Futur III: Im freien Fall
Als der rote Schraubenschlüssel am Rand meines Blickfelds aufblinkt, stehe ich unter der Dusche. Einen Moment lang bin ich wie versteinert, unfähig, das Gesehene zu begreifen. Ich fahre mir über die Augen, doch der rote Schraubenschlüssel prangt immer noch vor meinem Gesicht. Ein Jobangebot! Das erste seit zwölf Jahren.
Lange war ich davon überzeugt, dass die betriebsbedingte Kündigung nur ein kleiner Rückschlag wäre, aus dem ich bald erstarkt hervorgehen würde. Ein Irrtum. Die bittere Wahrheit war, dass die Robotisierung unserer Welt viele Berufsgruppen obsolet gemacht hatte. Während Biotechniker und Psychodesigner für KIs ihre Glanzzeit erlebten, steuerte ich als Elektroingenieur offenen Auges meinem Untergang entgegen. Ich war motiviert und voller Elan. So voller Elan, dass ich letzten Endes durch die Maschine ersetzt wurde, die ich mit erschaffen hatte.
Früher hatte ich ein Haus, eine Frau und ein stattliches Gehalt. Heute wohne ich in einem Mietsbunker am Stadtrand, wo ich mir das Zimmer mit einem Kerl mit Schweißfüßen teile. Um mich über Wasser zu halten, repariere ich Haushaltsgeräte und Service-Roboter.
»Jobangebot öffnen«, flüstere ich, während ich aus der Gemeinschaftsdusche steige, um mich abzutrocknen. Ein Fenster poppt auf meiner Hornhaut auf, versehen mit dem Logo von Bachchan Industries, einem der größten Tech-Unternehmen des Kontinents. Gleichzeitig setzt das begleitende Audio ein. In freundlichen Worten ersucht man mich um meine Kooperation bei einem neuartigen, auf Nanotech basierenden Fortbewegungsmittel namens Lab.
Per gedanklichen Befehl aktiviere ich meinen Neurokommunikator, um bei YIN, dem Yahoogle Investigation Network, mehr darüber zu erfahren. Ohne Erfolg. Offenbar ist die Technologie so neu, dass Bachchan Industries es unter Verschluss hält.
Die Vorstellung, Teil einer umwälzenden Innovation zu werden, bringt meine Nerven zum Flattern, mehr noch als die Aussicht, mein altes Leben zurückzubekommen. Ich nutze die Zeit bis zum Vorstellungsgespräch, um mir einen Businessanzug in einer On-Demand-Box drucken zu lassen. Einen dunkelblauen Zweireiher mit weißem Stecktuch, der einen Großteil meiner restlichen Ersparnisse verschlingt.
Punkt 15 Uhr stehe ich geschniegelt und gestriegelt vor dem Chivas Building in New Downtown, einem 300-stöckigen Hightech-Habitat, das eben erst fertig gestellt worden ist. Der Anblick ist Schwindel erregend. 900 000 Tonnen Stahl, Glas und Beton, die in den Himmel ragen und deren Spitze man nur erahnen kann. Die Straßen und Gebäude rundum sind wie leer gefegt: ein steriler, auf Hochglanz polierter Stadtteil für die oberen Zehntausend. Das einzige sichtbare Leben spielt sich in der Luft ab, wo autonome Taxis ihre Fahrgäste von A nach B befördern.
In der Lobby begegne ich einem älteren Mann im Anzug, der mit gesenktem Blick an mir vorbei in Richtung Ausgang geht und dabei etwas zu humpeln scheint. Hinter der Eingangstür passiere ich den DNA-Scanner. Sekunden später tritt ein schlanker humanoider Roboter mit elfenbeinfarbener Legierung aus einem der Aufzüge. »Mister Davonport, willkommen!«, begrüßt er mich mit sanfter Stimme. Seine Augen strahlen so blau wie Saphire. Offenbar ist er dafür konzipiert, Menschen für sich einzunehmen. »Mein Name ist Io. Ich hoffe, Sie haben problemlos hierhergefunden.« Ich nicke.
»Gut«, sagt der Roboter, bevor ich etwas hinzufügen kann. »Bitte folgen Sie mir.« Als er voranschreitet, komme ich nicht umhin, seine eleganten, beinahe raubtierhaften Bewegungen zu bewundern. Ich folge ihm in den Aufzug, der wie von Geisterhand startet, ohne dass irgendein Knopf betätigt worden wäre. Ohne die Spur einer Vibration sausen wir hoch, der Magnetschwebetechnik sei Dank. Eigentlich habe ich damit gerechnet, dass das Treffen auf einer der unteren Ebenen stattfinden würde, doch zu meiner Überraschung fahren wir bis ganz nach oben. Io führt mich in ein riesiges Penthouse-Büro mit weißen Säulen und Marmorboden.
»Vor 14 Jahren haben Sie an der Entwicklung schwebender Nanostäbchen mitgewirkt«, sagt er freundlich. »Aus diesem Grund sind Sie heute hier.«
»Ich verstehe«, entgegne ich, während ich versuche, mir meinen Stolz nicht zu sehr anmerken zu lassen. »Und dafür danke ich Ihnen.«
Kurz bleibe ich vor dem Panoramafenster stehen, um den Blick über die Skyline von New Downtown schweifen zu lassen. Ich bin wieder im Spiel, denke ich, und spüre Genugtuung in mir emporsteigen. Io berührt mich leicht an der Schulter. »Kommen Sie. Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«
Er tritt auf den angrenzenden Balkon hinaus und zeigt auf eine noch höher gelegene Plattform, die in der Luft zu schweben scheint. Dort steht ein mit Efeu bewachsener, schwärzlich grauer Turm, umgeben von einem verwilderten Garten, wie man ihn von alten Kalenderblättern kennt.
»Von dort oben hat man einen herrlichen Blick«, verkündet der menschenartige Roboter mit einem schwärmerischen Unterton, wie die Situation es von ihm verlangt. »Wir nennen den Turm Pigeon Cliff. Ein Rückzugsort für unsere wichtigsten Mieter.« Neugierig blicke ich mich um. »Und wie kommt man da hoch?«
Statt zu antworten, ruft Io: »Lab aktivieren!«
In meinem Magen kribbelt es. Und dann gerät auch noch die Luft vor uns in Bewegung. Knapp über dem Boden formt sich eine Art Nebel und kondensiert mitten in der Luft zu einer wabernden Pfütze. Io setzt einen Fuß darauf, stützt sich ab und macht einen Schritt nach oben. Im selben Moment löst sich die Pfütze auf, und die Teilchen flitzen hinüber, um dem vorderen Fuß Halt zu geben. Auf diese Weise erklimmt der Roboter Meter um Meter.
»Die Luft wird mit Nanostäbchen geflutet«, erklärt er. »Ganz gleich, wo ich hintrete, sie ordnen sich zu einer festen Unterlage an.« Inzwischen befindet er sich vier Meter über dem Boden. »Möchten Sie es versuchen? Das System ist für drei Personen gleichzeitig konzipiert.«
Gerade als ich den rechten Fuß heben will, beginnen die Nanostäbchen zu driften
Ich nicke und hebe den rechten Fuß. Schon strömen wie aus dem Nichts die Nanostäbchen heran, um ihn zu stützen. »Wofür steht Lab?«, frage ich, während mein Herz laut und schnell hämmert. Durch die Leere zu schreiten, ist sehr gewöhnungsbedürftig. »Levitation Aerobridge«, antwortet Io, der den Turm beinahe erreicht hat. Es sind gut und gern 20 Meter bis dorthin.
»Wäre es nicht einfacher, hinzufliegen?«, rufe ich ihm zu und erklimme vorsichtig weitere »Stufen«.
»Zum einen ist der Weg das Ziel. Zum anderen herrscht über Pigeon Cliff Flugverbot. Ruhe und Abgeschiedenheit sind oberstes Gebot«, entgegnet der Roboter.
Ich nicke beeindruckt, als eine kalte Brise mich frösteln lässt. Ruhe hin oder her: Der Nachteil großer Höhen ist die unberechenbare Luftströmung. Gerade als ich den rechten Fuß heben will, beginnen die Nanostäbchen unter meinem linken Fuß zu driften. Um den Halt nicht zu verlieren, trete ich mit beiden Füßen auf.
Doch statt sich zu verbinden, stieben die winzigen Partikel auseinander, und ich breche ein wie durch morsches Holz. Kurz scheint die Zeit stillzustehen, dann plumpse ich schreiend in Richtung Balkon. Beim Aufprall fährt ein stechender Schmerz durch meine Wirbelsäule, mich überfällt nackte Panik.
»Keine Sorge«, erklingt prompt die Stimme des Roboters. »Mein Scan zeigt, es ist nur eine Kreuzbeinprellung.« Mühsam rappele ich mich auf und klopfe den Staub von meinem Anzug, das Blut rauscht in meinen Ohren. Nicht auszudenken, wäre ich höher gestiegen. Ich könnte jetzt tot sein!
»Das System war instabil«, erklärt Io, während er langsam zu mir herunterschwebt. »Wir hatten ein Problem mit der Magnetisierung. Wegen der Temperaturschwankung hat sich die Ausrichtung geändert.«
»Ein ferromagnetisches Gitter aus Kobaltoxid könnte Abhilfe schaffen«, werfe ich etwas atemlos ein.
»Lab hat den Vorfall bereits ausgewertet und ist vor 8,36 Sekunden zu der gleichen Lösung gelangt.«
»Oh!« Die Enttäuschung schnürt mir den Hals zu. Ios Mundwinkel verziehen sich leicht. Der Abklatsch eines Lächelns. »Ihre Auffassungsgabe ist löblich, aber deswegen sind Sie nicht hier.«
»Nicht?«
»Nein.« Er macht eine einladende Geste, und wir gehen wieder hinein. Er schreitend, ich humpelnd. »Lizenzen für Fortbewegungsmittel im öffentlichen Raum werden nur dann bewilligt, wenn eine natürliche Person als Verantwortlicher juristisch benannt und registriert wird.«
»Ist das so?«
»Ja. Künstliche Intelligenzen können nicht haftbar gemacht werden«, erklärt Io weiter. »Zwar wird derzeit über eine Gesetzesänderung diskutiert, aber Sie wissen ja, wie so was ist.« Das Leuchten in seinen Augen verblasst ein wenig. »Bis es zu einer Entscheidung kommt, kann es Jahre dauern. In der Zwischenzeit brauchen wir jemanden wie Sie.«
»Einen Ingenieur?«
»Einen Menschen«, entgegnet Io langsam, als wäre ich minderbemittelt. »Natürlich werden wir Sie dafür entlohnen. Allzu viel können wir Ihnen nicht geben. Lab ist nur eine von zahlreichen Innovationen, die wir in diesem Komplex vornehmen. Es gibt also jede Menge Lizenzen zu erteilen. Aber es sollte Ihre Lebenssituation ein wenig verbessern.«
Ich brauche eine Weile, um meine Sprache wiederzufinden. »Nur damit ich Sie richtig verstehe: Sie pfeifen auf mein Fachwissen, für den Knast wäre ich jedoch gut genug?« Io blickt mich einen Moment ausdruckslos an. »Sind Sie interessiert?«, fragt er schließlich.
Mein Stolz rebelliert. Ich soll für diese Blechbüchse und ihre Spießgesellen als Marionette fungieren, wenn nicht gar als Sündenbock? Unwillkürlich huscht mein Blick zum Panoramafenster. Ich denke an meine kleine, fensterlose Wohneinheit, an die kaputten Kühlschränke und die Schweißfüße meines Mitbewohners.
Lange Sekunden vergehen, dann nicke ich langsam. »Wie sagte meine Frau immer?«, murmele ich. »Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach.« Ios Lippen kräuseln sich erneut. »Wie passend.«
Wenige Minuten später humple ich durch die Lobby des Hochhauses. Kurz vor dem Ausgang kommt mir ein Mann im Anzug entgegen. Bedrückt schaue ich zu Boden, gehe an ihm vorbei und trete wenige Augenblicke später ins Freie.
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