Lexikon der Geowissenschaften: Geochemie
Geochemie, Wissenschaft von der Verteilung der Elemente und Elementverbindungen in allen Bereichen der Geosphäre, also in Gesteinen, Böden, Mineralen, Gesteinsschmelzen, im Wasser und in der Atmosphäre etc. (geochemischer Charakter der Elemente). Die Geochemie befaßt sich mit chemischen Prozessen und der Verteilung und Zirkulation der Elemente (geochemischer Kreislauf), ihrer Isotope und Verbindungen in allen natürlichen Systemen der Erde. Die Bilanzierung von Elementen in unterschiedlichen Stoffen und Sphären (Lithosphäre, Hydrosphäre etc.) erlaubt es, geochemische Anomalien, d.h. im Vergleich zur Umgebung ungewöhnliche Konzentrationen, zu erkennen und diese evtl. für die Menschen nutzbar zu machen. Traditionell befaßt sich die Geochemie v.a. mit toter Materie und mit der anorganischen Chemie. Organische Geochemie und Biogeochemie gewinnen jedoch besonders in der Bewahrung der Umwelt, aber auch in der Sicherung und Ausbeutung von Lagerstätten eine immer größere Rolle. Mit den zunehmenden Möglichkeiten der Raumfahrt gerät immer häufiger auch die Chemie anderer erdähnlicher Planeten und Monde unseres Sonnensystems in ihren Blick.
Die geowissenschaftliche Teildisziplin Geochemie entstand am Anfang des 20. Jh. Grundlage der Entwicklung der Geochemie, wie sie heute betrieben wird, war zum einen die Entwicklung der Chemie v.a. im 19. Jh., zum anderen die Entwicklung der Atomphysik zu Beginn des 20. Jh. Davor liegt jedoch bereits eine lange Vorgeschichte der Ansammlung geochemischer Daten und Beobachtungen.
Ab etwa 1800 wurde damit begonnen, die chemische Zusammensetzung einer großen Zahl von Mineralen zu bestimmen, so daß in dieser Zeit die Mineralogie als Chemie der Erdkruste und Zweig der Chemie betrachtet wurde. Im Jahr 1838 wurde der Begriff "Geochemie" durch den Chemiker Ch.F. Schönbein (1799-1868) eingeführt, der darunter "die Untersuchung der chemischen Aspekte des geologischen Regimes der Erde verstand". J.B. Élie de Beaumont (1798-1874) entwickelte 1846 aus dem Datenmaterial erste Erkenntnisse über grundlegende Muster, wie z.B. die relative Häufigkeit von Elementen und ihre chemischen Affinität, d.h. ihr chemisches Verhalten in Beziehung zu ihrer Umgebung. Im Jahr 1849 erkannte F.A. Breithaupt (1791-1873) Beziehungen zwischen den Elementen in Erzmineralen, die er "Paragenesen" nannte, ein Begriff, der heute in veränderter Bedeutung verwendet wird, und 1847-1855 lehrte K.G. Bischof (1792-1870) Kreisprozesse in der unbelebten Natur und begriff so die Erde als ein dynamisches System.
In der zweiten Hälfte des 19. Jh. ergaben sich durch die Entwicklung der Spektralanalyse schnell und einfach durchzuführende und dennoch genaue Analysemethoden, die zu einer Vervielfachung der Datenmenge führten. Mittlerweile war die Kenntnis der Elemente und ihrer chemisch-physikalischen Eigenschaften soweit angewachsen, daß 1868 D.I. Mendelejef (1834-1907) und J.L. Meyer (1830-1895) das Periodensystem der Elemente zusammenstellen konnten. Dies war die Grundlage für die Erkenntnis von Zusammenhängen zwischen den Eigenschaften der Elemente. Zu dieser Zeit beschäftigte sich die Geochemie noch im wesentlichen mit der Bestandsaufnahme und Datensammlung, d.h. der chemischen Analyse von Mineralen und Gesteinen. Zusammengefaßt wurden diese Daten in Publikationen wie "The Data of Geochemistry" durch F.W. Clarke (1847-1931) im Jahr 1908 (Clarke-Werte).
Ab der 1920er Jahre begann die Suche nach wiederkehrenden "Mustern" in der Datenfülle, nach Gesetzmäßigkeiten im Verhalten von Haupt- und Spurenelementen, die zu einer Ordnung der Daten führen sollten. Damit verknüpft sind besonders die Namen von V.M. Goldschmidt (1888-1947) und V.I. Vernadskij (1863-1945). Goldschmidt entwickelte in Anlehnung an das Verhalten der Elemente bei Verhüttungsprozessen die heute noch verwendbaren Begriffe siderophil, chalkophil, lithophil und athmophil (geochemischer Charakter der Elemente) zur Einteilung von Elementen unterschiedlicher Verhaltensweisen. Für eine Reihe von beobachteten Gesetzmäßigkeiten wurden Regeln und Prinzipien formuliert, zum Beispiel die Oddo-Harkinssche Regel (1914). Ab den 1920er und 1930er Jahren bildeten sich eigene Begriffe, womit sich eine eigene geochemische Fachsprache entwickelte. Dies läßt auf ein zu dieser Zeit bereits vorhandenes spezifisch geochemisches Denken schließen und führte zur Abgrenzung von anderen Disziplinen. In diese Zeit fällt auch die Etablierung der geochemischen Lehre und von spezifischen Forschungseinrichtungen.
Mitte des 20. Jahrhunderts war das chemische Verhalten der Elemente soweit verstanden, daß aus der Beobachtung der Veränderungen im Chemismus der Erde im Laufe ihrer Geschichte Schlußfolgerungen und Interpretationen möglich waren. Damit wandelte sich die Geochemie von einer rein deskriptiven-quantifizierenden zu einer interpretierenden Wissenschaft. Ab den 1970er und 1980er Jahren erlebte die Geochemie einen gewaltige Schub nach vorne, weil nun mit der Anerkennung der Theorie der Plattentektonik ein taugliches Modell zur Erklärung geochemischer Phänomene v.a. im Bereich der Magmagenese und der chemischen Evolution des Erdmantels vorhanden war. Es war nun möglich, für bestimmte chemische Phänomene konkrete geologische Ursachen anzugeben.
Neben der Chemie hatte besonders die Entwicklung der Atom- und Kernphysik ab dem Beginn des 20. Jh. prägenden Einfluß auf die Geochemie, zum einen durch die Bereitstellung von physikalischen Analyseverfahren wie Röntgenfluoreszenz oder Massenspektrometrie, zum anderen eröffnete die Physik neue Forschungsrichtungen wie Isotopengeochemie und Geochronologie. Im Jahr 1897 entdeckte H. Becquerel (1832-1908) die Radioaktivität, ein bisher unbekanntes physikalisches Phänomen. Um 1900 waren erste Zerfallskonstanten radioaktiver Elemente bekannt und bereits um 1905 erkannten E. Rutherford (1871-1937) und B.B. Boltwood die Möglichkeit, Gesteine über den Zerfall radioaktiver Elemente zu datieren und damit geologischen Phänomenen einen absoluten Zeitrahmen zu geben. Damit entschied sich auch ein jahrzehntelang schwelender Zwist zwischen Geologie und klassischer Physik über das Alter der Erde zugunsten der Vorstellungen der Geologie. Um das Jahr 1913 fällt die Entdeckung der Isotope durch Experimente mittels eines Vorläufers des Massenspektrometers. Dadurch verbesserte sich natürlich die Qualität der radiometrischen Altersbestimmungen. Ihre Präzision wuchs im Laufe der Jahrzehnte stetig an, während immer neue Methoden für spezielle Fragestellungen entwickelt wurden. Mit dem Anwachsen der Datenmenge im Bereich der Isotopenmessungen ergaben sich auch hier zusätzliche Anwendungsmöglichkeiten. So wird eine ständig wachsende Zahl von Isotopenverhältnissen v.a. im magmatischen Bereich als Tracer für das Gebiet des Magma-Ursprungs und für Kontaminationsvorgänge verwendet. Sie sind dabei der mittlerweile klassischen Spurenelementgeochemie überlegen, da die Isotopenverhältnisse anders als der Gehalt an Spurenelementen nicht durch die chemische Evolution eines kristallisierenden Magmas beeinflußt werden. Anders ist dies bei Prozessen, die unter niedrigen Temperaturen ablaufen. Im Jahr 1931 sagte H.C. Urey (1893-1981) voraus, daß der Dampfdruck der verschiedenen Wasserstoff-Isotope verschieden sei. Nach dem Zweiten Weltkrieg begann die Forschung zur Fraktionierung von (leichten) stabilen Isotopen durch natürliche Prozesse. Bald gelangte man zu der Erkenntnis, daß die Fraktionierung temperaturabhängig ist. Hieraus ergibt sich beispielsweise die Möglichkeit zur Paläotemperaturmessung, wodurch die Geochemie Zutritt zur Klimaforschung erhielt, die in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen hat.
Die heutigen geochemischen Inhalte werden davon bestimmt, daß viele der Regeln und Gesetzmäßigkeiten, nach denen sich Elemente im geologischen Milieu verhalten, bekannt sind und nun zur Interpretation herangezogen werden können. Damit einher ging eine Aufspaltung der Geochemie in weitere Teildisziplinen. Heutige Arbeitsgebiete umfassen vor allem die Magmenentwicklung/Mantelevolution, die Lagerstättenbildung/Prospektion, die Geochronologie, die Umweltgeochemie und die Klimaforschung.
Die Geochemie befindet sich weiter in einer Phase der Differenzierung und des Wachstums. Zukünftige Entwicklungen reichen derzeit v.a. in zwei Richtungen: einerseits die Isotopengeochemie mit immer neuen Isotopen beziehungsweise Isotopenpaaren, deren Möglichkeiten untersucht werden. Darunter befinden sich beispielsweise auch exotische Isotope, die in der irdischen Atmosphäre durch Reaktionen mit der kosmischen Strahlung entstehen (10Be), oder anthropogene Isotope wie Tritium aus Atombombenversuchen, die als Tracer verwendet werden können. Das zweite Feld stellen neue, hochpräzise ortsauflösende Analyseverfahren dar, die der Geochemie Zugang zu völlig neuen Gebieten liefern werden, deren Ausdehnung und Bedeutung noch nicht abzusehen ist. [WAl, MKE]
Literatur: MASON, BRIAN & MOORE, CARLETON B. (1985): Grundzüge der Geochemie, Kapitel 1.2: Geschichte der Geochemie. – Stuttgart.
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