Metzler Philosophen-Lexikon: Stirner, Max (d. i. Johann Caspar Schmidt)
Geb. 25. 10. 1806 in Bayreuth;
gest. 25. 6. 1856 in Berlin
Die Sammlung von St.s kleineren Schriften, die Bernd Laska 1986 unter dem Titel Parerga, Kritiken, Repliken herausgegeben hat, trägt auf der Rückseite die folgenden Zitate über St.: »der hohlste und dürftigste Schädel unter den Philosophen« (Karl Marx); »ein verkommener Studiker, ein Knote, ein Ich-Verrückter, offenbar ein schwerer Psychopath« (Carl Schmitt); »aus der Armut und der Enge hervorgetriebenes Mittelmaß, ein rigoroser Monomane« (Jürgen Habermas). Daß sich Denker so unterschiedlicher Herkunft in ihrer Ablehnung einig sind, lenkt bereits das Interesse auf den so scharf Kritisierten. Darüber hinaus ist die einheitliche Front der Kritiker durch die vielfältige Wirkung zu ergänzen, die von St.s Werk ausging. Trotz Marx’ Kritik, die in der Deutschen Ideologie ausführlich vorgetragen wird, gilt es als erwiesen, daß St. zu Marx’ eigener Entwicklung entscheidend beitrug: Seine Ablösung von Feuerbach und die Entfaltung seines Ideologiebegriffs wurden nachdrücklich mit St. in Verbindung gebracht (David McLellan, Ahlrich Meyer). Seit Ende des 19. Jahrhunderts betrachten viele Interpreten St.s Hauptwerk Der Einzige und sein Eigentum (der Titel trägt 1845, es erschien aber bereits im November 1844) als einen Klassiker des anarchistischen Schrifttums. St.s Einfluß auf die Literatur, z.B. Turgenjew und Dostojewskij (dessen Raskolnikow Leszek Kolakowski als Verkörperung von St.s »Einzigem« betrachtet) auf russischer, André Gide und André Breton auf französischer Seite, gehörten in diesen Zusammenhang. Anderen (z.B. Henri Arvon) erscheint St. als Vorläufer des französischen Existentialismus, ein Einfluß, den Nietzsche vermittelt haben mag. Schließlich trug Hans G. Helms Nachweise zusammen, die belegen, daß St. den italienischen (Mussolini) und deutschen Faschisten (Hitlers Mentor und Propagandist Dietrich Eckart) als Quelle diente.
So berechtigt solche Erörterungen der Wirkungsgeschichte sind, sollten sie nicht die Fragen nach der Person des Autors und der geschichtlichen Stellung seines philosophischen Schaffens verdrängen, denn auch St. und sein Werk sind zunächst in ihrer Zeit zu sehen. St.s Lebensspanne reicht von Napoleons Neuordnung Europas, über Restauration, Vormärz und die Revolution von 1848, bis zur post-revolutionären Reaktion. In philosophiehistorischer Perspektive überschneidet sich St.s Lebensweg mit dem Aufstieg Hegels, über dessen wirkungsmächtige Schulbildung bis zur Spaltung und dem langsamen Niedergang der Hegelschen Schule. St.s Lebensweg – die eher spärlich überlieferten Fakten wurden von seinem Biographen Mackay fleißig zusammengetragen, die Züge seines Vorbildes dabei doch gelegentlich geschönt – ist arm an bemerkenswerten Ereignissen; Mackay spricht von »der großen Zurückgezogenheit«, die er letztlich auf die Introvertiertheit St.s zurückführt. Aus seiner familiären Herkunft ist erwähnenswert, daß er der einzige Sohn protestantischer Eltern war und den Vater früh verlor. Der Gymnasialbildung in Bayreuth folgten Studienjahre in Berlin (von 1826 bis 1828), Erlangen (1828/29), Königsberg (1829) und nach längerer Unterbrechung aufgrund »häuslicher Verhältnisse« wieder Berlin (von 1832 bis 1834). Nach einem nicht gerade glänzenden Lehramtsexamen (1834/35), anderthalbjährigem Referendariat an der Königlichen Realschule zu Berlin (1835/36) und weiteren Privatstudien bemühte sich St. erfolglos um Anstellung an einem öffentlichen Gymnasium der Provinz Brandenburg. Eine erste Ehe (1837) endete bald mit dem Tod der jungen Frau im Kindbett.
Im Jahre 1839 begann St. eine fünfjährige Unterrichtstätigkeit an einer Berliner Privatschule. Seine philosophisch produktive Phase währte nur zehn Jahre: Sie setzte 1842 mit Rezensionen und Artikeln ein, erreichte 1844 mit Der Einzige und sein Eigentum ihren Höhepunkt und versiegte dann in Übersetzungen (Adam Smith, Jean-Baptiste Say) und Kompilationen (Geschichte der Reaktion, 1852). Die aufsteigende Linie seiner Produktivität überschnitt sich zeitlich mit St.s geselligem Verkehr im Kreise der bohemehaften Berliner Junghegelianer um Bruno Bauer. Im Umfeld dieser Gruppe der sogenannten »Freien« lernte St. seine zweite Frau, Marie Dähnhardt, kennen, durch deren Vermögen er in die Lage gesetzt wurde, seine Unterrichtstätigkeit einzustellen, um als philosophischer Schriftsteller zu privatisieren. Eine unsachgemäß realisierte Geschäftsidee – ein Milchvertrieb in Berlin – führte zum finanziellen Ruin des Ehepaars, das sich bald darauf trennte. St.s Lebensweg verliert sich in Not (1853 saß er zweimal im Schuldarrest) und Dunkelheit. Unter den dürren biographischen Fakten verdienen zwei Aspekte nähere Aufmerksamkeit, da sie für die philosophische Entwicklung St.s (das assoziationsreiche Pseudonym entstand vermutlich aus einem Spitznamen, den ihm die hohe Stirn bereits in seinen Studentenjahren eingetragen hatte) von entscheidender Bedeutung sind. Zunächst übte die Hegelsche Philosophie einen direkten und bleibenden Einfluß auf ihn aus: Als Student hörte St. nicht nur drei große Vorlesungszyklen (Religionsphilosophie, Geschichte der Philosophie, Philosophie des subjektiven Geistes) bei Hegel selbst, sondern auch die Hegelianer Ph. Marheineke, Chr. Kapp und K. L. Michelet. Auch der zweite prägende Einfluß, den St. empfing und der in seinem Hauptwerk deutliche Spuren hinterließ, nämlich die durch die »Freien« vermittelte Auseinandersetzung mit Ludwig Feuerbach und Bruno Bauer, geht letztlich auf Hegel zurück. Daß es dennoch kaum detaillierte Untersuchungen von St.s Verhältnis zu Hegel gibt – eine Lücke, auf die L. S. Stepelevich nachdrücklich hinweist und auch zu schließen trachtet –, erklärt sich einerseits aus der Tendenz der St.-Anhänger, Hegel rechts liegen zu lassen, andererseits aus einer gewissen Berührungsangst der Hegelforschung.
Die Intention von St.s Hauptwerk – er ist ein Paradebeispiel des Denkers, der nur ein wirkliches Buch schrieb – ist die radikale philosophische Affirmation des einzigartigen Ichs. Anfang und Ende seines mit Goethes Formulierung: »Ich hab’ Mein Sach’ auf Nichts gestellt« betitelten Prologes mögen diese Intention illustrieren: »Was soll nicht alles Meine Sache sein! Vor allem die gute Sache, dann die Sache Gottes, die Sache der Menschheit, der Wahrheit, der Freiheit, der Humanität, der Gerechtigkeit; ferner die Sache Meines Volkes, Meines Fürsten, Meines Vaterlandes; endlich gar die Sache des Geistes und tausend andere Sachen. Nur Meine Sache soll niemals Meine Sache sein. Pfui über den Egoisten, der nur an sich denkt!ˆ« »Das Göttliche ist Gottes Sache, das Menschliche Sache des Menschenˆ. Meine Sache ist weder das Göttliche noch das Menschliche, ist nicht das Wahre, Gute, Rechte, Freie usw., sondern allein das Meinige, und sie ist keine allgemeine, sondern ist – einzig, wie ich einzig bin. Mir geht nichts über Mich!« Die beiden Teile, in die das Werk gegliedert ist: »Der Mensch« und »Ich« – die Zweiteilung kopiert den Aufbau von Feuerbachs Das Wesen des Christentums –, widmen sich dann der Analyse der Unterdrückung des Ich, bzw. der Entwicklung einer Befreiungsstrategie, durch die das Ich zu sich selbst zurückfinden soll. Der erste Teil setzt ein mit einer dreistufigen ontogenetischen Skizze (»Ein Menschenleben«), die Hegels Anthropologie verpflichtet ist und die dann mit ausführlich dargestellten geschichtlichen Epochen (»Die Alten«, »Die Neuen«, »Die Freien«) parallelisiert wird. Entscheidend ist hierbei, daß Religion, Philosophie und »Liberalismus« (letzterer wird in »politischen«, »sozialen« und »humanistischen« unterschieden) für St. schließlich darauf hinauslaufen, Mächte zu konstituieren, die dem einzigartigen Ich fremd gegenübertreten und es von außen beherrschen.
So hält St. Feuerbach zugute, daß er »das Göttliche vermenschlichte«, bekämpft dann jedoch den Dualismus, der zwischen den empirischen Menschen und ihren säkularisierten Idealen bestehenbleibt. Sozialistische und kommunistische Ideen, die er ohne präzise begriffliche Differenzierung unter dem Titel »sozialer Liberalismus« abhandelt, lehnt St. ab, weil die Substitution privateigentümlicher Herrschaftsstrukturen durch kollektive Steuerung wiederum zu Fremdbestimmung führen würde: »Alle Versuche, über das Eigentum vernünftige Gesetze zu geben, liefen vom Busen der Liebe in ein wüstes Meer von Bestimmungen aus.« Da er die Mächte, die das einzigartige Ich unterdrücken, als rein ideologische Gebilde versteht, kann St. im zweiten Teil seines Buches eine Befreiungsstrategie konzipieren und verbreiten, die sich ausschließlich im Ich ereignet. Die gespensterhaften Gebilde, die das Ich beherrschen, können durch Bewußtseinsänderung abgeschüttelt werden, indem sich das Ich als einzige Wirklichkeit und Wertbegründungsinstanz zu behaupten lernt. Alle anderen Gesetze und Regeln sind damit hinfällig. Der Egoismus, der bislang nur im Verborgenen wirken konnte, offenbart sich selbstbewußt als ursprüngliche Motivationsstruktur. Aus dieser Perspektive erwächst St.s Haß gegen jegliche staatliche Ordnung. Die angemessene Reaktion des »Einzigen« auf Bevormundung durch den Staat ist die »Empörung«, nicht die Revolution. Im Eigentum erfährt St.s einzigartiges Individuum seine notwendige Objektivierung – in dieser privateigentümlichen Argumentationsstruktur bleibt er Hegel eng verwandt –, Verfügungsgewalt über Eigentum ist der Ausdruck und damit der Prüfstein seiner Freiheit.
Gibt es in dieser Konzeption überhaupt noch Raum für die Interaktion der »Einzigen« oder sind sie notwendig einsam? Durch Solidarität geprägte Gemeinschaften sind für St. ebenso undenkbar wie stabile gesellschaftliche Strukturen auf der Basis von Interessenkonsens. Es kann jedoch zu freien und beliebig kündbaren Vereinigungen von »Einzigen« zu »Vereinen von Egoisten« kommen – solche bieten sich schon als rationales Mittel der Arbeitsorganisation an –, worin sich interpersonale Kommunikation allerdings in Konsumbeziehungen erschöpft.
Das zentrale Mißverständnis, das St. mit anderen Fehldeutungen Hegels verbindet, ist die Annahme, daß Hegels Absolutesˆ in schroffem Gegensatz zum Bereich des Menschlich-Partikularen steht, statt zu erkennen, daß Hegel das Absolute gerade auf dieser Ebene suchte und konzipierte. Aus marxistischer Sicht bleibt St.s Gegenüberstellung von einzigartigem Ich und Gesellschaft selbst gesellschaftlich vermittelt. St.s diffamierende Gleichsetzung von Arbeiterklasse und Lumpenproletariat – hier offenbart sich seine Ahnungslosigkeit von den wirklichen Komponenten der sozialen Frageˆ – ist das notwendige Korrelat dieser simplifizierenden Sichtweise. Sollte nicht schließlich der geselligen Natur des Menschen, die St. auf verdinglichte Konsumverhältnisse reduziert und der er lediglich in seiner Karikatur des »Vereins der Egoisten« Tribut zollt, echte Anerkennung zukommen?
McLellan, David: Die Junghegelianer und Karl Marx. München 1974. – Helms, Hans G.: Die Ideologie der anonymen Gesellschaft. Max Stirners Einzigerˆ und der Fortschritt des demokratischen Selbstbewußtseins vom Vormärz bis zur Bundesrepublik. Köln 1966. – Mackay, John Henry: Max Stirner. Sein Leben und Werk. Berlin 1898 (Nachdruck Freiburg 1977 nach der 3. Auflage).
Norbert Waszek
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