Lexikon der Mathematik: Kronecker, Leopold
Mathematiker, geb. 7.12. 1823 Liegnitz (Legnica, Polen), gest. 29.12.1891 Berlin.
Kronecker wurde als Sohn einer wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie geboren. Er erhielt zunächst Privatunterricht und besuchte dann das Gymnasium in Liegnitz, wo Kummer sein Mathematiklehrer war und ihn förderte. Ab 1841 studierte er in Berlin, Bonn (1843) sowie Breslau (1843/44), und promovierte 1845 bei Dirichlet. In den folgenden Jahren mußte er sich um die Verwaltung eines Landgutes der Familie sowie weitere geschäftliche Angelegenheiten kümmern, widmete sich in seiner Freizeit aber weiter der Mathematik und hielt engen brieflichen Kontakt zu Kummer. Seine erfolgreiche Geschäftstätigkeit ermöglichte es ihm, sich ab 1855 als unabhängiger Privatgelehrter in Berlin niederzulassen. 1861 wurde er zum Mitglied der Berliner Akademie gewählt und erhielt damit das Recht, Vorlesungen an der Universität zu halten, was er ab Wintersemester 1861/62 wahrnahm. 1883 trat er die Nachfolge Kummers als ordentlicher Professor an der Berliner Universität an und wirkte dort bis zu seinem Tode.
Kronecker begann seine mathematische Forschungstätigkeit mit Studien zur Auflösungstheorie von algebraischen Gleichungen und zur algebraischen Zahlentheorie. Angeregt durch die Arbeiten Abels und Galois’ folgte er den Intentionen des ersteren und versuchte, alle über einem gegebenen Grundkörper auflösbaren Gleichungen zu bestimmen. Er arbeitete die körpertheoretischen Aspekte des Problems klar heraus und folgerte 1853 den Satz, daß jede abelsche Erweiterung des Körpers der rationalen Zahlen ein Kreisteilungskörper ist. Der Satz wurde 1886 von H. Weber bewiesen. Durch die zeitgleiche Beschäftigung mit der komplexen Multiplikation elliptischer Funktionen wurde er zur Betrachtung imaginär-quadratischer Körper geführt und erkannte wichtige Zusammenhänge, die in den berühmten „Kroneckerschen Jugendtraum“ einmündeten: Jede abelsche Erweiterung eines imaginär-quadratischen Körpers K ist
Teilkörper eines Körpers, der aus K durch Adjunktion gewisser Einheitswurzeln und möglicher singulärer Moduln aus der Theorie der elliptischen Modulfunktionen entsteht. Die Vermutung wurde nach einer Präzisierung 1920 von Tagaki bewiesen. Kroneckers Studien bildeten einen wichtigen Ausgangspunkt für die Klassenkörpertheorie und regten u. a. Weber und Hilbert zu weiteren Untersuchungen an.
Mehrfach hat Kronecker seine algebraischen Einsichten auf zahlentheoretische Fragen angewandt. Ende der 50er Jahre war er vermutlich bereits im Besitz einer Theorie der algebraischen Zahlen, die er aber erst 1882 in der Festschrift zu Kummers Goldenem Doktorjubiläum veröffentlichte. Diese arithmetische Theorie der Zahl- und Funktionenkörper war der Dedekindschen äquivalent, basierte aber auf völlig anderen Methoden. Kronecker ging vom Ring der ganzen Zahlen aus und benutzte wesentlich die Adjunktion von Unbestimmten. Vermutlich hatte er sich die Entwicklung der gesamten arithmetischen Theorie der algebraischen Zahlen und den Aufbau der algebraischen Geometrie als Ziel gesetzt. Die Fortführung der verschiedenen Kroneckerschen Ideen durch andere Mathematiker lieferte wichtige Resultate, die heute zur modernen kommutativen Algebra gehören. Weitere hervorhebenswerte Resultate erzielte Kronecker zur Theorie der elliptischen Funktionen, zur linearen Algebra, zur algebraischen Topologie und zur Gruppentheorie.
In den Grundlagen der Mathematik war Kronecker ein eifriger Verfechter eines konstruktiven Standpunktes und forderte die Angabe der jeweiligen Objekte bzw. die Ausführung von Beweisen in endlich vielen Schritten. Cantors Mengenlehre wie auch die Weierstraßschen Schlußweisen in der Analysis lehnte er ab, was zu beträchtlichen Spannungen im Verhältnis zu diesen Mathematikern und deren Schülern führte. Weiterhin verfolgte Kronecker das Ziel einer konsequenten Arithmetisierung der Mathematik und versuchte, alles auf die ganzen Zahlen zurückzuführen und die irrationalen Zahlen zu vermeiden. Obwohl er dieses Ziel objektiv nicht erreichen konnte, schuf er in diesem Bestreben viele interessante Ergebnisse.
Kronecker war außerdem wissenschaftsorganisatorisch aktiv. Als eine führende Persönlichkeit im wissenschaftlichen und geistigen Leben Berlins nahm er aktiv an der Gestaltung der Akademie teil und förderte die Zuwahl zahlreicher Mathematiker.
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