Metzler Philosophen-Lexikon: Zenon von Elea
Geb. um 490/85 v. Chr. in Elea;
gest. nach 445/40 v. Chr.
Über sein Leben ist kaum mehr bekannt als über das seines Lehrers Parmenides. Wie dieser ist er im süditalienischen Elea gebürtig, wo er sich wohl auch lange Zeit aufhält. Einen Besuch in Athen bezeugen Platon und Plutarch; dort hören ihn angeblich Perikles, Kallias und Sokrates.
Sein (nur fragmentarisch erhaltenes) Werk, eine Sammlung von Paradoxa, attackiert Probleme, die hinter den Vorstellungen einer pluralistischen Welt verborgen liegen. Die Methodik ist neu. Aristoteles nennt Z. den »Erfinder der Dialektik«, der, ähnlich Sokrates, in seinen Gedankenexperimenten von allgemein akzeptierten Begriffen ausgeht, um sie in der Folge als absurd oder falsch zu beweisen.
Seit Platon vertritt die traditionelle Doxographie die Meinung, mit seinen Argumenten vor allem gegen Pluralität und Bewegung suche Z. (indirekt) den Beweis für die Ontologie des Parmenides zu liefern. Doch lassen sich nicht alle Argumente als Anker der eleatischen Lehre erklären – einige unter ihnen bringen auch diese in Schwierigkeiten. Inzwischen ist man zum Teil geneigt, Z. eine unabhängigere Position zuzuschreiben, doch gehen die Urteile über sein Verhältnis zu Parmenides, die Zielsetzung seines Werkes, die Qualität seiner Methodik und Argumente weit auseinander. Z. ist kaum ein Eleat im strengen Sinn. Sein Interesse an Fragen der Metaphysik scheint gering. Auch die seinen Argumenten oft nachgesagte logische Präzision läßt sich keinesfalls auf die Absicht zurückführen, eine Theorie der Logik entwickeln zu wollen (dies leistet erst Aristoteles). Er errichtet kein eigenständiges philosophisches Lehrgebäude. Sein Ansatz ist negativ, destruktiv; sein Ziel ist Kritik. In einem gewissen Sinn ist Z. der erste der Sophisten. Doch der immens philosophische Gehalt einiger seiner Paradoxa macht ihn – beinahe gegen seinen Willen – zu einem der großen Vorsokratiker.
Seine Wirkungsgeschichte reicht weit. Wichtig ist sein Einfluß auf den Atomismus, und Gorgias’ Werk Über das Nichtseiende ist voller Reverenzen an ihn. Platon und Aristoteles setzen sich intensiv mit ihm auseinander. Doch nie ist Z. so leidenschaftlich diskutiert worden wie im 20. Jahrhundert, seit seiner Wiederentdeckung durch Bertrand Russell. Von seinen Argumenten haben sich etwa zehn erhalten. Das vielleicht eindrucksvollste, die sog. »Dichotomie« (Halbierung), die die Bewegung in Frage stellt, soll kurz erörtert werden. Das berühmtere Paradox von »Achilles und der Schildkröte« erweist sich bei näherer Untersuchung als eine plastische Version der »Dichotomie«.
Ein Körper durchläuft die Strecke AB. Auf seinem Weg berührt er zunächst den Punkt a1, die Mitte zwischen A und B, danach a2, die Mitte zwischen a1 und B, dann a3, die Mitte zwischen a2 und B, und so fort ins Unendliche. Auf der Strecke AB berührt der Körper also unendlich viele Punkte. Doch es ist unmöglich, eine unendliche Zahl von Punkten zu berühren. Folglich kann der Körper sein Ziel, B, nicht erreichen. In anderen Worten: Ein Körper auf dem Weg von A nach B vollzieht unendlich viele Handlungen. Es gibt auf dieser Strecke unendlich viele Punkte, und wenn der Körper B erreichen will, muß er sie alle berühren. Das bedeutet: (1) Wenn etwas sich bewegt, vollführt es unendlich viele Handlungen. Dem setzt Z. entgegen: (2) Nichts kann unendlich viele Handlungen durchführen. Folglich gibt es keine Bewegung.
Soll Z. nicht recht behalten, muß eine der beiden Thesen widerlegt werden. Gegen (1) läßt sich nur ein einziger ernsthafter Einwand vorbringen: (1) ist nur wahr, wenn Raum unendlich teilbar ist. Doch auch die Zugrundelegung einer atomistischen Raumstruktur ist kein Argument gegen (1). Hinter der physikalischen Fassade dieses Paradoxes verbirgt sich ihr solides mathematisches Fundament: Eine geometrische Strecke ist definitiv unendlich teilbar. Um so lebhafter wird These (2) diskutiert. Warum ist es unmöglich, unendlich viele Handlungen durchzuführen? Handelt es sich um eine physikalische oder um eine logische Unmöglichkeit? Drei klassische Argumente gegen (2) seien kurz vorgestellt:
Z. erliegt einer Täuschung. Die Summe der gegen Null konvergierenden Reihe 1/2 + 1/4 + 1/8 etc. ist 1. Seine Endlosigkeit erweist sich in ihrer Gesamtheit also als endlich. Doch selbst wenn Z. diese Summe (irrtümlicherweise) tatsächlich für unendlich hält: (2) ist damit nicht entkräftet.
Aristoteles diskutiert das Paradox zweimal. Für seine erste Lösung führt er den Faktor Zeit ein und formuliert die These von Z. neu: Bewegung kann nur in einem endlichen Zeitraum stattfinden. Um aber eine unendliche Reihe von Punkten zu berühren, ist ein unendlicher Zeitraum nötig. Dem steht die Endlichkeit unseres Lebens entgegen. Aristoteles gibt folgende Antwort: Wie die endliche Strecke AB unendlich viele Punkte enthält, enthält auch eine bestimmte Zeit t unendlich viele Momente. Jedem Raumpunkt korrespondiert ein Zeitpunkt. Somit reicht eine infinit teilbare (finite) Zeit aus, um eine infinit teilbare (finite) Strecke mit allen ihren Punkten zu durchlaufen. Aristoteles sucht Z. mit der Annahme zu widerlegen, Zeit sei wie Raum ein (infinit teilbares) Kontinuum. Doch bleibt (2) von diesem Argument unberührt. Aristoteles selbst stellt fest, daß sein Einwand, auf die Zeit selbst angewendet, sich von allein erledigt: Wie kann jener Körper eine finite Zeit durchlaufen, die sich nun ins Unendliche aufsplittert? Statt einer finden wir uns mit zwei Unendlichkeiten konfrontiert. Doch verfremdet Aristoteles’ Diskussion des Zeitproblems das Paradox ohnehin. In ihm spielt die Zeit keine konstitutive Rolle.
Aristoteles schlägt noch eine zweite Lösung vor. Bewegt sich der Körper kontinuierlich, passiert er die allein potentiell existenten unendlichen Punkte und damit die Strecke. Pausiert er aber an jedem der Punkte, aktualisiert er sie; sie werden Realität, und er kann nicht mehr ankommen. So überzeugend diese Argumentation klingt – für ihre Wahrheit gibt es keinen zwingenden Beweis.
Mehrere zum Teil ingeniöse moderne Lösungen, die (2) stützen wollen, erweisen sich alle in vergleichbarer Weise als fehlerhaft. So läßt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur festhalten, daß (2) wahrscheinlich falsch ist, es jedoch unmöglich scheint, dies zu beweisen. In These (2), die so offenkundig die Begrenztheit all unseres Tuns verkündet, liegt in der Tat die Faszination der Dichotomie. Doch der schlüssige Beweis, pro oder contra, steht nach wie vor aus.
Bodnár, István: Art. »Zenon«. In: Der Neue Pauly. Stuttgart/Weimar 1996ff., Bd. 12,2, Sp. 742–744. – Barnes, J.: The Presocratic Philosophers. London 21982, S. 231–295. – Vlastos, G.: Zenon’s Race Course. In: Journal of the History of Philosophy 4 (1966), S. 96–108. – Borges, J. L.: Geschichte der Ewigkeit. Essays. München 1965, S. 54–69.
Peter Habermehl
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