Metzler Philosophen-Lexikon: Taylor, Charles
Geb. 1931 in Montréal
»Gleiches Recht für alle« – eine Abkehr von dieser politischen Errungenschaft des Liberalismus scheint weder in der Philosophie noch in der Politik denkbar. Wenn aber die Gleichberechtigung unterschiedlicher kultureller Lebensformen als Forderung erhoben wird, stößt dieser Grundsatz für Individualrechte an seine Grenzen. T. hat dazu eine intensive Diskussion angestoßen, als er der Sicherung der kollektiven Identität benachteiligter Gruppen oder Minderheiten einen höheren Rang einräumte. Sein konkretes Engagement galt der Anerkennung der frankophonen Kultur in der Provinz Québec als »distinct society«. Als Sohn eines englischsprachigen Vaters und einer französischen Mutter war er Zeitzeuge der Konfrontation beider Sprachkulturen in seiner Heimat. Die lebensgeschichtlich motivierte Forderung einer »Politik der Anerkennung« führte schließlich zu einer Auseinandersetzung darüber, ob das von Kant propagierte Recht auf gleiche subjektive Freiheit notwendigerweise in Konflikt stehe mit der Sicherung kultureller Identitäten (Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, 1992).
T.s akademischer Werdegang bewegte sich abwechselnd zwischen Montréal und Oxford: Professur für Philosophie an der Université de Montréal, von 1976 bis 1981 Professur für Soziale und Politische Theorie in Oxford und danach für Politikwissenschaft und Philosophie an der McGill-Universität in Montréal. In seiner Dissertation (The Explanation of Behavior, 1961; veröffentlicht 1964) deutet sich bereits ein Grundmotiv seines Forschens an: Kritik an den Vorgaben des Neopositivismus. Der Erklärungsweise des Behaviorismus, in der das Handeln des Menschen auf das beobachtbare Verhalten reduziert wird, stellt er ein intentionales Modell menschlichen Handelns gegenüber. Der Phänomenologie von Husserl und Merleau-Ponty entnimmt er die Kategorien für seine Gegenthese: Der Mensch reagiert nicht passiv auf irgendwelche Außenimpulse, er verleiht vielmehr der ihn umgebenden Welt eine durch seinen subjektiven Erlebnishorizont geprägte Bedeutung.
Für T.s weiteres Forschen ergaben sich daraus vielfältige Fragestellungen, die sich nicht den künstlichen Grenzziehungen nach philosophischen Gebieten einfügen. Seine als Philosophical Papers veröffentlichten Studien zum »Human Agency and Language« und zu »Philosophy and the Human Sciences« aus den Jahren 1971 bis 1984 decken das Spektrum von Sozialphilosophie, Politischer Philosophie, Philosophischer Anthropologie und Ethik ab.
Durch seine umfassende Untersuchung zu Hegel (1975) hat sich T. einen Namen innerhalb der Hegelforschung gemacht. Auch wenn T. die Systemidee Hegels für gescheitert hält, glaubt er doch in Hegels Werk den Grundkonflikt der Moderne adäquat benannt: den Gegensatz zwischen der aufklärerischen-naturwissenschaftlichen Weltsicht auf der einen und dem Subjekt, das um die Verwirklichung seiner Absichten und nicht zuletzt seines eigenes Leben bestrebt ist, auf der anderen Seite. Herders Ausdruckslehre steht zudem Pate bei T.s Kritik des mechanistischen Bildes vom Leben. Auf einen Nenner gebracht: Die Idee der menschlichen Freiheit braucht zu ihrer Realisierung auch eine Vorstellung davon, in welche Richtung sich das Subjekt entwickeln soll. Die Unterscheidung zwischen »Freiheit von« und »Freiheit zu«, die sein akademischer Lehrer Isaiah Berlin thematisiert hat, spielt dabei eine tragende Rolle (Negative Freiheit, 1988).
In seinem umfassenden Werk Sources of the self (1989; Quellen des Selbst, 1994) geht T. dem Ursprung der Irrtümer hinsichtlich der Interpretation des menschlichen Lebens nach. So sei die Idee des autonomen, vor der Welt stehenden Individuums ein Selbstmißverständnis der Moderne über ihre eigenen Grundlagen. Denn auch das Ideal einer autonomen Vernunft enthält bereits eine normative Wertung – jene von Eigenverantwortlichkeit und Selbständigkeit. Nicht eine neutrale Vernunft, vielmehr eine ethische Idee steht also am Anfang der Moderne. T. rekonstruiert die Genese des neuzeitlichen Ichs, wie es bei Descartes begründet wurde. Kritisch wendet er sich gegen die Idee eines gewissermaßen weltlosen Individuums, das erst mittels seiner »desengagierten Vernunft« die Welt zu erschließen vermag. Als Beleg für seine kulturkritische These vom »atomisierten Subjekt« führt T. die Verkürzungen des Naturalismus an: Dieser hat den Menschen atomisiert, gewissermaßen ohne Kontexte, aus denen heraus er handelt, ohne Werte, die er in diesem voraussetzt, gedacht. Diese Idee des Individuums konfrontiert T. mit Hegels und Wittgensteins Annahme, daß sich planvolles Leben und Handeln immer vor dem Hintergrund einer festen »Lebensform«, einem »situierten Leben« abspiele.
Seine Überlegungen zum Begriff menschlichem Handelns führen T. zu einer Konzeption von Ethik, die in Opposition zu kantisch geprägten Modellen steht. Der Sinn, den der einzelne seinem Handeln gibt, steht im Licht von »starken Wertungen«, die in der Idee des menschlichen Selbst fundiert sind. Diese implizierten Werte gelten gemäß seiner hermeneutischen These von der Standortgebundenheit nur für eine konkrete historische Gemeinschaft. Menschliche Identität, menschliches Handeln und Erkennen sind nach T. nicht möglich ohne die intersubjektiv verbindliche Akzeptanz letzter und höchster Güter. Alle individuellen Bewertungen greifen auf einen Sprachhorizont zurück, der Ausdruck kollektiver Identität ist. Die jeweilige soziale Gemeinschaft hat also bereits über ihre grundlegenden moralischen Prinzipien entschieden. Der einzelne bewegt sich damit in einem Horizont gemeinschaftlich geteilter Werte (Negative Freiheit, 1988).
In The Malaise of Modernity, 1991 (Unbehagen an der Moderne, 1995) analysiert T. die fatalen Konsequenzen, die durch eine verkürzte Vorstellung des modernen Menschenbildes hervorgerufen worden sind.
Die zentrale neuzeitliche Idee von menschlicher Freiheit, vom Recht des einzelnen, seine eigenen Lebensform zu wählen, führte zu einem »Individualismus der Selbstverwirklichung«, mithin zu einem Wertrelativismus, der Belange jenseits des eigenen Ich ignoriert, und zu einem normativen Subjektivismus, der es unmöglich macht, über moralische Streitfragen zu befinden.
Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie? (2001) thematisiert die normativen Konsequenzen daraus: Zum Selbstverständnis der westlichen Demokratien gehören nicht nur die Durchsetzung der Rechte und Freiheiten des einzelnen, sondern auch eine Besinnung auf Werte wie Gemeinsinn und Solidarität. Jenseits des individuellen Wohlergehens muß Verantwortlichkeit für die Belange der Gemeinschaft erkennbar sein. T. weist darauf hin, daß ein Individuum außerhalb eines gesellschaftlichen Zusammenhangs gar nicht zu denken ist. Den durch die Gemeinschaft garantierten Rechten müssen auf der Seite des Individuums eine »Verpflichtung dazuzugehören«, sprich: Solidarität mit dem Gemeinwesen, entsprechen. T.s These ist, daß jede Gesellschaft der Rückversicherung in einer gemeinsam geteilten Vorstellung des Guten bedarf.
Die Gemeinsamkeiten T.s mit dem Kommunitarismus sind erkennbar: Er teilt mit ihnen die Ansicht, daß die Alternative Individuum oder Gemeinschaftˆ nicht haltbar ist, er teilt mit ihnen die Skepsis, daß ein einziges dominierendes Moralprinzip die Grundlage bilden könne, und vertritt mit ihnen die Meinung, daß die Verankerung aller moralischer Prinzipien in der Gemeinschaft liege.
Breuer, Ingeborg: Charles Taylor zur Einführung. Hamburg 2000. – Rosa, Hartmut: Identität und kulturelle Praxis. Frankfurt am Main/New York 1998. – Tully, James (Hg.): Philosophy in an Age of Pluralism. Cambridge 1994.
Peter Prechtl
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