Metzler Lexikon jüdischer Philosophen: Steven Samuel Schwarzschild
Geb. 1924 in Frankfurt a.M.;
gest. 1998 in St. Louis
Sch. war Neukantianer und liberaler Rabbiner in der Denktradition Hermann Cohens. Er lehrte jüdische Philosophie an der Washington University in St. Louis, USA. Sch. erhielt seine Schulbildung in Berlin (1931–1939) und floh mit seiner Familie 1939 nach New York. Zunächst studierte er am City College Philosophie und ließ sich am Jewish Theological Seminary (New York) und am Hebrew Union College (Cincinnati) zum Rabbiner ausbilden. Im Jahre 1955 promovierte Sch. dort unter Leitung von Prof. Samuel Atlas über die Geschichtsphilosophie Nachman Krochmals und Hermann Cohens (Two Modern Jewish Philosophers of History: Nachman Krochmal and Hermann Cohen, unveröffentlicht).
Von 1948 bis 1950 amtierte Sch. als einer der ersten Rabbiner nach der Shoah in der liberalen Gemeinde am Fränkelufer in Berlin. Er beteiligte sich in Form von öffentlichen kritischen Stellungnahmen im jüdischen Berliner Gemeindeblatt Der Weg und in der Allgemeinen Wochenzeitung der Juden in Deutschland an dem Versuch einer Neukonstituierung jüdischen Lebens in Europa. Hierbei leitete Sch. im Gegensatz zu den Kritikern der deutsch-jüdischen Symbiose eine grundsätzliche Treue zur deutsch-jüdischen Denktradition. »›Deutschtum‹«, so sagte er noch 1979, bedeute »in jüdischem Munde eine rationale, ideale, normative Konstruktion, die, weit davon entfernt mit ›Deutschland‹ identisch zu sein, im Gegenteil, diesem Deutschland als oppositionelle Herausforderung ständig entgegenzuhalten sei«. Nach 1950 versah Sch. liberale Rabbinerämter an verschiedenen Orten in den Vereinigten Staaten (in Fargo, North Dakota, und in Lynn, Massachusetts), bevor er das Angebot einer Lehrtätigkeit als Professor für jüdische Philosophie an der Washington University in St. Louis annahm. Dort lehrte er bis zu seinem Tod.
In den Jahren 1961 bis 1969 war Sch. Herausgeber der einflußreichen Zeitschrift Judaism – A Quarterly Journal. Verschiedene Vortrags- und Lehrtätigkeiten führten ihn nach Deutschland. Seine über zweihundert, zumeist englischsprachigen Veröffentlichungen über jüdische Philosophie, Theologie und Geschichtsphilosophie stellen Denker wie Hermann Cohen, Franz Rosenzweig und Martin Buber in ihrer Hervorhebung des Humanismus des anderen Menschen als Träger des klassischen jüdischen Erbes dar. Darunter befinden sich auch zahlreiche Aufsätze zur mittelalterlichen jüdischen Philosophie und zum rabbinischen Schrifttum. In diesen Arbeiten reflektiert seine Herangehensweise an die jüdischen Texte die methodischen und systematischen Grundsätze des jüdischen Neukantianismus.
Sch.s Treue zum kritischen Idealismus Hermann Cohens, der die Transzendenz Gottes als Verneinung jeglichen religiösen und politischen Chauvinismus verstand, bestimmte auch das Urteil von Sch. darüber, was ›authentisches‹ und was ›nicht-authentisches‹ Judentum sei. Seine Schriften hierüber wirken wie eine Reminiszenz an die mittelalterliche jüdische Philosophie, insbesondere die Schriften des Maimonides: Jüdisch sei dasjenige Urteil, so behauptet Sch., das in seiner Treue zu dem transzendenten »einen-einzigen Gott« die Zustände der Wirklichkeit als Privation erkennbar werden läßt. Gemessen am Maß einer messianischen Gerechtigkeit bedarf die Wirklichkeit einer radikalen politischen Veränderung: »Wenn es wahr ist, daß der jüdische Begriff der Gesetzlichkeit [i.e. der Halacha] der messianischen Gesetzlichkeit entspricht, […] dann folgt daraus, daß die Halacha um ihrer vollständigen Verwirklichung willen einer totalen Veränderung der menschlichen Gesellschaft bedarf. […] Die Halacha ist der religiöse Ausdruck für eine permanente Revolution« (The Pursuit, 76). Dabei erteilt Sch. zugleich aller sakralen Mythifizierung der Wirklichkeit eine Absage. Dies gilt insbesondere, wenn diese unter dem Anschein des Frommen und Religiösen als Selbstverabsolutierung auftritt. Demgegenüber betont er das Festhalten an der kantischen Unterscheidung zwischen Sein und Sollen als Bedingung wahrhaft jüdischen Denkens. Unter Berufung auf Hermann Cohen und Maimonides stellt Sch. fest, daß es die (ewige) Aufgabe des jüdischen Denkens sei, die prophetische Kritik an den (miserablen) Seinszuständen der politischen und sozialen Wirklichkeit zu tradieren: »Es ist der Cohensche Maimonides, der hier ohne Scheu zur Sprache kommt«, sagte Sch. in einem seiner letzten Texte über den großen, aber umstrittenen Aufsatz Charakteristik der Ethik Maimunis (1908) von Hermann Cohen.
Mit seinem Bekenntnis zur Tradition jüdischer, transzendentaler Rationalität plädiert Sch. für eine Definition jüdischer Identität, die nicht in erster Linie von der leiblichen Abkunft bestimmt ist. Sie soll vielmehr in einer Art des Denkens zum Ausdruck kommen, die den Zustand der Entfremdung und des Widerstands gegenüber dem politischen und sozialen Status quo als Bedingung jüdischer (messianischer) Kritik versteht. Auf diese Weise konnte Sch. die Neukantianer und marxistischen Existentialisten (wie etwa Sartre) als jüdische Denker lesen, die »die Religion in Ethik, und die Ethik in einen humanistischen Sozialismus auflösen« und damit für die Unabgeschlossenheit der Geschichte plädieren. Dagegen galt ihm jüdische Heilsgeschichte, also jede Form von religiösem Zionismus, als eine (unjüdische) Proklamation einer Immanenz der Geschichte.
Messianische Zukünftigkeit im Sinne eines noch ausstehenden Ideals der Menschheit aufzufassen mit der daraus abgeleiten Forderung nach radikaler menschlicher Veränderung, verbindet Sch. mit anderen jüdischen Neukantianern wie H. Cohen, J. Gordin, J. Gawronsky, E. Cassirer und – im weiteren Sinne – W. Benjamin und E. Lévinas. Aus dem Begriff der messianischen Zukünftigkeit, der für den jüdischen Neukantianismus zugleich Ausdruck ethischen Sollens und unveräußerbares Erbe des jüdischen Prophetismus ist, erwächst bei Sch. eine kompromißlose Kritik gegenüber der Sanktionierung menschlichen Unrechts im Namen jeglicher wie auch immer gearteter religiöser oder nationaler Ideologie. In Sch.s philosophischen wie auch theologischen Schriften ist daher ein strenger Anti-Nationalismus wahrnehmbar, den er ursprünglich im rabbinischen Schrifttum zu verwurzeln sucht. Er gab sich damit als Sozialist, Pazifist und Israel gegenüber als radikaler Anti-Zionist zu erkennen.
Eine Philosophie der Transzendenz und des Humanismus des anderen Menschen sowie die Überzeugung, daß jüdisches (messianisches) Denken mit einer Philosophie der Immanenz der Geschichte unvereinbar sei, durchziehen alle Schriften Sch.s. Auch seine Auffassung von »jüdischer Ästhetik«, die Sch. in einem Aufsatz über die halachischen Grundlagen der jüdischen Ästhetik zur Diskussion stellt, unterwirft er jener transzendentalen Kritik der Repräsentation des Absoluten, die er für das Judentum verbindlich macht: Kunst verlange die Unvollständigkeit in der Darstellung des menschlichen Antlitzes, »Menschen mit nur einem Auge oder einer gebrochenen Nase«. Abstraktion und Verzerrung, zwei Grundzüge der modernen Malerei, korrespondieren laut Sch. mit jener jüdischen Kritik der Repräsentation, die tradionellerweise »Bilderverbot« heißt.
Es zeichnet sich bei Sch. eine Linie des ethischen Kritizismus ab, in der Platon, vereinzelte Stimmen unter den Rabbinen, Maimonides, Kant, Cohen, Lévinas und sogar I. Hutner als rechtmäßige Erben der jüdischen Tradition denjenigen gegenübergestellt werden, die wie Spinoza, Hegel und Marx die Distanz zwischen Gott und Welt in einer Immanenzphilosophie oder einem empirischen Pragmatismus aufgelöst haben. Sie haben damit einen Begriff von Differenz preisgegeben, in dessen transzendentalem Grund Sch. die Kritikfähigkeit jüdischen Denkens verankert wissen wollte.
Sch. war der konsequenteste jüdische Neukantianer in Nordamerika nach der Shoah. Verglichen mit dem jüdischen Neukantianismus in Frankreich (J. Gordin) oder verglichen mit dessen vereinzelten Stimmen in Israel (J. Leibowitz) ist die Wirkung von Sch. im englischen Sprachraum gering geblieben.
Werke:
- The Pursuit of the Ideal – Jewish Writings of S. Sch., hg. M.M. Kellner, New York 1990 (mit Bibliographie 379–390).
- ›Germanism and Judaism‹ – Hermann Cohen’s Normative Paradigm of the German-Jewish Symbiosis, in: D. Bronsen (Hg.), Jews and Germans from 1860 to 1933: The Problematic Symbiosis, Heidelberg 1979, 129–172.
- The Noachide Laws, EnJu (1971), 1189–1191.
- Essential characteristics of the Jewish view of reality, Judaism as a living historical phenomenon, in: Ultimate Reality and Meaning 14, 3 (1991), 221–230.
- Introduction, in: H. Cohen, Ethik des reinen Willens, Werke Bd. 7, Hildesheim 1981, VII-XXXV. –
Literatur:
- K. Seeskin, Rational theology of S. Sch., in: Modern Judaism 12, 3 (1992), 277–286.
- M.M. Kellner, S. Sch., in: S.T. Katz (Hg.), Interpreters of Judaism in the Late Twentieth Century, Washington 1993, 281–300.
- ders., Torah and science in modern Jewish thought, S. Sch. vs. Yeshayahu Leibowitz, in: G. Freudenthal (Hg.), Torah and science, Paris 2001, 229–237.
Almut Sh. Bruckstein
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