Metzler Lexikon Philosophie: Dynamis
(griech. Kraft, Macht, Fähigkeit, Möglichkeit, Vermögen, Potentialität). D. gehört zu dynasthai, fähig sein, können, und ist sowohl die Fähigkeit, etwas zu tun, wie die, etwas zu erleiden. Platon verwendet den Ausdruck häufig und in wichtigen Zusammenhängen, ohne dass er bei ihm zu einem eigentlichen terminus technicus wird. Im Sophistes (247 e 4 ff.) sagt der Fremde: »Ich sage also, was nur irgendein Vermögen (dynamis) besitzt, es sei nun, ein anderes zu irgendetwas zu machen oder, wenn auch nur das mindeste von dem allergeringsten zu leiden, und wäre es auch nur einmal, das alles sei wirklich. Ich setze nämlich als Erklärung fest, um das Seiende zu bestimmen, dass es nichts anderes ist als Vermögen, Kraft (dynamis).« Die Bestimmung des Seinsbegriffs durch den Begriff der D. lässt sich auf Vorstellungen zurückverfolgen, die tief in der primitiven Alltagserfahrung verwurzelt sind: dass wir die eigentliche Natur der Dinge durch die Wirkungen erfahren, die sie auf uns ausüben. Die Wärme in meiner Hand ist die Kraft, auf einen Stein einzuwirken und ihn warm zu machen; sie ist aber auch fähig, die Einwirkungen von Kälte zu erleiden und kalt zu werden. Der Begriff der D. hat deshalb vor allem in der Medizin frühzeitig eine technische Bedeutung erlangt. Es ist Aufgabe des Arztes, Stoffe zu finden, die unseren physischen Zustand ändern. Ein Arzt untersucht demgemäß alle Stoffe auf ihre heilenden oder verändernden Kräfte hin: Für ihn sind das Bittere, das Salzige, das Süße nicht einfach Eigenschaften, sondern sie üben eine Wirkung auf den Körper des Patienten aus. Wenn Platon Sokrates fragen lässt (Protagoras 349 b): »ob Weisheit und Besonnenheit und Tapferkeit und Gerechtigkeit und Frömmigkeit… nur fünf verschiedene Namen für eine Sache sind oder ob jedem dieser Namen auch eine eigene Wesenheit unterliegt und eine eigene Sache, die jede ihre besondere Verrichtung (dynamis) hat?«, so hat das seine Parallele in der Medizin: Wie sich Substanzen in ihren Eigenschaften und die Eigenschaften in ihren Wirkungen äußern, so äußert sich die Natur oder Form der Gerechtigkeit usw. durch ihre D. So kann bei Platon die D. definiert werden als die Eigenschaft oder Qualität, die die Natur eines Dinges offenbart (vgl. Staat 507 c). Sie zeigt sich entweder als eine Aktivität oder Prinzip des Wirkens, der Bewegung, oder als ein Zustand oder ein Prinzip der Passivität, des Widerstands. Durch jeden der beiden Aspekte enthüllt sie die innerste und verborgene Natur der Dinge; noch mehr, sie unterscheidet deren Wesen. Die D. macht es möglich, jedem Ding einen Namen zu geben, der seiner eigentümlichen Verfassung entspricht, und Dinge in verschiedene Gruppen einzuordnen. Mit einem Wort, sie ist sowohl ein Prinzip des Wissens und ein Prinzip der Unterscheidung (vgl. Phaidros 270 b ff. und Theaitetos 156 a ff.). Für Aristoteles wird D. zu einem festen Terminus. In Met. 5, 12 erklärt er als Hauptbedeutung von D.: (1) Prinzip der Bewegung oder Veränderung in einem andern (Beispiel: die Bau- oder die Heilkunst), (2) das Prinzip, das ein Ding befähigt, von einem anderen verändert zu werden. In Met. 9.6 arbeitet er den Begriff der Potentialität heraus, die Fähigkeit, in einen neuen Zustand überzugehen. actus/potentia, Akt/Potenz, Energeia.
Literatur:
- M.-Th. Liske: Inwieweit sind Vermögen intrinsische dispositionelle Eigenschaften? (Θ 1–5). In: C. Rapp (Hg.): Aristoteles, Metaphysik. Die Substanzbücher (Z, H, Θ). Berlin 1996. S. 253 ff
- J. Stallmach: Dynamis und Energeia. Meisenheim 1959.
MSU
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