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Metzler Lexikon Philosophie: Narrativität

Die Grundkategorien des Narrativen finden sich schon in der aristotelischen Poetik (1450b-1452b, 1456a). Die dort mit den Begriffen »Anfang«, »Mitte«, »Ende« vorgenommene Strukturbestimmung der griechischen Tragödie trifft auf alle Formen des Erzählbaren zu. Durch prägnante Anfangs- und Endpunkte hebt sich eine Geschichte überhaupt aus dem Fluss des sonst Erlebten heraus. Intern ist sie durch eine teleologische oder teleonomische Entwicklung charakterisiert, welche sich in der Sukzession ihrer Elemente (Ereignisse; Handlungen) ausbildet. Diese Entwicklung vom Anfang zum Ende ist nicht vorhersagbar, sondern verläuft über oft unerwartete Brüche und Richtungsänderungen (Peripetien). Geschichten sind demnach stets individuelle Sinngebilde, auch wenn es typische narrative Muster gibt.

Zentral ist das Phänomen der N. für die Literaturwissenschaften. Schon bei Lessing und Herder geht es um Abgrenzungsversuche zur Bestimmung des Epischen (im Gegensatz zum Dramatischen und Lyrischen), die durch die Entwicklung des Romans seit Cervantes immer wieder produktiv in Frage gestellt werden. Moderne Autoren des 20 Jh. brechen dann die klassischen »Bauformen des Erzählens« ganz auf und schreiben »anti-narrative« Geschichten, ohne eigentlichen Anfang, Ende und bestimmbare Richtung. – Eine längere Diskussion findet sich auch in den Geschichtswissenschaften darüber, ob Geschichten ein geeignetes Medium (bzw. N. eine geeignete Kategorie) zur Erfassung und Beschreibung historischer Vorgänge sind: Vollzieht sich Geschichte in Geschichten? Eine damit zusammenhängende Frage ist, ob sich Erfahrungs- und Handlungszusammenhänge schon im Leben selbst narrativ strukturieren oder ob die Ordnung des Narrativen bloß eine Konstruktion ist, die dem an sich unstrukturierten Leben nachträglich hinzugefügt wird. – Um eine eigenständige »Philosophie der Geschichten« bemüht sich als erster der Husserl-Schüler W. Schapp. Seine Grundthese ist die, dass der Mensch ein Wesen ist, das in allen seinen Handlungs- und Wahrnehmungsvollzügen »in Geschichten verstrickt« ist. Der Mensch ist demnach nicht das Subjekt seiner Sinnentwürfe, sondern erhält seine Identität erst in und mit den Geschichten, in die er verstrickt ist und die zudem das grundlegende Medium sind, in dem ihm überhaupt Sinnhaftes zugänglich ist. In jüngerer Zeit greift Ricœur sowohl die thematisch relevanten Klassiker der Philosophie (von Aristoteles und Augustin bis zu Husserl, Heidegger und Schapp) als auch die literatur- und geschichtswissenschaftliche Theoriebildung auf und integriert sie zur bisher umfassendsten Theorie der N. Ihr Kernstück ist eine Analyse der »dreifachen mimesis«. Schon unsere Lebens- und natürliche Erfahrungswelt ist »pränarrativ« strukturiert. Handlungen z.B. sind nur verständlich durch ihre Einordnung in einen narrativen Kontext (mimesis-I). Die bereits vorstrukturierten Handlungen und Erfahrungen erhalten dann, indem sie mit Hilfe der überlieferten narrativen Muster unserer Kultur erzählt werden, eine besondere Stabilität und Identität. Dieser Transformationsprozess in explizite Geschichten ist der Kern der narrativen Tätigkeit (mimesis-II), den Ricœur im Anschluss an Kant als eine innovative »Synthesis des Heterogenen« beschreibt. Aus den heterogenen und nur vorstrukturierten Handlungen und Ereignissen wird durch Selektion und Integration eine sinnvolle Geschichte. Die expliziten Geschichten werden dann über Rezeptionsvorgänge (mimesis-III) wieder zum selbstverständlichen Reservoir unserer lebensweltlichen Orientierungen. Die drei mimesis-Formen bilden somit einen kreisförmigen, aber sich ständig weiter entwickelnden einheitlichen Kulturprozess. In einem weiteren Punkt gelingt Ricœuer auch ein interessanter Blick auf das philosophische Problem der personalen Identität. Ausgehend von Diltheys Autobiographietheorie und dessen Satz vom »Zusammenhang des Lebens« beschreibt er die Identität einer Person als narrative Einheit einer erzählten oder erzählbaren Lebensgeschichte.

N. ist mittlerweile auch zu einem fruchtbaren Begriff in verschiedenen Kultur- und Einzelwissenschaften geworden; außer in den Literatur- und Geschichtswissenschaften u. a. in einer strukturalistisch und sprachwissenschaftlich inspirierten Narratologie. In der Kulturpsychologie finden sich Ansätze, die aus der Kulturinvarianz des Erzählens und Verstehens von Geschichten auf eine allgemein menschliche kognitive Struktur oder Prädisposition schließen, mit deren Hilfe wir unsere Erfahrungen in narrative Muster bringen und auf diese Weise verarbeiten. Eine narrative Deutung der Psychoanalyse schließlich geht davon aus, dass neurotische Erkrankungen u. a. auf nicht erzählten, verdrängten Geschichten beruhen, die durch die Analyse in eine explizite Geschichte zu transformieren sind, für die das Subjekt wieder Verantwortung übernehmen kann. Aufgrund seiner interdisziplinären Verwendungsmöglichkeiten eignet sich N. dann auch als Grundbegriff für eine Wissenschaftstheorie der Kulturwissenschaften.

Literatur:

  • J. Bruner: Acts of Meaning. Cambrigde, Mass./London 1990
  • D. Carr: Time, Narrative, and History. Bloomington, Indiana 1986
  • A. C. Danto: Analytische Philosophie der Geschichte. Frankfurt 1974
  • J. Kocka/Th. Nipperdey (Hg.): Theorie der Erzählung in der Geschichte. München 1979
  • R. Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Franfurt 1979
  • E. Lämmert: Bauformen des Erzählens. Stuttgart 1955
  • N. Meuter: Narrative Identität. Zum Problem der personalen Identität im Anschluß an Ernst Tugendhat, Niklas Luhmann und Paul Ricœur. Stuttgart 1995
  • L. O. Mink: Narrative Form as a Cognitive Instrument. In: R. H. Canary/H. Kozicki (Hg.): The Writing of History. Literary Form an Historical Understanding. Madison, Wisconsin 1978
  • A. MacIntyre: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart. Frankfurt/New York 1987
  • D.E. Polkinghorne: Narrative Knowing and the Human Sciences. Albany 1988
  • G. Prince: Narratoloy. The Form and Functioning of Narrative. Berlin/New York/Amsterdam 1982
  • P. Ricœur: Zeit und Erzählung. 3 Bde. München 1988–1991
  • Th. R. Sarbin (Hg): Narrative Psychology. The Storied Nature of Human Conduct. New York/Westport/London 1986
  • R. Schafer: A New Language for Psychoanalysis. New Haven 1976
  • W. Schapp: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding. Frankfurt 31985
  • Ders.: Philosophie der Geschichten. Frankfurt 21981.

NM

  • Die Autoren
AA Andreas Arndt, Berlin
AB Andreas Bartels, Paderborn
AC Andreas Cremonini, Basel
AD Andreas Disselnkötter, Dortmund
AE Achim Engstler, Münster
AG Alexander Grau, Berlin
AK André Kieserling, Bielefeld
AM Arne Malmsheimer, Bochum
AN Armin Nassehi, München
AR Alexander Riebel, Würzburg
ARE Anne Reichold, Kaiserslautern
AS Annette Sell, Bochum
AT Axel Tschentscher, Würzburg
ATA Angela T. Augustin †
AW Astrid Wagner, Berlin
BA Bernd Amos, Erlangen
BBR Birger Brinkmeier, Münster
BCP Bernadette Collenberg-Plotnikov, Hagen
BD Bernhard Debatin, Berlin
BES Bettina Schmitz, Würzburg
BG Bernward Gesang, Kusterdingen
BI Bernhard Irrgang, Dresden
BK Bernd Kleimann, Tübingen
BKO Boris Kositzke, Tübingen
BL Burkhard Liebsch, Bochum
BR Boris Rähme, Berlin
BS Berthold Suchan, Gießen
BZ Bernhard Zimmermann, Freiburg
CA Claudia Albert, Berlin
CH Cornelia Haas, Würzburg
CHA Christoph Asmuth, Berlin
CHR Christa Runtenberg, Münster
CI Christian Iber, Berlin
CJ Christoph Jäger, Leipzig
CK Christian Kanzian, Innsbruck
CL Cornelia Liesenfeld, Augsburg
CLK Clemens Kauffmann, Lappersdorf
CM Claudius Müller, Nehren
CO Clemens Ottmers, Tübingen
CP Cristina de la Puente, Stuttgart
CS Christian Schröer, Augsburg
CSE Clemens Sedmak, Innsbruck
CT Christian Tewes, Jena
CZ Christian Zeuch, Münster
DG Dorothea Günther, Würzburg
DGR Dorit Grugel, Münster
DH Detlef Horster, Hannover
DHB Daniela Hoff-Bergmann, Bremen
DIK Dietmar Köveker, Frankfurt a.M.
DK Dominic Kaegi, Luzern
DKÖ Dietmar Köhler, Witten
DL Dorothea Lüddeckens, Zürich
DP Dominik Perler, Berlin
DR Dane Ratliff, Würzburg und Austin/Texas
EE Eva Elm, Berlin
EJ Eva Jelden, Berlin
EF Elisabeth Fink, Berlin
EM Ekkehard Martens, Hamburg
ER Eberhard Rüddenklau, Staufenberg
EWG Eckard Wolz-Gottwald, Davensberg
EWL Elisabeth Weisser-Lohmann, Bochum
FBS Franz-Bernhard Stammkötter, Bochum
FG Frank Grunert, Basel
FPB Franz-Peter Burkard, Würzburg
FW Fabian Wittreck, Münster
GK Georg Kneer, Leipzig
GKB Gudrun Kühne-Bertram, Ochtrup
GL Georg Lohmann, Magdeburg
GM Georg Mildenberger, Tübingen
GME Günther Mensching, Hannover
GMO Georg Mohr, Bremen
GN Guido Naschert, Tübingen
GOS Gottfried Schwitzgebel, Mainz
GS Georg Scherer, Oberhausen
GSO Gianfranco Soldati, Tübingen
HB Harald Berger, Graz
HD Horst Dreier, Würzburg
HDH Han-Ding Hong, Düsseldorf
HG Helmut Glück, Bamberg
HGR Horst Gronke, Berlin
HL Hilge Landweer, Berlin
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HPS Helke Pankin-Schappert, Mainz
HS Herbert Schnädelbach, Berlin
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JA Johann S. Ach, Münster
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JH Jörg Hardy, Münster
JHI Jens Hinkmann, Bad Tölz
JK Jörg Klawitter, Würzburg
JM Jörg F. Maas, Hannover
JOP Jeff Owen Prudhomme, Macon/Georgia
JP Jörg Pannier, Münster
JPB Jens Peter Brune
JQ Josef Quitterer, Innsbruck
JR Josef Rauscher, Mainz
JRO Johannes Rohbeck, Dresden
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JSC Jörg Schmidt, München
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KE Klaus Eck, Würzburg
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MBI Marcus Birke, Münster
MBO Marco Bonato, Tübingen
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ME Michael Esfeld, Münster
MFM Martin F. Meyer, Koblenz/Landau
MK Matthias Kunz, München
MKL Martin Kleinsorge, Aachen
MKO Mathias Koßler, Mainz
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MM Matthias Maring, Karlsruhe
MN Marcel Niquet, Frankfurt a.M.
MQ Michael Quante, Köln
MR Mathias Richter, Berlin
MRM Marie-Luise Raters-Mohr, Potsdam
MS Manfred Stöckler, Bremen
MSI Mark Siebel, Hamburg
MSP Michael Spang, Ellwangen
MSU Martin Suhr, Hamburg
MW Markus Willaschek, Münster
MWÖ Matthias Wörther, München
NM Norbert Meuter, Berlin
OB Oliver Baum, Bochum
OFS Orrin F. Summerell, Bochum
PE Peter Eisenhardt, Frankfurt a.M.
PCL Peter Ch. Lang, Frankfurt a.M.
PK Peter Kunzmann, Jena
PN Peter Nitschke, Vechta
PP Peter Prechtl †
RD Ruth Dommaschk, Würzburg
RDÜ Renate Dürr, Karlsruhe
RE Rolf Elberfeld, Hildesheim
REW Ruth Ewertowski, Stuttgart
RH Reiner Hedrich, Gießen
RHI Reinhard Hiltscher, Stegaurach
RK Reinhard Kottmann, Münster
RL Rudolf Lüthe, Koblenz
RLA Rolf-Jürgen Lachmann, Berlin
RM Reinhard Mehring, Berlin
RP Roland Popp, Bremen
RS Regina Srowig, Würzburg
RTH Robert Theis, Strassen
RW Raymund Weyers, Köln
SD Steffen Dietzsch, Berlin
SIK Simone Koch, Bochum
SP Stephan Pohl, Dresden
SZ Snjezana Zoric, Würzburg
TB Thomas Bausch, Berlin
TBL Thomas Blume, Dresden
TF Thomas Friedrich, Mannheim
TG Thomas Grundmann, Köln
TH Thomas Hammer, Frankfurt a.M.
TK Thomas Kisser, München
TM Thomas Mormann, Unterhaching
TN Thomas Noetzel, Marburg
TP Tony Pacyna, Jena
TW Thomas Welt, Bochum
UB Ulrich Baltzer, München
UT Udo Tietz, Berlin
UM Ulrich Metschl, München/Leonberg
VG Volker Gerhardt, Berlin
VM Verena Mayer, München
VP Veit Pittioni, Innsbruck
VR Virginie Riant, Vechta
WAM Walter Mesch, Heidelberg
WB Wilhelm Baumgartner, Würzburg
WH Wolfram Hinzen, Bern
WJ Werner Jung, Duisburg
WK Wulf Kellerwessel, Aachen
WL Winfried Löffler, Innsbruck
WM Wolfgang Meckel, Butzbach
WN Wolfgang Neuser, Kaiserslautern
WP Wolfgang Pleger, Cochem/Dohr
WS Werner Schüßler, Trier
WST Wolfgang Struck, Erfurt
WSU Wolfgang Schulz, Tübingen
WvH Wolfram von Heynitz, Weiburg

Herausgegeben von Peter Prechtl (†) und Franz-Peter Burkard.

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