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Metzler Lexikon Philosophie: Verzeitlichung

Unter (neu-) platonischen Voraussetzungen wird Verzeitlichung als Fall aus dem Anderen der Zeit in die Zeit denkbar. Dieser Fall affiziert speziell die Seele als ein radikaler, für die weltliche Zeit schlechthin geltender ontologischer Mangel, der sich in ihrer Zerspannung (distentio animi) zwischen den Horizonten vergegenwärtigter Vergangenheit und Zukunft manifestiert und infolge dessen eine regressive Entzeitlichung motiviert, die zum Anderen der Zeit zurückführen soll. Paradoxerweise beginnt die Karriere des Begriffs aber gerade im Zuge eines Verblassens des Anderen der Zeit, so dass letztere unumschränkt zu herrschen scheint, indem sie alles dem Nichtsein überantwortet (M. Theunissen: Negative Theologie der Zeit. Frankfurt 1991. S. 38 ff.). So wird der Begriff in ideengeschichtlicher Perspektive auf Prozesse gemünzt, in denen eine rückhaltlose Auslieferung an die Zeit realisiert wird. Das wichtigste Paradigma ist die Transformation der Vorstellung einer »Kette der Wesen« (A. O. Lovejoy), deren Hierarchie noch in der sog. Naturgeschichte ursprünglich für immer feststehend gedacht wurde, in eine originäre ontogenetische, dann auch phylogenetische Entstehung der Lebewesen und ihrer Arten. In der modernen Evolutionstheorie wird schließlich jegliche eidetische Konstanz der Zeit preisgegeben gedacht, die weder von einem Ursprung noch von einem Telos beherrscht wird. Man spricht in diesem Sinne von einer V. der Natur (bzw. der Naturgeschichte), die ganz und gar kontingent veränderlich erscheint. Inspiriert vom Rousseau’schen, gleichfalls ateleologisch konzipierten Begriff der perfectibilité wird bereits im 18. Jh. eine V. der Geschichte gedacht, die nach R. Koselleck besagt, dass die Geschichte sich nicht länger nur in der Zeit abspielt, sondern durch sie sich vollzieht. Geschichte geschieht in der Erwartung einer prinzipiellen Andersartigkeit und Kontingenz der Zukunft, die es nicht mehr ermöglicht, ihrem finalen Sinn vorzugreifen. Geschichte und Evolution bezeichnen dem Anschein nach nahezu strukturgleiche Prozesse, die auch den Menschen in seiner Endlichkeit rückhaltlos erfassen: Er entsteht und löst sich auf wie andere Lebewesen auch. Analog spricht man von einer V. des Wissens, der Wissenschaften, aber auch der Gesellschaften oder bestimmter kultureller Vorstellungen und Ideen (wie der Utopie oder der Neugier). In kulturgeschichtlicher Perspektive wird der Begriff V. darüber hinaus häufig fast synonym mit Temporalisierung oder Beschleunigung gebraucht, die mit einer gesteigerten Sensibilität für die Zeit, ihr Vergehen und ihre Knappheit einhergeht. Entscheidend ist zum Verständnis des Begriffs, welcher Zeitbegriff jeweils einfließt. Schließlich entwirft Heidegger eine ontologische V. des Daseins, das selbst die Zeiten der Natur und der Geschichte konstituiert, in die es andererseits als leiblich inkarniertes fallen soll. Leibliches Dasein fällt einerseits in die reale Naturzeit, konstituiert andererseits aber eine Vielzahl dimensionaler Zeiten (bis hin zu Horizonten von Generationen und Epochen), die eine Differenzierung von Stufen und Modi der V. erfordern.

Literatur:

  • W. Beierwaltes: Das Denken des Einen. Frankfurt 1985
  • M. Foucault: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt 1974. S. 167–180
  • H.-G. Gadamer: Über leere und erfüllte Zeit. In: Kleine Schriften III. Tübingen 1972. S. 221 ff
  • K. Koselleck: Vergangene Zukunft. Frankfurt 1979
  • Ders.: Zeitschichten. Frankfurt 2003
  • W. Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte. Frankfurt 1978
  • N. Luhmann: Weltzeit und Systemgeschichte. In: H. M. Baumgartner/J. Rüsen (Hg.): Seminar: Theorie und Geschichte. Frankfurt 1976. S. 337–387
  • P. Ricœur: Zeit und Erzählung I. München 1988. S. 15–53, 132 f
  • Ders.: Zeit und Erzählung III. München 1991. S. 322 f
  • J. Taubes: Abendländische Eschatologie. München 1991. S. 4 ff
  • S. Toulmin/J. Goodfield: Die Entdeckung der Zeit. Frankfurt 1985
  • H.-D. Weber: Die V. der Natur im 18. Jahrhundert. In: Ders.: Vom Wandel des neuzeitlichen Naturbegriffs. Konstanz 1989. S. 97–131
  • R. Wendorff: Zeit und Kultur. Opladen 1980.

BL

  • Die Autoren
AA Andreas Arndt, Berlin
AB Andreas Bartels, Paderborn
AC Andreas Cremonini, Basel
AD Andreas Disselnkötter, Dortmund
AE Achim Engstler, Münster
AG Alexander Grau, Berlin
AK André Kieserling, Bielefeld
AM Arne Malmsheimer, Bochum
AN Armin Nassehi, München
AR Alexander Riebel, Würzburg
ARE Anne Reichold, Kaiserslautern
AS Annette Sell, Bochum
AT Axel Tschentscher, Würzburg
ATA Angela T. Augustin †
AW Astrid Wagner, Berlin
BA Bernd Amos, Erlangen
BBR Birger Brinkmeier, Münster
BCP Bernadette Collenberg-Plotnikov, Hagen
BD Bernhard Debatin, Berlin
BES Bettina Schmitz, Würzburg
BG Bernward Gesang, Kusterdingen
BI Bernhard Irrgang, Dresden
BK Bernd Kleimann, Tübingen
BKO Boris Kositzke, Tübingen
BL Burkhard Liebsch, Bochum
BR Boris Rähme, Berlin
BS Berthold Suchan, Gießen
BZ Bernhard Zimmermann, Freiburg
CA Claudia Albert, Berlin
CH Cornelia Haas, Würzburg
CHA Christoph Asmuth, Berlin
CHR Christa Runtenberg, Münster
CI Christian Iber, Berlin
CJ Christoph Jäger, Leipzig
CK Christian Kanzian, Innsbruck
CL Cornelia Liesenfeld, Augsburg
CLK Clemens Kauffmann, Lappersdorf
CM Claudius Müller, Nehren
CO Clemens Ottmers, Tübingen
CP Cristina de la Puente, Stuttgart
CS Christian Schröer, Augsburg
CSE Clemens Sedmak, Innsbruck
CT Christian Tewes, Jena
CZ Christian Zeuch, Münster
DG Dorothea Günther, Würzburg
DGR Dorit Grugel, Münster
DH Detlef Horster, Hannover
DHB Daniela Hoff-Bergmann, Bremen
DIK Dietmar Köveker, Frankfurt a.M.
DK Dominic Kaegi, Luzern
DKÖ Dietmar Köhler, Witten
DL Dorothea Lüddeckens, Zürich
DP Dominik Perler, Berlin
DR Dane Ratliff, Würzburg und Austin/Texas
EE Eva Elm, Berlin
EJ Eva Jelden, Berlin
EF Elisabeth Fink, Berlin
EM Ekkehard Martens, Hamburg
ER Eberhard Rüddenklau, Staufenberg
EWG Eckard Wolz-Gottwald, Davensberg
EWL Elisabeth Weisser-Lohmann, Bochum
FBS Franz-Bernhard Stammkötter, Bochum
FG Frank Grunert, Basel
FPB Franz-Peter Burkard, Würzburg
FW Fabian Wittreck, Münster
GK Georg Kneer, Leipzig
GKB Gudrun Kühne-Bertram, Ochtrup
GL Georg Lohmann, Magdeburg
GM Georg Mildenberger, Tübingen
GME Günther Mensching, Hannover
GMO Georg Mohr, Bremen
GN Guido Naschert, Tübingen
GOS Gottfried Schwitzgebel, Mainz
GS Georg Scherer, Oberhausen
GSO Gianfranco Soldati, Tübingen
HB Harald Berger, Graz
HD Horst Dreier, Würzburg
HDH Han-Ding Hong, Düsseldorf
HG Helmut Glück, Bamberg
HGR Horst Gronke, Berlin
HL Hilge Landweer, Berlin
HND Herta Nagl-Docekal, Wien
HPS Helke Pankin-Schappert, Mainz
HS Herbert Schnädelbach, Berlin
IR Ines Riemer, Hamburg
JA Johann S. Ach, Münster
JC Jürgen Court, Köln
JH Jörg Hardy, Münster
JHI Jens Hinkmann, Bad Tölz
JK Jörg Klawitter, Würzburg
JM Jörg F. Maas, Hannover
JOP Jeff Owen Prudhomme, Macon/Georgia
JP Jörg Pannier, Münster
JPB Jens Peter Brune
JQ Josef Quitterer, Innsbruck
JR Josef Rauscher, Mainz
JRO Johannes Rohbeck, Dresden
JS Joachim Söder, Bonn
JSC Jörg Schmidt, München
JV Jürgen Villers, Aachen
KDZ Klaus-Dieter Zacher, Berlin
KE Klaus Eck, Würzburg
KG Kerstin Gevatter, Bochum
KH Kai-Uwe Hellmann, Berlin
KHG Karl-Heinz Gerschmann, Münster
KHL Karl-Heinz Lembeck, Würzburg
KJG Klaus-Jürgen Grün, Frankfurt a.M.
KK Klaus Kahnert, Bochum
KRL Karl-Reinhard Lohmann, Witten
KS Kathrin Schulz, Würzburg
KSH Klaus Sachs-Hombach, Magdeburg
LG Lutz Geldsetzer, Düsseldorf
LR Leonhard Richter, Würzburg
MA Mauro Antonelli, Graz
MB Martin Beisler, Gerbrunn
MBI Marcus Birke, Münster
MBO Marco Bonato, Tübingen
MD Max Deeg, Cardiff
MDB Matthias Bloch, Bochum
ME Michael Esfeld, Münster
MFM Martin F. Meyer, Koblenz/Landau
MK Matthias Kunz, München
MKL Martin Kleinsorge, Aachen
MKO Mathias Koßler, Mainz
ML Mark Lekarew, Berlin
MLE Michael Leibold, Würzburg
MM Matthias Maring, Karlsruhe
MN Marcel Niquet, Frankfurt a.M.
MQ Michael Quante, Köln
MR Mathias Richter, Berlin
MRM Marie-Luise Raters-Mohr, Potsdam
MS Manfred Stöckler, Bremen
MSI Mark Siebel, Hamburg
MSP Michael Spang, Ellwangen
MSU Martin Suhr, Hamburg
MW Markus Willaschek, Münster
MWÖ Matthias Wörther, München
NM Norbert Meuter, Berlin
OB Oliver Baum, Bochum
OFS Orrin F. Summerell, Bochum
PE Peter Eisenhardt, Frankfurt a.M.
PCL Peter Ch. Lang, Frankfurt a.M.
PK Peter Kunzmann, Jena
PN Peter Nitschke, Vechta
PP Peter Prechtl †
RD Ruth Dommaschk, Würzburg
RDÜ Renate Dürr, Karlsruhe
RE Rolf Elberfeld, Hildesheim
REW Ruth Ewertowski, Stuttgart
RH Reiner Hedrich, Gießen
RHI Reinhard Hiltscher, Stegaurach
RK Reinhard Kottmann, Münster
RL Rudolf Lüthe, Koblenz
RLA Rolf-Jürgen Lachmann, Berlin
RM Reinhard Mehring, Berlin
RP Roland Popp, Bremen
RS Regina Srowig, Würzburg
RTH Robert Theis, Strassen
RW Raymund Weyers, Köln
SD Steffen Dietzsch, Berlin
SIK Simone Koch, Bochum
SP Stephan Pohl, Dresden
SZ Snjezana Zoric, Würzburg
TB Thomas Bausch, Berlin
TBL Thomas Blume, Dresden
TF Thomas Friedrich, Mannheim
TG Thomas Grundmann, Köln
TH Thomas Hammer, Frankfurt a.M.
TK Thomas Kisser, München
TM Thomas Mormann, Unterhaching
TN Thomas Noetzel, Marburg
TP Tony Pacyna, Jena
TW Thomas Welt, Bochum
UB Ulrich Baltzer, München
UT Udo Tietz, Berlin
UM Ulrich Metschl, München/Leonberg
VG Volker Gerhardt, Berlin
VM Verena Mayer, München
VP Veit Pittioni, Innsbruck
VR Virginie Riant, Vechta
WAM Walter Mesch, Heidelberg
WB Wilhelm Baumgartner, Würzburg
WH Wolfram Hinzen, Bern
WJ Werner Jung, Duisburg
WK Wulf Kellerwessel, Aachen
WL Winfried Löffler, Innsbruck
WM Wolfgang Meckel, Butzbach
WN Wolfgang Neuser, Kaiserslautern
WP Wolfgang Pleger, Cochem/Dohr
WS Werner Schüßler, Trier
WST Wolfgang Struck, Erfurt
WSU Wolfgang Schulz, Tübingen
WvH Wolfram von Heynitz, Weiburg

Herausgegeben von Peter Prechtl (†) und Franz-Peter Burkard.

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