Mäders Moralfragen: Wegducken vor der Realität
Die heftigen Reaktionen auf die Forderungen junger Menschen zeigen, dass die etablierten Generationen Angst bekommen. Wir ahnen, dass uns der Wachstumskurs in die Krise geführt hat. Und wir spüren, dass sich das politische Klima wandeln und bald neue Gesetze unseren Lebensstil einschränken könnten. Manche Gegenwehr zielt aufs Persönliche: Von Greta Thunberg heißt es, sie sei nur ein Kind, und Kevin Kühnert wird vorgeworfen, zu jung zu sein, um Lehren aus dem Scheitern der DDR ziehen zu können. Andere Kritiker wiederholen veraltete Argumente: Unseren Ingenieuren wird schon etwas einfallen, außerdem ist unser Anteil am Klimawandel so gering, dass sich der Einsatz kaum lohnt. Wenn das alles nicht hilft, behauptet man einfach seinen Anspruch auf den erreichten Lebensstandard.
Es ist ein Wegducken vor der Realität. Die globalen Emissionen sind 2018 nach Schätzung des Global Carbon Projects um zwei Prozent gestiegen, obwohl man gehofft hatte, dass der Scheitelpunkt der lange steigenden Kurve erreicht worden sei. Die Wende liegt also immer noch vor uns. Um den Temperaturanstieg auf 1,5 Grad zu begrenzen, wie es im Weltklimavertrag von Paris als hoffnungsvolles Ziel formuliert worden ist, müssten wir die Emissionen eigentlich ab sofort jedes Jahr um sieben oder acht Prozent senken. Das macht deutlich, wie sehr die Zeit drängt, denn jedes versäumte Jahr müssen wir irgendwie nachholen.
Wir leben über unsere Verhältnisse
Deutschland steht in einer besonderen Verantwortung: nicht nur wegen der technologischen und ökonomischen Stärke des Landes, sondern auch wegen seines Anteils an den globalen Emissionen. Nur drei Länder haben seit Beginn der Industrialisierung mehr CO2 in die Atmosphäre geblasen: die USA, China und Russland, wie eine Animation von CarbonBrief.org zeigt. Im vergangenen Jahr sind die Emissionen in Deutschland endlich einmal um 4,5 Prozent gesunken, berichtet das Umweltbundesamt. Darauf müssten wir nun aufbauen.
Die Treibhausgase sind nicht das einzige Umweltproblem. Auch der Plastikmüll und das Artensterben bewegen die Menschen und gehören zur Debatte. Das Global Footprint Network berechnet, wie sehr die Menschen in einem Land die biologischen Ressourcen strapazieren. Für Deutschland errechnet es daraus seit den 1970er Jahren recht konstant einen Wert von drei Erden, die benötigt würden, um alle Bedürfnisse nachhaltig zu befriedigen. Nach Angaben von Germanwatch war in diesem Jahr am 3. Mai Erschöpfungstag für Deutschland: Seit vergangenem Freitag hat das Land seine natürlichen Ressourcen für das Jahr 2019 aufgebraucht und lebt über seine Verhältnisse.
Wir dürfen die Zukunft nicht nur grün anstreichen
Es ist also an der Zeit, dass junge Menschen aufstehen und sich für ihre Zukunft einsetzen. Der Kohleausstieg reicht nicht aus, auch wenn es ein Zeichen guter Politik war, einen Kompromiss auszuhandeln. Und eine Verkehrswende ist nicht in Sicht. Trotz der Demonstrationen in den vergangenen Monaten und den politischen Reaktionen darauf wird es noch ein harter Kampf. Die jungen Menschen haben zwar das Wohlwollen aller auf ihrer Seite: 85 Prozent der Menschen sagen im ARD-Deutschlandtrend, dass wir den Klimawandel nicht ohne Einschränkungen im Lebensstil stoppen können. Doch in derselbe Umfrage sprechen sich 62 Prozent gegen eine CO2-Steuer aus, die klimaschädliche Produkte verteuern und Klimaschutzprojekte fördern würde. Und erst einen Tag vor dem heutigen Ende der Zeichnungsfrist hat eine Online-Petition der Initiative »Parents for Future« das Quorum von 50 000 Unterschriften erreicht: Die engagierten Eltern fordern ein ehrgeizigeres Klimaschutzgesetz, der Bundestag muss sich nun mit ihrer Petition befassen. Man möchte sich nicht ausmalen, wie peinlich es gewesen wäre, das Quorum zu verfehlen.
In welche Zukunft blicken die jungen Menschen? Von den Älteren gibt es nur zwei Angebote: entweder eine radikale ökologische Wende oder eine weiter wachsende Wirtschaft, die nur grün angestrichen wird. Beides ist nicht realistisch. Für die ökologische Wende fehlt uns der Mut, und das grüne Wachstum bringt für den Klimaschutz zu wenig. Wir brauchen daher neue Visionen, in denen sich Herausforderungen und Hoffnungen mischen. Die Temperaturen werden über mehr als zwei Grad steigen, und wir werden die Naturkatastrophen dieser deutlich wärmeren Welt zu spüren bekommen. Wir – das sind vor allem unsere Kinder und Enkelkinder sowie die Menschen in den ärmeren Gegenden der Welt. Allerdings werden wir auch immer ernsthafteren Klimaschutz betreiben, um die schlimmsten Katastrophen zu verhindern. Wie wird unter diesen Umständen ein gutes Leben aussehen? Das Gute an den Demonstrationen und den heftigen Reaktionen darauf ist: dass wir anfangen, darüber zu diskutieren.
Die Moral von der Geschichte: Wohlstand verpflichtet.
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