Metzler Philosophen-Lexikon: Proklos Diadochos
Geb. 8. 2. 412 in Konstantinopel;
gest. 17. 4. 485 in Athen
Die umfängliche Biographie des P., die sein Schüler Marinos publizierte, hat einen so stark idealisierenden Charakter, daß nur wenige Fakten aus dem Leben des P. als einigermaßen gesichert zu nennen sind. Nach Studien der Grammatik, Rhetorik und Philosophie in Alexandrien wurde er in der Platonischen Akademie in Athen Schüler des Plutarch und – für seine spätere Entwicklung besonders folgenreich – des Syrianos. Nach dessen Tod übernahm P. – etwa 447 – die Leitung der Akademie, als sogenannter Diadochos, »Nachfolger« Platons, und blieb dies bis zu seinem Tod. Er muß ein faszinierender Lehrer gewesen sein, für den die Wahrheit des platonisch-aristotelischen Denkens in einem neuen geschichtlichen Kontext ebenso bedeutsam war wie die Bewahrung oder Erneuerung der religiösen Tradition. Sein Tageslauf gleicht in seiner Regelmäßigkeit und Fülle demjenigen Kants. Er starb an Gicht und wurde am Ostabhang des Lykabettos neben Syrianos begraben.
Im Denken des P. ist die metaphysische Theorie des mit Plotin einsetzenden Neuplatonismus in ihre sachliche und historische Vollendung gelangt. Gegenüber Plotin steigert sich in ihr allerdings zwar die inhaltliche Differenzierung und formale Versiertheit, nicht aber für alle Problemfelder die gedankliche Intensität. Dem ursprünglichen neuplatonischen Entwurf folgend, bestimmt P. die Wirklichkeit im ganzen aus drei Grundprinzipien heraus: aus dem Einen (»hen«), dem Geist oder dem absoluten, zeit-freien Denken (»nus«) und der Seele (»psychḗ«), die als allgemeiner, reflexiver Grund im Kosmos und als individuelle Seele des Menschen wirksam ist. – Das Eine ist der universale Grund, der umfassende Ursprung alles Vielen, d.h. der in sich differenzierten Wirklichkeit und der sie prägenden Prinzipien insgesamt. Als dieser Grund von Allem wird das Eine jedoch nicht mit dem aus ihm Entsprungenen (im Sinne eines groben Pantheismus) identisch, sondern bleibt vor Allem in sich es selbst: frei von bestimmter, eingrenzender Form, frei von innerer Relationalität (Denken), vor jedem kategorial faßbaren Etwas, unterschieden und getrennt von diesem, das Nichts von Allem. Als so geartete absolute Transzendenz und Andersheit ist es nicht in seinem eigentümlichen Wesen sagbar, sondern lediglich durch Negationen auszugrenzen. Daß es auch gründender Ursprung der Wirklichkeit ist, hebt diesen Sachverhalt – die Negativität des Einen – keineswegs auf; in seiner Entfaltung erweist es sich allerdings als das an ihm selbst teilgebende Gute, wodurch überhaupt erst Anderes als es selbst wird und ist. Die Einheit von Transzendenz und Immanenz ist für es charakteristisch: über Allem es selbst bleibend, ist es zugleich in Allem (im Vielen, Differenten) dessen Grund. Mit dieser Konzeption führt P. in der Nachfolge Platons (wie vor ihm schon Plotin) die zentralen Gedanken der Politeia und des Parmenides zusammen: Das Eine und das Gute sind identisch. Damit wird dasjenige, was den beiden Begriffen jeweils spezifisch eigen ist, nicht einfach zum Verschwinden gebracht, sondern in einer Einheit der Wesens-Momente jeweils gedacht. Wenn vom Guten die Rede ist, dann spiegeln sich in ihm alle Aussagen über das Eine – und umgekehrt, wenn auch bewußt bleiben muß, daß jede Rede über die beiden Momente des Ersten immer nur als vorläufig und dem An-sich- »Sein« des Ersten als nicht angemessen einzuschätzen ist.
P. ist darauf bedacht, den Übergang aus dem absoluten Ersten ins Viele nicht abrupt erscheinen zu lassen; er führt deshalb Vermittlungen ein, die die einzelnen Bereiche der Wirklichkeit intensiv miteinander verbinden, so daß eine in sich differenzierte Einheit des Ganzen garantiert ist: zuerst die »Henaden« als die ersten, von der Einheit noch vorherrschend gehaltenen Phänomene des Einen, eine die Vielheit im eigentlichen Sinne vermittelnde Viel-Einheit; danach das Prinzipienpaar Grenze und Grenzeloses (Unbestimmtes), aus dessen Zusammenwirken sich Sein und – von ihm her – Leben und Geist (Denken) als Wesenheiten mit einem je eigentümlichen ontologischen Status bestimmen. Während Plotin Sein – Leben – Denken von Parmenides, Platons Sophistes und Aristoteles’ Theologik her als reine Identität oder in sich einige Synthesis der Reflexion gedacht hat, gibt P., gemäß seinem Vermittlungsgedanken, der Andersheit und der unterordnenden Stufung mehr Raum, fügt aber dennoch die genannten und die in ihnen sich weiter triadisch entfaltenden Dimensionen in eine in sich dynamische Identität oder durch vielfältige Korrelationen bestimmte Einheit. Die allgemeine Gesetzlichkeit, die die auf jeder Stufe wiederkehrende logische und ontologische Struktur der Wirklichkeit insgesamt bedingt, faßt P. in den Begriffen Verharren – Hervorgang – Rückkehr: Durch die je verschiedene Konkretisierung dieser triadischen, kreishaften Bewegung erhalten und bewahren die jeweiligen Wirklichkeits-Dimensionen ihre Besonderheit und ihre teleologische Rückbindung zum universalen Prinzip, dem absoluten Einen und begründenden Ersten. – Der Mensch vollzieht die dem Sein im ganzen immanente, auf das Eine gerichtete Bewegtheit insofern nach, als er sich in einem radikalen Abstraktionsprozeß aus dem Sinnlichen heraus auf sich selbst denkend konzentriert (»Rückgang« als Selbstreflexion), um in der Entdeckung seines eigenen Einheits-Grundes sich selbst auf seinen ihm transzendenten Ursprung hin zu übersteigen: in einem punktuell zeit-freien Akt ekstatischen Inne-Seins vereint der Mensch das »Eine in uns« als die »Blüte oder Spitze des Geistes« mit dem Einen an sich (»henosis« oder »unio mystica«). Gerade diese Gedankenbewegung zeigt, daß die Philosophie des P. nicht als eine in sich starre Systematik aufgefaßt werden kann; vielmehr soll – dies ist P.’ klare Grundabsicht – die philosophische Reflexion die Lebensform des Menschen bestimmen als einen kontinuierlichen Weg zum Einen selbst, als eine »Einübung in die Schau des Einen«. – Von Plotin unterscheidet sich P. auch darin, daß er die Wirklichkeit im ganzen präzise zu »theologisieren« versucht: jede Stufe des Seins innerhalb des Ganzen ist mit einem jeweils bestimmten, mit mythologischem Namen nennbaren Gott identisch. Dadurch ordnet P. die religiöse Tradition der Griechen rigoros dem philosophischen Begriff unter. Er fördert so paradoxerweise einerseits eine Ent-Mythisierung des Mythos, indem er ihn zu einer zur Allegorie oder Metapher tendierenden Funktion des begreifenden Denkens, zu einer »Mythologie der Vernunft« macht, andererseits aber auch eine Re-Mythisierung des Denkens, indem dieses den Mythos als seinen eigenen »Ausdruck« bewahren soll. Damit stimmt – im Gegenzug zu intensiver spekulativer Begriffs-Arbeit an der Entfaltung eines metaphysischen Systems – P.’ hohe Einschätzung der Theurgie durchaus überein: Theurgie als eine von Philosophie inspirierte und geleitete, aber auch durch theologische Autorität (der »Orphischen Hymnen« und der sog. »Chaldäischen Orakel«) bestimmte liturgische Praxis, in der er sich selbst – durch seine Verbundenheit mit allen Religionen – als den »Hierophanten der ganzen Welt« versteht. Durch die theurgischen, durch Gebet und Hymnen begleiteten Handlungen sollte – im Ausgang von materiellen Symbolen – neben der Möglichkeit philosophischer Einung eine intensive Verbindung mit dem Bereich des Göttlichen verwirklicht werden.
Sein Denken hat P. von Anfang an zunächst in umfänglichen Kommentaren zu Platons Dialogen entfaltet: im Kommentar zum Platonischen Timaios z.B. Fragen der Kosmologie – allerdings, wie in den anderen Kommentaren auch, ohne scharfe Abgrenzung der Problembereiche der Philosophie; im Parmenides-Kommentar die metaphysische Prinzipienlehre, die das Verhältnis von Einheit und Vielheit universal bestimmt; im Kommentar zum Alkibiades Fragen des Erkennens und ethischen Handelns. In einer Auslegung der Elementa des Euklid hat er, der platonisch-neupythagoreischen Intention folgend, die zentrale Bedeutung von Mathematik und Geometrie für die philosophische Theorie entwickelt. Sein »System« stellt P. – frei von Interpretation – in der Elementatio theologica dar, indem er die durch das Eine selbst in allen Dimensionen konstituierte Wirklichkeit im Horizont einer metaphysischen Kausalität und analogisierenden Teilhabe des Einzelnen am Einen zu denken versucht. Eine Verbindung von metaphysisch-ontologischer Theorie des Einen und Guten (im Blick auf Platons Parmenides und Politeia) mit der religiösen (mythologischen) Tradition vollzieht er in einem anderen »systematischen« Werk: der Theologia Platonis, in der die Gesamtabsicht seines Denkens ihren charakteristischen, die einzelnen Fragebereiche integrierenden Ausdruck gefunden hat.
Für die Entwicklung von Philosophie und Theologie in Mittelalter, Renaissance und Neuzeit ist das Denken des P. wirkungsgeschichtlich bedeutsam geworden, u. a. als umfassende Quelle des Pseudo-Dionysius Areopagita, der aufgrund seiner apostelgleichen Autorität den Stufungsgedanken des Mittelalters, die Entfaltung der Gottesprädikate und der mystischen Theologie wesentlich mitbestimmte, weiterhin für einen metaphysischen Kausalitätsbegriff, wie er sich im 12. Jahrhundert in dem prinzipiell proklischen, aber von der Autorität des Aristoteles geleiteten Liber de causis dokumentierte. Durch Thomas von Aquin wurde P. dann nicht nur als Quelle eben dieses, das mittelalterliche Denken weithin bestimmenden Textes erkannt, sondern anhand lateinischer P.-Übersetzungen, die Wilhelm von Moerbeke bereitstellte, als philosophische Größe gewürdigt. In enger sachlicher Verbindung zur Schule des Albertus Magnus, insbesondere zu Dietrich von Freiberg und Meister Eckhart, verfaßte Berthold von Moosburg in der Mitte des 14. Jahrhunderts eine umfassende, die platonische Tradition durchdringende, in manchen Problembereichen auch eigenständige Expositioˆ der proklischen Elementatio theologica – einen Thesaurus des mittelalterlichen Platonismus, in dem er Grundfragen der neuplatonischen Metaphysik des Einen und Guten, des Intellekts, der Seele und der Materie in seinen eigenen geschichtlichen Kontext produktiv übertrug. Die Lehre vom Seelengrund des Johannes Tauler verdankt Entscheidendes dem proklischen Begriff des »Einen in uns«, und vor allem Nicolaus Cusanus gewinnt die philosophische Grundlegung seiner Konzeption des göttlichen Einen und des Nicht-Anderen aus P.’ Metaphysik des Einen. Hegel, der »deutsche Proklos« (Feuerbach), sieht in ihm das »Vorzüglichste und Ausgebildetste unter den Neuplatonikern«, sein eigener Begriff der konkreten Totalität und der dialektischen Bewegung der Wirklichkeit verbindet ihn mit der proklischen Triadik des Seins und des Gedankens.
Proclus et la Théologie Platonicienne. Hg. A.Ph. Segonds und C. Steel, Leuven/Paris 2000. – Saffrey, Henri D.: Art. »Proklos Diadochos«. In: Der Neue Pauly. Stuttgart/Weimar 1996ff., Bd. 10, Sp. 382–388. – Boss, G./Seel, G. (Hg.): Proclus et son influence. Zürich 1987. – Pépin, Jean/Saffrey, H. D. (Hg.): Proclus. Lecteur et interprète des anciens. Paris 1987. – Beierwaltes, Werner: Proklos. Grundzüge seiner Metaphysik. Frankfurt am Main 21979. – Trouillard, Jean: L’un et l’ame selon Proclos. Paris 1972.
Werner Beierwaltes
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.