Metzler Lexikon Philosophie: Vermögen
in der antiken Physik und Ontologie eine bewegende und bewirkende Kraft, die in einer konstanten Beziehung zu ihrer spezifischen Wirkung, dem Ergon, steht. Allgemein ist V. eine Fähigkeit oder Anlage zu etwas, insbesondere in der Psychologie die Seelenvermögen sowie in der Erkenntnistheorie die V. des Geistes. In der antiken Geometrie bezeichnet der Begriff bestimmte flächenhafte Strukturen und geometrische Operationen, in der Medizin bezieht er sich auf die Wirkungsweise von Heilmitteln. – Platon definiert V. (dynamis) ontologisch als »eine gewisse Art des Seienden, wodurch sowohl wir vermögen, was wir vermögen, als auch jegliches andere, was etwas vermag« (Politeia 477 c). Auf Grund der prinzipiellen Immaterialität der V. zählen hierzu auch die Wirkkräfte ethischer Tugend und rein geistiger Fähigkeiten als elementare Handlungskräfte. – Aristoteles unterscheidet kinetische von ontologischen V. (Met. 1048 a 25 ff.). Ein kinetisches V. ist als Bewegungskraft das Prinzip einer Veränderung in einem anderen als einem anderen (Met. 1046 a 11). Hiervon ausgehend bestimmt er den Begriff der Natur, insofern die natürlichen Dinge im Unterschied zu künstlichen das V. der Bewegung in sich selbst haben (Met. 1015 a 13). Das Bewegungsvermögen kann sowohl als aktives wie auch als passives vorliegen. V. bezeichnet weiterhin eine spezifische Seinsweise von Dingen und ist in dieser Bedeutung ein Grundbegriff der aristotelischen Ontologie und das direkte Korrelat von Energeia und Entelechie. Das dem V. nach Vorliegende ist noch nicht zur Wirklichkeit herausgetreten, aber auf eine Wirklichkeit bezogen, von der es im Prozess der Entstehung formend bestimmt wird. Dies ist primär der Stoff (hyle) in seiner konkreten wie theoretischen Funktion (Met. 1042 a 28). Die Verwirklichung eines niederen V.s ist eine Entelechie, die ihrerseits in Hinordnung auf eine höhere Entelechie als V. fungieren kann. Aus dieser Struktur ergibt sich die hierarchische Ordnung alles Lebendigen. – Die Scholastik übersetzte die aristotelische V.slehre in die Unterscheidung von Akt und Potenz (actus/potentia). – Reid definierte V. als eine natürliche und aktive, die Konstitution des Geistes bestimmende Kraft. Die Vermögenstheorie der empirischen Psychologie des 18. Jh. erklärte die verschiedenen Tätigkeiten der Seele durch Seelenvermögen. Gall erweiterte die Theorie zur Phrenologie als einer physiognomischen Schädellehre. Schon früh wurde kritisiert, man könne den Gehalt einer psychologischen Funktion nicht erklären, indem man ihn mit dem problematischen Begriff des V.s verbinde. Die Kritik ist formuliert u. a. bei Schulze, Herbart, Beneke und Hegel (Enzyklopädie § 445). – Kant unterscheidet als Grundvermögen des menschlichen Gemüts das Erkenntnisvermögen, das Gefühl der Lust und Unlust und das Begehrungsvermögen (KU Einl. III, H 10).
Literatur:
- Aristoteles: Metaphysik. Buch V und IX
- F. E. Beneke: Lehrbuch für Psychologie. §§ 11 f., 61. 21845. Nachdr. Amsterdam 1964. S. 9 ff., 55 f
- J. Fodor: The Modularity of Mind. Cambridge, Mass. 1983
- G.W. F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830)
- Ders.: Grundlinien der Philosophie des Rechts
- J. F. Herbart: Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie. § 159. Hamburg 1993. S. 316 ff
- I. Kant: Kritik der Urteilskraft. Einleitung III
- G. Plamböck: Dynamis im Corpus Hippocraticum. Wiesbaden 1964
- T. Reid: Essays in the Intellectual Powers of Man, I, 1. In: Philosophical Works. Bd. 1. 81895. Nachdr. Hildesheim 1967. S. 221
- J. Stallmach: Dynamis und Energeia. Meisenheim 1959
- A. Szabó: Anfänge der griechischen Mathematik. Wien 1969.
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