Metzler Lexikon Philosophie: Einbildungskraft
ist das Vermögen, einen Gegenstand auch in dessen Abwesenheit anzuschauen. Aristoteles entwirft die richtungweisende Theorie, der gemäß die E. (phantasia) ein Mittelglied zwischen Wahrnehmung (aisthesis) und Denken (dianoia) ist: Sie geht von der Sinnesaffektion aus und geschieht nicht ohne diese, hängt jedoch vom unmittelbaren Zugegensein des Wahrnehmungsgegenstands nicht ab; denn sie entwirft ein Vorstellungsbild (phantasma), eine innere Anschauung, die Sinnliches und Intelligibles vermittelt, da sie dem Wahrgenommenen (aisthema) ähnelt, jedoch immateriell ist (De an. III 3, 428a1 ff.; 8, 432a7 ff.). Nach Thomas v. Aquin bildet die E. (imaginatio) eine Art Speicher (thesaurus) der durch die Sinne empfangenen Formen, deren sich der Intellekt bedient, um die wahrnehmbare Gestalt zu durchleuchten und damit deren Was-Sein erkennbar zu machen (S.th. I, 78, 4; 84, 7). Für Descartes deutet die E. sogar über die Gewissheit des reinen Erkennens hinaus auf das Dasein materieller Gegenstände (Œuvres VII, 71 f.). – Epochemachend bekräftigt dann Kant: »Die E. … ist entweder productiv, d.i. ein Vermögen der ursprünglichen Darstellung des [Gegenstandes] (exhibitio originaria), welche also vor der Erfahrung vorhergeht; oder reproductiv, der abgeleiteten (exhibitio derivativa), welche eine vorher gehabte empirische Anschauung ins Gemüt zurückbringt« (Akad.-Ausg. VII, 167). Die »verborgene Kunst« der produktiven E., »einem Begriff sein Bild zu verschaffen«, ermöglicht die Anwendung der Verstandeskategorien auf die Erfahrungsgegenstände; denn deren Versinnlichung der Begriffe und Verallgemeinerung der Anschauungen synthetisiert im Erkenntnisvollzug Rezeptivität und Spontaneität, sogar Empirie und Ich (KrV A 118 ff., A 140/B 179 f.). Andererseits vermag der Geist – das »belebende Prinzip« im Gemüt – mittels der vom Zwang des Verstandes befreiten E. ästhetische Ideen darzustellen: Eine solche Vorstellung veranlasst, einem bestimmten Begriff viel Unbestimmtes hinzuzufügen, das diesen unbegrenzt erweitert (KU § 49). Kants Konzeption der produktiven sowie ästhetischen E. provoziert die idealistische Behauptung der wesentlichen Einheit der Erkenntnis mitsamt der Behauptung ihres absoluten Gehalts. Sodann gilt Fichte die E. als ein »Wechsel des Ich in und mit sich selbst«, indem es »zwischen Bestimmung, und Nicht-Bestimmung, zwischen Endlichem, und Unendlichem in der Mitte schwebt« (Ges. Ausg. I 2, 359 f., 368). Erst aus der Fixierung der E. durch die ihr übergeordnete, sich selbst setzende Vernunft entsteht die grundsätzlich auf ein Gegenüber bezogene Anschauung, die ihrerseits Sinn und Verstand bedingt (S. 373 f.). Schließlich betrachtet Schelling die E. als die »Kraft der Ineinsbildung, … wodurch ein Ideales zugleich auch ein Reales … ist, die Kraft der Individuation, welche die eigentlich schöpferische ist« (Sämtl. Werke V, 386). Als das »innere Wesen des Absoluten« (S. 267) ist die E. nicht einfach Imagination, sondern eher Einprägung, und zwar nicht nur als Zusammenfügung, sondern vielmehr als die ursprüngliche Tätigkeit der Vereinheitlichung des Gegensätzlichen: Sie ist die primäre Ermöglichung der Dinge und deren Erkenntnis als jeweils einer Einheit von Allgemeinem und Besonderem, die alles bestimmende Macht, die jeder Identität zugrunde liegt. Für Schelling sind E. und Vernunft ein und dasselbe Vermögen, nur diese im Idealen, jene im Realen: Sie sind zwei gleichzusetzende Vergegenwärtigungen des schlechthin Einen; die E. stellt jedoch die Schönheit als das ästhetisch angeschaute Absolute dar (ebd. IV, 423).
Literatur:
- B. Barth: Schellings Philosophie der Kunst. Freiburg/München 1991
- E. P. Mahoney: Sense, intellect, and imagination in Albert, Thomas, and Siger. In: N. Kretzmann/A. Kenny/J. Pinborg (Hg.): The Cambridge History of Later Medieval Philosophy. Cambridge 1982. S. 602–622
- W. Metz: Kategoriendeduktion und produktive Einbildungskraft in der theoretischen Philosophie Kants und Fichtes. Stuttgart-Bad Cannstadt 1991
- D. K. W. Modrak: Aristotle. The Power of Perception. Chicago/London 1987.
OFS
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