Lexikon der Mathematik: babylonische Mathematik
verbreitete Bezeichnung für die Mathematik im alten Mesopotamien.
Aus der frühen Ackerbaukultur des 4. Jahrhunderts entwickelte sich im Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris eine Hochkultur. Sie wurde ursprünglich geprägt durch die im südlichen Teil des Landes lebenden Sumerer, im nördlichen Teil durch die semitischen Akkader.
Um 2000 v. Chr. verschwand der sumerische Einfluß fast völlig. Daneben haben später Völker aus dem Osten (Kassiten), Norden (Hethiter) und Westen (ägäische Völkerwanderung) die Kultur des Zweistromlandes nachhaltig beeinflußt.
Kultureller Mittelpunkt des alten Mesopotamien war stets Babylon. Durch die Perser und die Hellenen wurde die Kultur Babylons bis nach Europa getragen. In der ersten Phase der babylonischen Mathematik finden wir einfache geometrische (Vermessungsaufgaben) und arithmetische (Verteilung von Produkten) Aufgaben, behandelt im (sumerischen) Sexagesimalsystem. Um 2000 v. Chr. wurde dieses System zum sexagezimalen Positionssystem weiterentwickelt, allerdings fehlte das Zeichen für die Leerstelle, sodaß nicht besetzte Stellen nur aus dem Aufgabenzusammenhang ermittelt werden konnten. Erst seit dem 6. Jh. v. Chr. wurde ein inneres Lückenzeichen eingeführt. Dieses Sexagezimalsystem wurde konsequent nur in wissenschaftlichen Texten verwendet, seit etwa 2000 v. Chr. wurde im Alltag ein dezimales System benutzt.
Um 1850–1600 v. Chr. erreichte die babylonische Mathematik ihren Höhepunkt. Die Texte sind im sog. babylonischen Dialekt des Akkadischen geschrieben – daher rührt die Bezeichnung „babylonische Mathematik“.
Bei den Texten lassen sich inhaltlich zwei große Gruppen unterscheiden: Tabellen und Problem-texte. Zur ersten Gruppe gehörten Reziproken-tabellen, Multiplikationstafeln, Tafeln von Quadratzahlen, Quadratwurzeln, Kubikwurzeln, Potenz- und Exponentialtabellen sowie metereologische Tabellen. Mit Hilfe dieser Tabellen wurden Rechnungen mechanisch abgewickelt. Bei den Problem-texten handelt es sich um angewandte Mathematik: Zins- und Zinseszinsrechnung, Aufgaben des Bauwesens, Erbteilungen, astronomische Aufgabenstellungen usw.
Die Lösungen der Aufgaben waren, genau wie diese, an konkrete Zahlenwerte gebunden. Die konkreten Methoden zur Lösung der Aufgaben wurden nicht zu Lehrsätzen, Formeln, formalen Methoden usw. verallgemeinert. Beweise wurden niemals gegeben. Durch viele Beispiele wurde dem Lernenden die Methode zur Lösung eines Aufgabentyps beigebracht.
Die babylonische Mathematik war in ihrer Grundanlage „algebraisch“. Bei der Bewältigung algebraischer Aufgaben erzielte sie ihre größten Erfolge bis hin zur Lösung von (konkreten) kubischen Gleichungen und solchen höheren Grades und von Gleichungssystemen. Auch geometrische Aufgaben über Dreiecke, Trapeze, reguläre Polygone, Pyramiden- und Kegelstümpfe, Kreise wurden algebraisch gelöst, sogar auch dann, wenn Zeichnungen die Aufgabe erläuterten.
Elementare geometrische Sätze, z. B. der Satz des Pythagoras, wurden angewandt, aber niemals allgemein formuliert. Listen pythagoreischer Zahlentripel waren bekannt.
Aus der Zeit nach 1600 v. Chr. sind uns nur noch vereinzelte mathematische Texte überliefert. Erst aus den letzten Jahrhunderten vor unserer Zeit sind wieder umfangreichere Texte bekannt, die jedoch nur in einem Punkt wesentlich von den älteren Texten abweichen: Die Zahlenrechnungen wurden auf bedeutend mehr Stellen vorangetrieben. Das war wohl auf die Bedürfnisse der mathematischen Astronomie zurückzuführen, die sich seit dem ersten vorchristlichen Jahrhundert in Babylon entwickelte und die die Grundlage der gesamten astronomischen und astrologischen Entwicklungen der westlichen Zivilisation bildete.
Mathematische und astronomische Einflüsse Babylons sind auch in Indien, China und in den arabischen Ländern nachweisbar.
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