Lexikon der Mathematik: Bourbaki (Nicolas)
ein Pseudonym für eine Gruppe junger französischer Mathematiker, die sich Mitte der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts bildete. Die Gründungsmitglieder waren Chevalley, Dieudonné, Weil, Cartan und Delsarte.
Diese Mathematiker stellten sich zunächst das Ziel, eine neue übersichtliche zusammenfassende Darstellung der Analysis zu geben, die sowohl für Forscher als auch für Studenten geeignet war. Sie wollten damit zugleich die großen Traditionen der franz. Mathematik fortsetzen. Bei den Diskussionen um die Realisierung dieses Planes entstand daraus das Vorhaben, anknüpfend an die in den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts ausgebildete axio-matische Methode, einen systematischen Überblick über große Teile der Mathematik zu erarbeiten. Weitere Mathematiker verstärkten als Autoren für die Ausarbeitung der einzelnen Teilgebiete die Gruppe, so daß zwischen 10 und 20 Mathematiker an der Realisierung des Programms beteiligt waren. Formal sollte die Mitgliedschaft in der Bourbaki-Gruppe mit dem Erreichen des 50. Lebensjahres beendet sein, doch haben die Bourbaki-Mitglieder der zweiten Generation auch die Auffassungen und die Mitarbeit der älteren Kollegen einbezogen. Zu den Autoren gehörten u. a. Brelot, de Rham, Eilenberg, Grothendieck, Koszul, Lang, Schwartz, Serre, und Thom.
Abgesehen von einigen wenigen Artikeln in der Anfangszeit erschienen unter dem Pseudonym Bourbaki nur Bücher, die in Anlehnung an die „Elemente” Euklids den Serientitel Eléments de mathématique trugen und ebenso einen Überblick über die zeitgenössige Mathematik bieten sollten. Sich auf die Ideen Hilberts und die Axiomatik berufend, wurden einzelne Teilgebiete aus einer möglichst minimalen Menge von Axiomen aufgebaut. Doch nicht alle Teilgebiete der Mathematik waren schon so weit entwickelt, daß man ihnen eine axiomatische Darstellung geben konnte. In einem ersten Teil konzentrierte man sich auf sechs Gebiete: Mengenlehre, Algebra, allgemeine Topologie, Funktionen einer reellen Veränderlichen, topologische Vektorräume und Integrationstheorie. Im zweiten Teil kamen dann u. a. Lie-Gruppen und Lie-Algebren, kommutative Algebra, Spektraltheorie, differenzierbare und analytische Mannigfaltigkeiten dazu. Eine zentrale Rolle bei diesem Aufbau der Mathematik spielte der Begriff der Struktur, der im wesentlichen eine Menge abstrakter Objekte und die zwischen ihnen bestehenden Relationen bezeichnete. Als einfachste und damit grundlegende Strukturen der Mathematik erkannten die Mitglieder der Bourbaki-Gruppe die algebraischen, die topologischen und die Ordnungsstrukturen, durch deren Kombination man dann kompliziertere Strukturen konstruieren konnte.
Bei diesem Vorgehen wurde auch ein wichtigen Beitrag zur Entwicklung einer exakten und zweckmäßigen Terminologie geleistet, obwohl nicht alle Begriffsbildungen von den anderen Mathematikern übernommen wurden. Es gelang jedoch nicht, die gesamte Mathematik nach dem strukturellen Gesichtspunkt darzulegen. Einige Teile, für die ein axiomatischer Aufbau noch nicht möglich erschien bzw. die in starker Entwicklung begriffen waren, wurden nicht behandelt. Außerdem verzichtete man leider darauf, Gebiete der angewandten Mathematik in die Darstellung einzubeziehen. Der von der Bourbaki-Gruppe entwickelte Aufbau der Mathematik fand nicht nur Zustimmung. Zwar ließ diese Vorgehensweise die logischen Zusammenhänge zwischen den einzelnen Gebieten viel deutlicher hervortreten, offenbarte teilweise unerwartete Beziehungen zwischen verschiedenen mathematischen Theorien, und viele Theoreme konnten aufgrund des Erfülltseins der abstrakt formulierten Voraussetzungen leichter in mehreren Theorien angewandt werden, doch vielen Mathematikern war die Darstellung zu abstrakt und spiegelte zu wenig das Leben, die Entwicklung der Mathematik wider. So wurden nicht alle der in den Werken der Bourbaki-Gruppe enthaltenen Anregungen aufgegriffen. Trotzdem haben diese Bücher das Voranschreiten der Mathematik mit beeinflußt.
Nachteilig wirkten sich vor allem die unsachgemäße Verabsolutierung von Ideen der Bourbaki-Gruppe und die Anwendung derartiger Darstellungen in der Lehre aus, zumal die Bücher der Gruppe nicht für Studenten, sondern für forschende Mathematiker zusammengestellt worden waren.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.