'n wir doch mal sehen, ob wir da nicht doch noch 'n Gaul reinbekommen! Ich liebe Seepferde!"
In Abbiategrasso, einem verschlafenen Städtchen bei Mailand, saß Camillo Golgi (1844-1926) am Küchentisch und planschte mit allerlei neumodischen fotografischen Reagenzien und mit Hirngewebe herum, das er später im Mikroskop beschaute. Mit durchschlagendem Erfolg, er erfand die reazione nera, die erste Färbemethode, mit der man einzelne Nervenzellen darstellen konnte.
Das da:
Da ist es, das Seepferdchen! Im Hippocampus verborgen! Ein trojanisches Seepferdchen, sozusagen ... die "Fimbria" (g) ist seine Schnauze, "Fascia dentata" (d) und "Cornu ammonis" (c) bilden seinen Kopf, das "Subiculum" (f) ist der Hals und der "Gyrus parahippocampalis" (die unteren f) ist sein Bauch.
Aber der Ringelschwanz fehlt. Und ... hm ... ganz ehrlich: Sieht das nicht mehr aus wie ein Schwan? Wo ist meine Seepferdchengalle? Ah, da! Jetzt guck ich da noch mal ganz genau hin und schreib das auf:
"Dieser Ventrikel Böden, und zwar die Teile, die zur Mitte weisen, überragt eine sich erhebende weiße Substanz, die aus der unteren Fläche wie ein Postament hervorgehoben wird, und die, sofern man sie quer schneidet und sie sich im Mikroskop bei schwacher Vergrößerung beschaut, und zwar so, dass der mittenwärts gerichtete Rand des Postaments nach unten weist, insgesamt mit einer mehrfach gebogenen Figur versehen ist, welche an den Hippocampus, das ist das Abbild des Meer-Pferdchens, oder besser, eines Schwanes, erinnert, und die daher den 'Hirnschwan' oder 'Cygnus cerebri' zu benennen mir wohl beliebt."
Muss ich das jetzt ins Lateinische übersetzen, damit's noch echter klingt? Besser nicht. Mir schwant nämlich, dass mich dann womöglich einer ernst nähme, und dass in Folge vielleicht gar noch ein Schwan im Hirn schwömme. Das muss nicht sein. Wir haben schon Postamente, Harfen, Füße, Zehen, Seidenwürmer, Rippengewölbe, Widderhörner ("Cornu ammonis"), Ruhekissen ("Subiculum"), Zahnbänder ("Fascia dentata"), Fransenränder ("Fimbria"), Seepferdchen und Hippokampen im Kopf. Das sollte eigentlich reichen.
Helmut Wicht ist promovierter Biologe und Privatdozent für Anatomie an der Dr. Senckenbergischen Anatomie der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Fußnoten:
(1) "Horum ventriculorum basi, quae intro ad medium respicit, candida insurgens supereminet, & quasi adnascitur substantia, quae ab inferiori superficie, velut additamentum, extollitur, psalloidique corpori, seu testudini est continua, ac per longitudinem, in anteriora, versus frontem protenditur inequalique, ac flexuosa figura predita est, quae Hippocampi, hoc est marini equuli effigie(m) refert, vel potius, bo(m)bycini vermis ca(n)didi ..."
(2) Josef Hyrtl: Onomatologia anatomica. Wilhelm Braumüller, Wien 1880.
(3) Bild und Text aus: Gesneri Tomus V oder Vollkommenes Fisch=Buch / Zweyter Teil [...] nach dem Lateinischen Drucke /von neuem übersehen / an vielen Orten / dem lateinischen Grund-Text / und der gewissen Erfahrung gemaß / verbessert / und / auß der alten gar unverständlichen Dolmetschung / in eine recht deutliche und saubere Teutsche Sprache gebracht. Durch Georgium Hostium M.D. Mit Röm. Keyserl. Majest:Freyheit. Franckfurt / In Verlegung Wilhelm Serlins / Buchhändlers. Getruckt bei Blasius Ilßnern, Anno MDCLXX. (... und das ist nur ein kurzer Auszug aus dem vollständigen Titel. Ist das nicht herrlich, diese barocke Fülle?)
(4) Ich sollte besser sagen: Der Charme der altmodischen Lehrbücher besteht darin, dass sie das offen zugeben. Die modernen tun so, als ob es den menschlichen Beobachter, ohne den es ja letztlich nicht geht, gar nicht gäbe. Mitunter tun sie auch so, als ob es den Leser nicht gäbe. Das macht die Lektüre in den ekelhafteren Fällen (wenn man's lesen muss) unangenehm, in den erfreulicheren Fällen (wenn man's nicht unbedingt lesen muss) erledigt sich das Problem von selbst, denn es gibt dann wirklich keine Leser.
(5) Camillo Golgi: Sulla fina anatomia degli organi centrali di sistema nervoso. V. Sulla fina anatomia di grande piede d'Hippocampo. Milan, Ulrico Hoepli, 1886.
sind Hippocampi. Hippocampus heißt "Seepferdchen", und die gibt's im Meer (rechts) und im Hirn (links) – aber sehen Sie da im linken Teil des Bildes eines? Ich nicht. Aber der Herr Julius Caesar (sic!) Arantius (1530-1589), der Anatomieprofessor in Bologna war, der sah da ein Meerpferd. Oh, er sah sogar noch sehr viel mehr als Meerpferde! Wahrscheinlich hat er so präpariert, wie das für das obige Bild der Fall war, und hat das gesehen, was wir nun auch sehen. Statt dann aber einen Kupferstecher damit zu beauftragen, die Sache zu stechen, um ein druckbares Bild davon zu bekommen – vermutlich reichten die Forschungsgelder mal wieder nicht –, stattdessen setzte er sich nieder und schrieb in seinen vollständig bilderlosen "Observationes anatomicae" (1579/1595):
"Dieser Ventrikel Böden, und zwar die Teile, die zur Mitte weisen, überragt [...] eine sich erhebende weiße Substanz, die aus der unteren Fläche wie ein Postament hervorgehoben wird, und die sich in einen harfenförmigen oder schildkrötenpanzergleich gewölbten Körper fortsetzt und die, der Länge nach, nach vorne, zur Stirn hin, in einer unregelmäßigen Form endet und die insgesamt mit einer gebogenen Figur versehen ist, welche an den Hippocampus, das ist das Abbild des Meer-Pferdchens, oder besser, des Seidenwurms, erinnert ..."
Er schrieb das auf Latein (Fußnote 1), ich hab's übersetzt. Aber verstehen Sie das? Was der alles und zugleich dort sah! Ein Postament, eine Harfe, ein Schildkrötenpanzer-Gewölbe und ein Seepferd, das aber eigentlich wie ein Seidenwurm aussieht ... das Seepferd ist hängen geblieben. Die Harfe und das Gewölbe übrigens auch.
Fein. Und während wir uns daranmachen, die Wunderwelt der Assoziationen der Anatomen zu sezieren, erklär ich Ihnen parallel in neuzeitlichen Worten, was man da eigentlich sieht. (1a) ist das, was wir heute den "Hippocampus" nennen. Das ist, ganz klar, das "Postament" von Herrn Arantius. Die "unregelmäßige Form" (1b), in der das Ganze nach vorne, zu Stirn hin, endet, trägt einen ganz und gar albernen Namen, den sie einem holländischen Anatomen, einem gewissen Herrn Diemerbroek, zu verdanken hat, der 100 Jahre nach Arantius lebte. Der nannte das Vorderende das "Pes hippocampi", was nun verbatim "Fuß des Seepferdchens" heißt. Seepferdchen haben aber gar keine Füße, sie haben noch nicht mal, wie jeder anständige Fisch, Brust- und Bauchflossen, sie haben nur eine Rückenflosse. So ein Quatsch! Aber wenn schon Quatsch, dann richtig und mit aller Konsequenz: Die Knubbel vorne am Fuß (1c), das sind dann natürlich die "Digitationes pedis hippocampi", also die Seepferdchenfußzehen. Sie heißen heute noch so. Schon drollig, nicht wahr? Selbst wenn man dem Herrn Arantius zugesteht, dass die gebogene Gesamtgestalt vielleicht doch irgendwie an ein Meeresrösslein mit Rumpf und Wickelschwanz erinnert – selbst wenn man das zugibt, dann hätte das Seepferd nun, nach Herrn Diemerbroeks Operation, die Fußzehen am Kopf. Ei, ei ...
Nach hinten zu wird die Sache schlank und schlanker und fängt an, sich in einem eleganten Bogen zu krümmen (2a-b). Dazu sagen wir heute "Fornix", und das heißt "Gewölbe". Das ist also des Professor Arantius' "hochgewölbter Schildkrötenpanzer". Gar nicht so schlecht, dieser Vergleich. Denn der Fornix der Gegenseite kommt noch dazu, die beiden vereinigen sich, und das Ganze sieht wirklich ein wenig aus wie ein Rippengewölbe. Und im Übrigen sieht ein Schildkrötenpanzer, von innen besehen, auch aus wie ein Gewölbe, man sieht da wirklich die Rippen unter den Knochenplatten. Weswegen der Herr Arantius an dieser Textstelle das lateinische Wort testudo (Schildkröte) verwendete, das eben auch "geripptes Gewölbe" bedeuten kann.
Und jetzt – jetzt komm zumindest ich ins Staunen. Das Ding da im Bild ist ein "Psalterium", eine altmodische Harfe. So nennen die Anatomen bis heute den dreieckigen Teil des Fornix (2b), der die beiden Schenkel des Fornix (2a) verbindet, bevor die sich im Gipfel des Gewölbes vereinigen. Über das Psalterium sind quer die Saiten gespannt – und die dreieckige Psalteriumsplatte des Fornix besteht tatsächlich aus lauter quer verlaufenden Nervenfasern, die die rechten und linken Hippocampi miteinander verbinden. Das ist aber gar nicht leicht zu sehen und zu präparieren, der Herr Arantius muss an dem Tag gute Augen und gutes Werkzeug gehabt haben.
Umso verwunderlicher ist der "Hippocampus". Nochmal – sehen Sie da irgendwo ein Seepferd? Nun – Bologna liegt nicht am Meer, vielleicht hat ja der Herr Arantius nie ein Seepferdchen zu Gesicht bekommen. Diemerbroek (der mit dem Pferdefuß) lebte in Utrecht, und da gibt es, soweit ich weiß, auch keine Seepferdchen. Der berühmte Anatom Josef Hyrtl hat 1880, in seiner "Onomatologia anatomica" (Fußnote 2), einen matten Versuch zur Ehrenrettung der Assoziationen seiner Altvordern unternommen. Nicht das Seepferdchen sei gemeint gewesen, sondern der "Hippokamp", ein Fabelwesen, vorne Pferd, hinten Fisch, mitunter an Neptunsbrunnen, so auch an der Fontana di Trevi in Rom, zu bewundern. Naja ... wie ein "Hippokamp" sieht's auch nicht aus. Außerdem haben die Vorderläufe mit Schwimmflossen ohne richtige Zehen, und noch dazu sind diese Vorderbeine gerade andersherum gebogen als der Hippocampus und der Fornix. Blind, die Anatomen waren blind, zumindest auf dem Seepferdchenauge.
In dem berühmten "Fischbuch" (Fußnote 3) des Herrn Gesner von 1670 finde ich eine Schnurre, die bestens zur Blindheit der Anatomen passt. Freilich ist da auch das "Meerpferdt", der echte Hippocampus, drin.
Diese alten naturwissenschaftlichen Lehrbücher haben den bestechenden Charme, jedes und alle Wesen durch die anthropozentrische Brille zu betrachten (Fußnote 4). So auch das Seepferd. Knapp die Hälfte des Eintrages bei Gesner ist der kulinarischen (enttäuschend) und pharmakologischen (sehr viel versprechend) Nutzanwendung dieses Tierchens gewidmet, und der letzte Satz lautet:
"Die Gall dieser Thier soll eine sonderbahre Artzney seyn wider die Mängel der Augen."
Ha! Erwischt! Der Professor Arantius hatte an dem Tag vergessen, seine Seepferdchengalle zu schlucken, und da konnt' er halt nicht richtig gucken und entscheiden, ob's jetzt ein Meerpferd oder ein Seidenwurm war!
Seepferdgalle, echte und Fabelseepferde ... lauter Verrücktheiten. Noch verrückter ist es freilich, dass die Anatomie selbst all die Irren, die von nicht vorhandenen Seetieren im Gehirn fabulierten, einholte. Als ob ihr selbst etwas an dem Seepferdchen gelegen wäre, als ob irgendein alberner, kichernder Anatomiegott zu sich gesagt hätte: "Na, da woll'n wir doch mal sehen, ob wir da nicht doch noch 'n Gaul reinbekommen! Ich liebe Seepferde!"
In Abbiategrasso, einem verschlafenen Städtchen bei Mailand, saß Camillo Golgi (1844-1926) am Küchentisch und planschte mit allerlei neumodischen fotografischen Reagenzien und mit Hirngewebe herum, das er später im Mikroskop beschaute. Mit durchschlagendem Erfolg, er erfand die reazione nera, die erste Färbemethode, mit der man einzelne Nervenzellen darstellen konnte.
Mit der Methode stürzte er sich auf den Hippocampus, ward Professor in Pavia, schrieb wunderschöne Publikationen und kriegte 1906 dafür sogar einen Nobelpreis. Und so nebenher, ohne dass er es wirklich merkte (er schreibt nichts davon), hat er den Hippocampus entdeckt.
Das da:
ist eine Abbildung aus einer seiner berühmtesten Publikationen (Fußnote 5). Es ist eine mikroskopische Übersicht, man sieht keine einzelnen Nervenzellen, sondern nur die grobe Schichtung von Nervenzellen und -fasern, wie sie erscheint, wenn man Arantius' "Postament" samt Umgebung quer durchschneidet und im Mikroskop beschaut.
Da ist es, das Seepferdchen! Im Hippocampus verborgen! Ein trojanisches Seepferdchen, sozusagen ... die "Fimbria" (g) ist seine Schnauze, "Fascia dentata" (d) und "Cornu ammonis" (c) bilden seinen Kopf, das "Subiculum" (f) ist der Hals und der "Gyrus parahippocampalis" (die unteren f) ist sein Bauch.
Aber der Ringelschwanz fehlt. Und ... hm ... ganz ehrlich: Sieht das nicht mehr aus wie ein Schwan? Wo ist meine Seepferdchengalle? Ah, da! Jetzt guck ich da noch mal ganz genau hin und schreib das auf:
"Dieser Ventrikel Böden, und zwar die Teile, die zur Mitte weisen, überragt eine sich erhebende weiße Substanz, die aus der unteren Fläche wie ein Postament hervorgehoben wird, und die, sofern man sie quer schneidet und sie sich im Mikroskop bei schwacher Vergrößerung beschaut, und zwar so, dass der mittenwärts gerichtete Rand des Postaments nach unten weist, insgesamt mit einer mehrfach gebogenen Figur versehen ist, welche an den Hippocampus, das ist das Abbild des Meer-Pferdchens, oder besser, eines Schwanes, erinnert, und die daher den 'Hirnschwan' oder 'Cygnus cerebri' zu benennen mir wohl beliebt."
Muss ich das jetzt ins Lateinische übersetzen, damit's noch echter klingt? Besser nicht. Mir schwant nämlich, dass mich dann womöglich einer ernst nähme, und dass in Folge vielleicht gar noch ein Schwan im Hirn schwömme. Das muss nicht sein. Wir haben schon Postamente, Harfen, Füße, Zehen, Seidenwürmer, Rippengewölbe, Widderhörner ("Cornu ammonis"), Ruhekissen ("Subiculum"), Zahnbänder ("Fascia dentata"), Fransenränder ("Fimbria"), Seepferdchen und Hippokampen im Kopf. Das sollte eigentlich reichen.
Helmut Wicht ist promovierter Biologe und Privatdozent für Anatomie an der Dr. Senckenbergischen Anatomie der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Fußnoten:
(1) "Horum ventriculorum basi, quae intro ad medium respicit, candida insurgens supereminet, & quasi adnascitur substantia, quae ab inferiori superficie, velut additamentum, extollitur, psalloidique corpori, seu testudini est continua, ac per longitudinem, in anteriora, versus frontem protenditur inequalique, ac flexuosa figura predita est, quae Hippocampi, hoc est marini equuli effigie(m) refert, vel potius, bo(m)bycini vermis ca(n)didi ..."
(2) Josef Hyrtl: Onomatologia anatomica. Wilhelm Braumüller, Wien 1880.
(3) Bild und Text aus: Gesneri Tomus V oder Vollkommenes Fisch=Buch / Zweyter Teil [...] nach dem Lateinischen Drucke /von neuem übersehen / an vielen Orten / dem lateinischen Grund-Text / und der gewissen Erfahrung gemaß / verbessert / und / auß der alten gar unverständlichen Dolmetschung / in eine recht deutliche und saubere Teutsche Sprache gebracht. Durch Georgium Hostium M.D. Mit Röm. Keyserl. Majest:Freyheit. Franckfurt / In Verlegung Wilhelm Serlins / Buchhändlers. Getruckt bei Blasius Ilßnern, Anno MDCLXX. (... und das ist nur ein kurzer Auszug aus dem vollständigen Titel. Ist das nicht herrlich, diese barocke Fülle?)
(4) Ich sollte besser sagen: Der Charme der altmodischen Lehrbücher besteht darin, dass sie das offen zugeben. Die modernen tun so, als ob es den menschlichen Beobachter, ohne den es ja letztlich nicht geht, gar nicht gäbe. Mitunter tun sie auch so, als ob es den Leser nicht gäbe. Das macht die Lektüre in den ekelhafteren Fällen (wenn man's lesen muss) unangenehm, in den erfreulicheren Fällen (wenn man's nicht unbedingt lesen muss) erledigt sich das Problem von selbst, denn es gibt dann wirklich keine Leser.
(5) Camillo Golgi: Sulla fina anatomia degli organi centrali di sistema nervoso. V. Sulla fina anatomia di grande piede d'Hippocampo. Milan, Ulrico Hoepli, 1886.
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