Warkus' Welt: Zwei Arten von Freiheit
Vielleicht haben Sie die Diskussion darüber mitbekommen, ob es gerechtfertigt ist, den 8. Mai »Tag der Befreiung« zu nennen. Wessen Befreiung feiern wir? Und wovon? Die der Deutschen vom Nationalsozialismus, gegen den die Mehrheit bis zuletzt wenig einzuwenden hatte? Die der Unterdrückten und Geknechteten von den Deutschen? Was heißt überhaupt Freiheit?
Ganz naiv könnte man vielleicht sagen: Frei ist, wer jederzeit tun kann, was er will. Damit setzt man natürlich voraus, dass der Mensch überhaupt einen freien Willen besitzt. Aber das möchte ich einfach einmal annehmen – auch wenn diese Frage nach wie vor heiß umstritten ist.
Davon, zu tun, was wir wollen, können uns nun äußere Einflüsse abhalten. Es gibt Regeln unterschiedlicher Verbindlichkeit, die mit einem unterschiedlichen Maß an Macht durchgesetzt werden, Verbotsgesetze etwa. Auch wenn ich es gerne möchte: Ich darf innerorts nicht mit 160 Stundenkilometern im Auto durch die Gegend rasen, ich darf niemanden töten und ich darf keine Steuern hinterziehen. Wie stark meine Freiheit dadurch praktisch eingeschränkt ist, hängt davon ab, wie diese Regeln gegenüber meiner Person durchgesetzt werden und welche Einstellung ich zu ihnen habe.
Dann gibt es natürlich auch Umstände, die keine Regeln sind, mich aber gegebenenfalls effektiv davon abhalten, zu tun, was ich will: Wenn ich Plattfüße habe, kann ich tendenziell nicht sonderlich hoch springen; wenn ich wenig Geld habe, kann ich nicht viermal im Jahr in den Urlaub fliegen. Wenn die Mieten in der Nähe meiner Arbeitsstätte exorbitant sind, kann ich dort nicht wohnen, sondern muss pendeln. Wenn ich starker Raucher bin, ist es fast unmöglich für mich, einen Tag zu verbringen, ohne mir eine Zigarette anzuzünden.
All diese verschiedenen Einschränkungen meiner Freiheit auf einen Nenner zu bringen, ist ziemlich schwer. Haben sie überhaupt irgendetwas miteinander zu tun? Ian Carter beginnt einen Artikel für die »Stanford Encyclopedia of Philosophy« genau damit, zwei solche Arten von Einschränkung einander gegenüberzustellen: In seinem Beispiel fährt ein starker Raucher auf eine Kreuzung zu, an der er sich völlig uneingeschränkt entscheiden kann, ob er nach rechts oder links abbiegen möchte. Links geht es zum Bahnhof, wo er einen Zug zu einem wichtigen Termin erreichen möchte; rechts befindet sich ein Tabakladen, der bald schließt. Er biegt nach rechts ab, um Zigaretten zu kaufen, um seine Sucht zu befriedigen, obwohl er weiß, dass er dadurch seinen Zug und seinen Termin verpassen wird, was er eigentlich nicht möchte. Wie frei ist dieser Mensch?
Frei oder doch nicht?
Hier kommt eine Unterscheidung ins Spiel, die der Philosoph Isaiah Berlin (1909–1997) bei seiner Antrittsvorlesung als Professor für Gesellschaftstheorie in Oxford 1958 populär machte: jene zwischen positiver und negativer Freiheit. Negative Freiheit ist Freiheit von äußeren Einschränkungen; positive Freiheit ist die Freiheit, über sich selbst zu bestimmen. Der Raucher in Carters Beispiel ist hinsichtlich seiner Entscheidung an der Kreuzung negativ völlig frei, da ihn keine äußere Einwirkung zwingt, rechts abzubiegen. Positiv ist er jedoch alles andere als frei: Er tut etwas, was ihn anwidert, und unterlässt dafür etwas, was er eigentlich sehr gerne tun möchte.
Isaiah Berlin hat in seiner Vorlesung darauf hingewiesen, dass es von unserer Zuweisung von Verantwortung abhängt, was wir als Einschränkung unserer negativen Freiheit empfinden. Ob es zum Beispiel eine Einschränkung der negativen Freiheit ist, sich eine Wohnung in Arbeitsplatznähe nicht leisten zu können, hängt davon ab, ob wir dies als das Ergebnis von absichtlichem menschlichem Handeln ansehen oder nicht. Im Raucherbeispiel könnte man sich hypothetisch vorstellen, dass unser Raucher deswegen stark raucht, weil er aus einer Familie kommt, in der er bereits als Kind absichtlich dazu verführt wurde und in der er über Jahre immer wieder gehänselt und ausgelacht wurde, wenn er auf die Idee kam, er könnte weniger rauchen. Dann wäre es eine Sache der negativen Freiheit, dass er seinen Zug nicht erreicht.
Negative Freiheit ist Freiheit von äußeren Einschränkungen; positive Freiheit ist die Freiheit, über sich selbst zu bestimmen
Nun gibt es die von Fall zu Fall sehr naheliegende Idee, dass einzelne Menschen positiv freier gemacht werden können, indem man in ihre Umgebung oder ihr Denken eingreift. In einer Gesellschaft, die den Verkauf von Zigaretten vollständig verbietet, wäre unser Raucher in der konkreten Situation positiv freier, da er keinen Grund hätte, rechts abzubiegen. Diese Idee bringt aber auch Missbrauchspotenzial mit sich: Wenn es möglich ist, vernünftig von außen zu entscheiden, was Menschen zu Recht wollen (zu ihrem Termin gelangen) und was mit weniger Recht (Zigaretten kaufen), lässt sich dies nicht unbegrenzt erweitern? Ist es nicht so, dass kaum jemand überhaupt das will, was er wirklich will? Müssten nicht jene, die verstehen, was Freiheit überhaupt ist, das Leben und Denken der anderen bestimmen, um diese überhaupt erst positiv frei zu machen? Die Konsequenzen sind leicht vorstellbar.
Der Konsens in den heutigen liberalen Gesellschaften, den auch Isaiah Berlin anspricht, ist der, dass der Gedanke der positiven Freiheit nicht so verstanden werden sollte, dass erst ein von außen gestifteter höherer Sinn diese Freiheit überhaupt ermöglicht, und sei es um den Preis, dass das Individuum völlig verschwindet (»Du bist nichts, dein Volk ist alles«). Positive Freiheit soll immer Selbst-Gesetzgebung des Individuums bleiben; die Fähigkeit, darüber zu entscheiden, was er wirklich will, soll dem einzelnen Menschen nie ganz abgesprochen werden. Der 8. Mai ist sicherlich nicht der schlechteste Tag, um darüber nachzudenken.
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