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Metzler Lexikon Philosophie: Physis

(griech. Natur). Da das lat. Wort natura die Übersetzung von physis ist, teilt unser Begriff der Natur einerseits die Bedeutung und Bedeutungsvielfalt des griech. Wortes, lässt uns andererseits leicht übersehen, dass die Entdeckung der Natur als eines eigenständigen Bereichs eine der ungewöhnlichsten Leistungen der griech. Philosophie war. Diese Entdeckung erfolgte auf verschiedenen Gebieten, und deshalb haftet dem Begriff der Ph. von Anfang an eine tiefe Zweideutigkeit an. Bei Parmenides wie bei Empedokles bezeichnet Ph. die Welt des Werdens im Gegensatz zum wahren Sein und ist deshalb Gegenstand der Meinung, doxa, im Ggs. zur Wahrheit. Hier tritt also mit der Entdeckung der Natur zugleich der erkenntnistheoretische Gegensatz von Meinung und Wahrheit auf. In der griech. Medizin dagegen, bei Hippokrates, bezeichnet Ph. den Normalzustand, das Natürliche, und damit das Normative: Die Natur gilt dem Arzt als maßgebend und vorbildlich, im Gegensatz zur techne, dem von Menschen Beeinflussbaren und Gemachten. Daraus entwickelt sich die Auffassung von der Ph. als dem wahren Wesen, der wirklichen Beschaffenheit der Dinge. Mit der Sophistik entsteht daraus der Gegensatz von Ph. und Nomos. Während die Ethnographie (Herodot) dieses Gegensatzpaar noch ganz neutral zur Beschreibung des Einflusses von Bräuchen auf die Natur, etwa den Körper des Menschen, und der Natur, also z.B. des Klimas, auf die Bräuche verwendet, wird dieser Gegensatz bald dazu verwendet, um die kulturelle Überlegenheit der Griechen über die Perser, aber auch, um die natürliche Überlegenheit des Adels über die Bürger zu erklären. Der Adel versucht, seine Arete durch Hinweis auf seine angeborene Ph. zu rechtfertigen, die Griechen erklären ihre Überlegenheit über die Perser mit Hinweis auf ihre bessere Gesetzgebung, ihren besseren nomos, der sie zu freien und damit zu tapferen Menschen gemacht habe. Einmal wird also der nomos höher als die Ph., das andere Mal die Ph. höher als der nomos bewertet. So sieht (der platonische) Kallikles die Natur als vorbildlich und das Gesetz »nur« als einen vernunftwidrigen Brauch an, Protagoras dagegen den Brauch als maßgeblich.

Aristoteles hat versucht, in diese verschiedenen Bedeutungen eine Art Ordnung zu bingen. Er zählt im »philosophischen Lexikon« (Met. 5.4) sieben aufeinander aufbauende Bedeutungen auf, die das Wort Ph. im Griechischen hatte. (1) Das Entstehen, (2) Der Grundstoff, Samen, (3) der Ursprung der Bewegung oder Veränderung, (4) die ursprüngliche Materie, aus der Dinge bestehen, (5) das Wesen oder die Form natürlicher Dinge, (6) Wesen oder Form im Allgemeinen, (7) Wesen der Dinge, die einen Anfang der Bewegung in sich selbst haben. Aristoteles betrachtet die letzte Bedeutung als die grundlegende: Es ist die Natur eines Dinges, die es zu dem Verhalten veranlasst, das es von sich her zeigt: Ph. wird primär als das innere Wesen von etwas gesehen, dagegen nicht so sehr als die Gesamtheit der natürlichen Dinge, als Kosmos – diese Bedeutung, die dem modernen Leser die nächste ist, führt Aristoteles überhaupt nicht an.

Die Zweiteilung des Begriffs Natur in die äußere Welt des Werdens und das innere Wesen findet sich deutlich in Platons Gebrauch des Wortes ausgeprägt. Ph. kann bei ihm gelegentlich die Natur im Sinne des konkreten Naturganzen bezeichnen (Phaidon 96 a 7), häufiger bezeichnet es die Naturordnung in der Welt (Phaidon 80 a 1), oft im Gegensatz etwa zu Techne, tyche und Nomos (Gesetze 888 e 6), sowie die natürliche Anlage des Menschen; von größerer Bedeutung ist jedoch bei Platon die Bedeutung der wesentlichen Natur, des wahren Wesens sowohl der seienden Dinge (Kratylos 390 d11) wie der Tugenden (die Natur der Gerechtigkeit, Staat 359 b) und der Ideen überhaupt (Timaios 37 a4).

In Physik B, 1. unterscheidet Aristoteles die Dinge, die von Natur sind, von anderen Dingen, die aus anderen Ursachen entstehen, wie aus Kunst (techne), aus Zufall (tyche) und Absicht (prohairesis). Die Dinge, die von Natur aus sind, also etwa die Tiere und deren Teile, die Pflanzen usw., unterscheiden sich von dem, was nicht von Natur aus ist, dadurch, dass sie ihre Bewegung und ihre Ruhe einem inneren Prinzip oder Anfang verdanken (b 13–14), während Dinge, die aus techne entstehen, diesen Anfang der Bewegung (in den verschiedenen Bedeutungen, die dieser Begriff hat) nicht in sich selbst haben. Die Dinge, die einen solchen Anfang der Bewegung in sich selbst haben, »haben eine Natur«. Solche Dinge sind Substanzen. Darüber, worin diese Natur und das Wesen der natürlichen Dinge bestehen, gibt es freilich verschiedene Ansichten: (a) Von einigen wird das erste in einem jeden Vorfindliche, der erste Stoff, für die Natur gehalten, also etwa das Erz für die Natur eines Standbildes (das entspricht etwa der Auffassung der ionischen physiologoi wie Thales und Anaximander); (b) andere halten die Morphe und das Eidos, die in der Definition des Dinges enthalten sein sollten, für die Natur dieses Dinges (wie z.B. Platon). Nun ist ein Ding am wahrhaftesten es selbst, wenn es wirklich und nicht nur potentiell existiert, und sein Wesen, seine Natur, sollte deshalb nicht mit dem Material identifiziert werden, aus dem es sich entwickeln kann, sondern mit der Form, die es aufweist, wenn es sich entwickelt hat. Die erreichte, gewordene Form ist also das natürliche Wesen, die Ph. Auf diese Weise versucht Aristoteles, die verschiedenen Ansätze seiner Vorgänger in seiner Begrifflichkeit zu vereinen. Natur.

Literatur:

  • R. G. Collingwood: Die Idee der Natur. Frankfurt 2005
  • F. Heinimann: Nomos und Physis. Darmstadt 1965
  • H. Patzer: Physis. Marburg 1945
  • W. Theiler: Zur Geschichte der teleologischen Naturbetrachtung bis auf Aristoteles. Berlin 21965
  • W. Wieland: Die aristotelische Physik. Göttingen 21970.

MSU

  • Die Autoren
AA Andreas Arndt, Berlin
AB Andreas Bartels, Paderborn
AC Andreas Cremonini, Basel
AD Andreas Disselnkötter, Dortmund
AE Achim Engstler, Münster
AG Alexander Grau, Berlin
AK André Kieserling, Bielefeld
AM Arne Malmsheimer, Bochum
AN Armin Nassehi, München
AR Alexander Riebel, Würzburg
ARE Anne Reichold, Kaiserslautern
AS Annette Sell, Bochum
AT Axel Tschentscher, Würzburg
ATA Angela T. Augustin †
AW Astrid Wagner, Berlin
BA Bernd Amos, Erlangen
BBR Birger Brinkmeier, Münster
BCP Bernadette Collenberg-Plotnikov, Hagen
BD Bernhard Debatin, Berlin
BES Bettina Schmitz, Würzburg
BG Bernward Gesang, Kusterdingen
BI Bernhard Irrgang, Dresden
BK Bernd Kleimann, Tübingen
BKO Boris Kositzke, Tübingen
BL Burkhard Liebsch, Bochum
BR Boris Rähme, Berlin
BS Berthold Suchan, Gießen
BZ Bernhard Zimmermann, Freiburg
CA Claudia Albert, Berlin
CH Cornelia Haas, Würzburg
CHA Christoph Asmuth, Berlin
CHR Christa Runtenberg, Münster
CI Christian Iber, Berlin
CJ Christoph Jäger, Leipzig
CK Christian Kanzian, Innsbruck
CL Cornelia Liesenfeld, Augsburg
CLK Clemens Kauffmann, Lappersdorf
CM Claudius Müller, Nehren
CO Clemens Ottmers, Tübingen
CP Cristina de la Puente, Stuttgart
CS Christian Schröer, Augsburg
CSE Clemens Sedmak, Innsbruck
CT Christian Tewes, Jena
CZ Christian Zeuch, Münster
DG Dorothea Günther, Würzburg
DGR Dorit Grugel, Münster
DH Detlef Horster, Hannover
DHB Daniela Hoff-Bergmann, Bremen
DIK Dietmar Köveker, Frankfurt a.M.
DK Dominic Kaegi, Luzern
DKÖ Dietmar Köhler, Witten
DL Dorothea Lüddeckens, Zürich
DP Dominik Perler, Berlin
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EE Eva Elm, Berlin
EJ Eva Jelden, Berlin
EF Elisabeth Fink, Berlin
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EWG Eckard Wolz-Gottwald, Davensberg
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FBS Franz-Bernhard Stammkötter, Bochum
FG Frank Grunert, Basel
FPB Franz-Peter Burkard, Würzburg
FW Fabian Wittreck, Münster
GK Georg Kneer, Leipzig
GKB Gudrun Kühne-Bertram, Ochtrup
GL Georg Lohmann, Magdeburg
GM Georg Mildenberger, Tübingen
GME Günther Mensching, Hannover
GMO Georg Mohr, Bremen
GN Guido Naschert, Tübingen
GOS Gottfried Schwitzgebel, Mainz
GS Georg Scherer, Oberhausen
GSO Gianfranco Soldati, Tübingen
HB Harald Berger, Graz
HD Horst Dreier, Würzburg
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JH Jörg Hardy, Münster
JHI Jens Hinkmann, Bad Tölz
JK Jörg Klawitter, Würzburg
JM Jörg F. Maas, Hannover
JOP Jeff Owen Prudhomme, Macon/Georgia
JP Jörg Pannier, Münster
JPB Jens Peter Brune
JQ Josef Quitterer, Innsbruck
JR Josef Rauscher, Mainz
JRO Johannes Rohbeck, Dresden
JS Joachim Söder, Bonn
JSC Jörg Schmidt, München
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KE Klaus Eck, Würzburg
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MM Matthias Maring, Karlsruhe
MN Marcel Niquet, Frankfurt a.M.
MQ Michael Quante, Köln
MR Mathias Richter, Berlin
MRM Marie-Luise Raters-Mohr, Potsdam
MS Manfred Stöckler, Bremen
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MSP Michael Spang, Ellwangen
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PCL Peter Ch. Lang, Frankfurt a.M.
PK Peter Kunzmann, Jena
PN Peter Nitschke, Vechta
PP Peter Prechtl †
RD Ruth Dommaschk, Würzburg
RDÜ Renate Dürr, Karlsruhe
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RK Reinhard Kottmann, Münster
RL Rudolf Lüthe, Koblenz
RLA Rolf-Jürgen Lachmann, Berlin
RM Reinhard Mehring, Berlin
RP Roland Popp, Bremen
RS Regina Srowig, Würzburg
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TM Thomas Mormann, Unterhaching
TN Thomas Noetzel, Marburg
TP Tony Pacyna, Jena
TW Thomas Welt, Bochum
UB Ulrich Baltzer, München
UT Udo Tietz, Berlin
UM Ulrich Metschl, München/Leonberg
VG Volker Gerhardt, Berlin
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VP Veit Pittioni, Innsbruck
VR Virginie Riant, Vechta
WAM Walter Mesch, Heidelberg
WB Wilhelm Baumgartner, Würzburg
WH Wolfram Hinzen, Bern
WJ Werner Jung, Duisburg
WK Wulf Kellerwessel, Aachen
WL Winfried Löffler, Innsbruck
WM Wolfgang Meckel, Butzbach
WN Wolfgang Neuser, Kaiserslautern
WP Wolfgang Pleger, Cochem/Dohr
WS Werner Schüßler, Trier
WST Wolfgang Struck, Erfurt
WSU Wolfgang Schulz, Tübingen
WvH Wolfram von Heynitz, Weiburg

Herausgegeben von Peter Prechtl (†) und Franz-Peter Burkard.

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