Metzler Lexikon Philosophie: Willensschwäche
Das Phänomen der W. oder ˲akrasia˱ ist häufig als ein besonderes philosophisches Problem der Moralphilosophie behandelt worden. Gesetzt den Fall, dass eine Person S grundsätzlich rational und zur Selbstbestimmung prinzipiell fähig ist. Wie ist es dann möglich, dass bei einer willensschwachen Handlung S eine als schlechter (strategisch oder objektiv moralisch) erkannte Handlungsalternative y der besseren, x, vorzieht? Die sokratische Auffassung kann im Hinblick auf das Problem als eliminativ angesehen werden: Handelt eine Person willensschwach, dann strebt sie nach dem Guten, aber ist unwissend im Hinblick auf das wahrhaft Gute (Protagoras 351b-358e). In der Politeia (439e-40a) ist Platon hingegen bestrebt, das Problem nicht einfach zu leugnen, sondern erläutert es mit Hilfe einer Dreiteilung der Seele. So kann man einerseits den Wunsch haben, x zu vollziehen, aber aufgrund des nicht-rationalen Verlangens nach y auch entgegen der eigentlich rationalen Absicht handeln. Nach Aristoteles konfligieren bei der W. ebenfalls rationale und nicht-rationale Motive, aber der Willensschwache handelt auch in gewisser Weise ignorant, da er sich im Hinblick auf die zweite Prämisse des praktischen Syllogismus als unwissend erweist, jedoch wie der Betrunkene nicht vollständig unwissend ist (Nikomachische Ethik, Buch 7). Ein bedeutender Einfluss auf die Auseinandersetzung mit dem Phänomen der W. in der Philosophie des MA. kommt insbesondere Augustinus’ spätantiker Willenskonzeption zu. Dabei beschäftigt ihn weniger die aristotelische Auffassung der W., als vielmehr ein Begriff des Willens, der nicht mehr einfach ein Vollzugsorgan der Vernunft ist, sondern eine unabhängige Entscheidungsinstanz. Dies ermöglicht in der ma. Philosophie eine vielfältige Differenzierung des Willensbegriffs im Hinblick auf das Phänomen der W. wie z.B. bei Anselm von Canterbury. – In der zeitgenössischen Philosophie hat insbesondere Donald Davidson geltend gemacht, dass das Phänomen der W. nicht auf den Bereich der Moral begrenzt werden darf. Auch eine Handlung y, die S gegen die aus seiner Sicht besseren Gründe für eine andere Handlung x ausführt, die mit moralischen Erwägungen nichts zu tun haben, ist nach Davidson eine willensschwache Handlung. Inwiefern akratische Handlungen erklärungsbedürftig sind, verdeutlicht Davidson mit folgenden drei Prinzipien: P1: ˲Wenn ein Handelnder x in höherem Maße wünscht als y und er glaubt frei zu sein, entweder x oder y zu tun, dann wird er x absichtlich vollziehen, wenn er entweder x oder y absichtlich tut˱. P2: ˲Wenn ein Handelnder urteilt, dass es besser wäre, x zu tun als y, dann will er x in höherem Maße tun als y.˱ Beide Prinzipien zusammen sagen aus, dass rationale Personen mit ihren Handlungen genau das anstreben, was sie für gut halten. Dies führt jedoch mit P3: ˲Es gibt willensschwache Handlungen˱ zumindest prima facie zu einem Widerspruch, weil akratische Handlungen unter der Voraussetzung, dass die obigen rationalen Handlungsprinzipien gültig sind, direkt ausgeschlossen zu sein scheinen. Das Problem der W. ist in dieser Fassung somit ein Problem für die Idee des rationalen Handelns selber. Sowohl Davidsons Lösungsvorschlag, dass der zunächst vermutete Widerspruch aufgrund bestimmter Erwägungen nicht besteht als auch die grundlegende Auffassung, dass Personen dasjenige tun wollen, was sie für besser halten, werden in der Forschung kontrovers diskutiert.
Literatur:
- D. Davidson: Wie ist Willensschwäche möglich? In: Ders.: Handlung und Ereignis. Frankfurt 1990
- T. Hoffmann/J. Müller/M. Perkams (Hg.): Das Problem der Willensschwäche in der mittelalterlichen Philosophie. The Problem of Weakness of Will in Medieval Philosophy. Leuven/Paris/Dudley 2006
- E. Mele: Irrationality. An Essay on Akrasia, Self-Deception and Self- Control. Oxford 1987
- Th. Spitzley: Handeln wider besseren Wissens. Berlin/New York 1992.
CT
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