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Metzler Lexikon Philosophie: Paideia

(griech.), ursprünglich Kindheit, Kinderaufzucht, -erziehung, bezeichnet den Prozess selbst und sein Ergebnis sowie die vermittelten Inhalte, vergleichbar dem deutschen Wort »Bildung«. – Vor jeder Theorie einer P. steht im frühen Griechenland die praktische Anleitung zur lebensdienlichen persönlichen »Bestheit« (arete) in hohem Ansehen; nach den Vorbildern bei Homer reicht sie über die Kindheit hinaus, um in den Heranwachsenden die körperlichen und geistigen Anlagen für die Lebenspraxis zu entfalten. Von Fakten und Institutionen, auch über eine P. der Mädchen und jungen Frauen sagen die Quellen weniger aus als über das Ziel, in einer aristokratischen Gesellschaft zu bestehen. – Der Übergang der Macht auf die Stadtbürger verlangt neben dem geistigen Führungsanspruch in Athen für die politische Praxis seit dem 5. Jh. die Ausbildung gesellschaftsrelevanter Fähigkeiten, besonders der praktisch-rhetorischen. Neben ihnen und bald auch gegen sie wird P. philosophisch reflektiert. Die Sophisten hatten die bezahlte Unterweisung in Grammatik, Rhetorik, Dialektik und allgemeinen Kenntnissen, auch in den mathematischen Disziplinen eingeführt, während für Demokrit und Sokrates eine moralische, auf die je eigene Lebensführung orientierte P. im Vordergrund steht. Platon ist vom Modell der pythagoreischen Gemeinschaft beeinflusst, als er in seiner Politeia ein Gesamtsystem körperlicher und geistiger Bildung mit höchsten theoretischen Ansprüchen ausarbeitet, das er auch Frauen zugänglich macht. Etwa gleichzeitig (391/90) gründet der Rhetor Isokrates seine Schule durchaus mit dem Anspruch einer philosophisch fundierten P., um Rede nicht nur zur Funktion der Überzeugung, sondern um Sprache als Ausdruck der Vernunft zum Instrument der Forschung und Erziehung zu machen. Rhetorisches Können will auch die durch P. erreichten Tugenden preisen. Sprache als Kommunikation bringt philanthropia hervor, jene spezifische Menschenfreundlichkeit, die Cicero humanitas (Humanität) nennt. – In Platons Akademie und in den späteren Philosophenschulen ist das Verhältnis zur Polis bzw. zur Gesamtgesellschaft immer mitgedacht, als philosophische Bildung für und durch sie oder als Distanzierung von ihr; die noch von Platon geforderte gymnastische Erziehung tritt allmählich hinter die intellektuell-moralische und die literarische Bildung zurück; die Lehrgegenstände werden in dem schon bei den Sophisten angelegten umfassenden System der »enkyklios paideia« objektiv verdinglicht, ihre Einzeldisziplinen »wie in einem Kreis« abgeschritten.

Auch in Rom werden die Septem artes liberales, die »freien Künste«, als Bildungssystem verstanden, das in den studia humanitatis über das Lebensnotwendige hinausgeht und zur Philosophie erst eigentlich befähigt. Nach Gellius (2. Jh.) ist Ciceros humanitas das Äquivalent zur P., der lateinischen eruditio. Stärker noch als im hellenistischen Griechenland wächst im Imperium Romanum der Bedarf an staatlichen Dienstleistungen, für die eine weniger allgemeine Ausbildung genügt. – Im frühen Christentum (Clemens Alexandrinus: Paedagogus I, 7; 53, 1) erscheint Christus als der göttliche Erzieher schlechthin, später tritt bei den Kirchenvätern die immer noch anerkannte Bildungsidee antiker P. hinter die Notwendigkeit zurück, eine in Form und Inhalt geregelte eruditio in den artes liberales dem Studium der Theologie zugrundezulegen. – An der Terminologie Ciceros orientieren sich die Karolingische Renaissance, das lateinische MA. und die studia humanitatis, die schließlich im »Humanistischen Gymnasium« aufgehen. Sie sind reglementiert, die Rückgriffe auf Platons idealistisch überhöhte P. wie im Florenz des 15. Jh. bleiben ohne große Wirkung, so sehr die Platon-Kenntnis wächst. Erasmus von Rotterdam und Melanchthon stehen für ein Programm, in dem eruditio und humanitas die Persönlichkeit formen und das Bewusstsein einer einheitlich gebildeten Gemeinschaft herstellen können. Auch platonisch geprägte Erziehungsmodelle für künftige Herrscher (»Fürstenspiegel«) ändern nichts daran, dass P. im ursprünglichen Sinn nicht wiederherzustellen ist. – Das monumentale, auch missverstandene »Paideia«- Werk W. Jaegers versucht, die Überzeitlichkeit der Idee als »Formung des griechischen Menschen« für einen Dritten Humanismus wiederzubeleben. – Die enkyklios paideia, ursprünglich Sammlung der artes, deren Studium der Philosophie vorausging, nimmt das im Lauf der Jahrhunderte erweiterte Wissen auf: ein Gesamt der Lehrgegenstände in den Enzyklopädien des orbis disciplinarum bis hin zu Hegel. Derzeit können beliebige Sammlungen von Informationen so bezeichnet werden.

Literatur:

  • W. Jaeger: Paideia I-III. Berlin 1934–47
  • W. Edelstein: eruditio und sapientia. Weltbild und Erziehung in der Karolingerzeit. Freiburg 1965
  • E. Lichtenstein: Der Ursprung der Pädagogik im griechischen Denken (Paideia I). Hannover 1970.
  • Die Autoren
AA Andreas Arndt, Berlin
AB Andreas Bartels, Paderborn
AC Andreas Cremonini, Basel
AD Andreas Disselnkötter, Dortmund
AE Achim Engstler, Münster
AG Alexander Grau, Berlin
AK André Kieserling, Bielefeld
AM Arne Malmsheimer, Bochum
AN Armin Nassehi, München
AR Alexander Riebel, Würzburg
ARE Anne Reichold, Kaiserslautern
AS Annette Sell, Bochum
AT Axel Tschentscher, Würzburg
ATA Angela T. Augustin †
AW Astrid Wagner, Berlin
BA Bernd Amos, Erlangen
BBR Birger Brinkmeier, Münster
BCP Bernadette Collenberg-Plotnikov, Hagen
BD Bernhard Debatin, Berlin
BES Bettina Schmitz, Würzburg
BG Bernward Gesang, Kusterdingen
BI Bernhard Irrgang, Dresden
BK Bernd Kleimann, Tübingen
BKO Boris Kositzke, Tübingen
BL Burkhard Liebsch, Bochum
BR Boris Rähme, Berlin
BS Berthold Suchan, Gießen
BZ Bernhard Zimmermann, Freiburg
CA Claudia Albert, Berlin
CH Cornelia Haas, Würzburg
CHA Christoph Asmuth, Berlin
CHR Christa Runtenberg, Münster
CI Christian Iber, Berlin
CJ Christoph Jäger, Leipzig
CK Christian Kanzian, Innsbruck
CL Cornelia Liesenfeld, Augsburg
CLK Clemens Kauffmann, Lappersdorf
CM Claudius Müller, Nehren
CO Clemens Ottmers, Tübingen
CP Cristina de la Puente, Stuttgart
CS Christian Schröer, Augsburg
CSE Clemens Sedmak, Innsbruck
CT Christian Tewes, Jena
CZ Christian Zeuch, Münster
DG Dorothea Günther, Würzburg
DGR Dorit Grugel, Münster
DH Detlef Horster, Hannover
DHB Daniela Hoff-Bergmann, Bremen
DIK Dietmar Köveker, Frankfurt a.M.
DK Dominic Kaegi, Luzern
DKÖ Dietmar Köhler, Witten
DL Dorothea Lüddeckens, Zürich
DP Dominik Perler, Berlin
DR Dane Ratliff, Würzburg und Austin/Texas
EE Eva Elm, Berlin
EJ Eva Jelden, Berlin
EF Elisabeth Fink, Berlin
EM Ekkehard Martens, Hamburg
ER Eberhard Rüddenklau, Staufenberg
EWG Eckard Wolz-Gottwald, Davensberg
EWL Elisabeth Weisser-Lohmann, Bochum
FBS Franz-Bernhard Stammkötter, Bochum
FG Frank Grunert, Basel
FPB Franz-Peter Burkard, Würzburg
FW Fabian Wittreck, Münster
GK Georg Kneer, Leipzig
GKB Gudrun Kühne-Bertram, Ochtrup
GL Georg Lohmann, Magdeburg
GM Georg Mildenberger, Tübingen
GME Günther Mensching, Hannover
GMO Georg Mohr, Bremen
GN Guido Naschert, Tübingen
GOS Gottfried Schwitzgebel, Mainz
GS Georg Scherer, Oberhausen
GSO Gianfranco Soldati, Tübingen
HB Harald Berger, Graz
HD Horst Dreier, Würzburg
HDH Han-Ding Hong, Düsseldorf
HG Helmut Glück, Bamberg
HGR Horst Gronke, Berlin
HL Hilge Landweer, Berlin
HND Herta Nagl-Docekal, Wien
HPS Helke Pankin-Schappert, Mainz
HS Herbert Schnädelbach, Berlin
IR Ines Riemer, Hamburg
JA Johann S. Ach, Münster
JC Jürgen Court, Köln
JH Jörg Hardy, Münster
JHI Jens Hinkmann, Bad Tölz
JK Jörg Klawitter, Würzburg
JM Jörg F. Maas, Hannover
JOP Jeff Owen Prudhomme, Macon/Georgia
JP Jörg Pannier, Münster
JPB Jens Peter Brune
JQ Josef Quitterer, Innsbruck
JR Josef Rauscher, Mainz
JRO Johannes Rohbeck, Dresden
JS Joachim Söder, Bonn
JSC Jörg Schmidt, München
JV Jürgen Villers, Aachen
KDZ Klaus-Dieter Zacher, Berlin
KE Klaus Eck, Würzburg
KG Kerstin Gevatter, Bochum
KH Kai-Uwe Hellmann, Berlin
KHG Karl-Heinz Gerschmann, Münster
KHL Karl-Heinz Lembeck, Würzburg
KJG Klaus-Jürgen Grün, Frankfurt a.M.
KK Klaus Kahnert, Bochum
KRL Karl-Reinhard Lohmann, Witten
KS Kathrin Schulz, Würzburg
KSH Klaus Sachs-Hombach, Magdeburg
LG Lutz Geldsetzer, Düsseldorf
LR Leonhard Richter, Würzburg
MA Mauro Antonelli, Graz
MB Martin Beisler, Gerbrunn
MBI Marcus Birke, Münster
MBO Marco Bonato, Tübingen
MD Max Deeg, Cardiff
MDB Matthias Bloch, Bochum
ME Michael Esfeld, Münster
MFM Martin F. Meyer, Koblenz/Landau
MK Matthias Kunz, München
MKL Martin Kleinsorge, Aachen
MKO Mathias Koßler, Mainz
ML Mark Lekarew, Berlin
MLE Michael Leibold, Würzburg
MM Matthias Maring, Karlsruhe
MN Marcel Niquet, Frankfurt a.M.
MQ Michael Quante, Köln
MR Mathias Richter, Berlin
MRM Marie-Luise Raters-Mohr, Potsdam
MS Manfred Stöckler, Bremen
MSI Mark Siebel, Hamburg
MSP Michael Spang, Ellwangen
MSU Martin Suhr, Hamburg
MW Markus Willaschek, Münster
MWÖ Matthias Wörther, München
NM Norbert Meuter, Berlin
OB Oliver Baum, Bochum
OFS Orrin F. Summerell, Bochum
PE Peter Eisenhardt, Frankfurt a.M.
PCL Peter Ch. Lang, Frankfurt a.M.
PK Peter Kunzmann, Jena
PN Peter Nitschke, Vechta
PP Peter Prechtl †
RD Ruth Dommaschk, Würzburg
RDÜ Renate Dürr, Karlsruhe
RE Rolf Elberfeld, Hildesheim
REW Ruth Ewertowski, Stuttgart
RH Reiner Hedrich, Gießen
RHI Reinhard Hiltscher, Stegaurach
RK Reinhard Kottmann, Münster
RL Rudolf Lüthe, Koblenz
RLA Rolf-Jürgen Lachmann, Berlin
RM Reinhard Mehring, Berlin
RP Roland Popp, Bremen
RS Regina Srowig, Würzburg
RTH Robert Theis, Strassen
RW Raymund Weyers, Köln
SD Steffen Dietzsch, Berlin
SIK Simone Koch, Bochum
SP Stephan Pohl, Dresden
SZ Snjezana Zoric, Würzburg
TB Thomas Bausch, Berlin
TBL Thomas Blume, Dresden
TF Thomas Friedrich, Mannheim
TG Thomas Grundmann, Köln
TH Thomas Hammer, Frankfurt a.M.
TK Thomas Kisser, München
TM Thomas Mormann, Unterhaching
TN Thomas Noetzel, Marburg
TP Tony Pacyna, Jena
TW Thomas Welt, Bochum
UB Ulrich Baltzer, München
UT Udo Tietz, Berlin
UM Ulrich Metschl, München/Leonberg
VG Volker Gerhardt, Berlin
VM Verena Mayer, München
VP Veit Pittioni, Innsbruck
VR Virginie Riant, Vechta
WAM Walter Mesch, Heidelberg
WB Wilhelm Baumgartner, Würzburg
WH Wolfram Hinzen, Bern
WJ Werner Jung, Duisburg
WK Wulf Kellerwessel, Aachen
WL Winfried Löffler, Innsbruck
WM Wolfgang Meckel, Butzbach
WN Wolfgang Neuser, Kaiserslautern
WP Wolfgang Pleger, Cochem/Dohr
WS Werner Schüßler, Trier
WST Wolfgang Struck, Erfurt
WSU Wolfgang Schulz, Tübingen
WvH Wolfram von Heynitz, Weiburg

Herausgegeben von Peter Prechtl (†) und Franz-Peter Burkard.

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