Metzler Lexikon Philosophie: Wissen
bezeichnet einen Erkenntniszustand allgemeiner intersubjektiv-vermittelbarer Sicherheit bzgl. der Kenntnis einzelner Gegenstände oder prozessualer Vorgänge. W. wird abgegrenzt von Erfahrung, Erkenntnis, Gewissheit, Empfinden, Meinen und Glauben. Die in der Wissenschaft zusammengefassten Kenntnisse sind nach Aristoteles W. (an. post. 72 b5, an. pr. 67 a1 ff). Nur wer etwas beweisen kann, hat W.W. ist deshalb notwendig (an. post. 73 a22). Wissenserwerb beruht auf der in »höherem Grade« bestehenden Kenntnis der Prinzipien und dem größeren Glauben an die Prinzipien als an das zu Beweisende (an. post. 72 b1 ff). W. von Gegenständen haben wir durch diesen »Besitz des allgemeinen und des besonderen Wissens« oder direkt durch Wahrnehmung als »aktuelles, wirkliches Wissen« (an. pr. 67 b1 ff). Der Ort für alle Denkformen ist ein Teil der Seele, die Denkseele. Diese muss die Fähigkeit haben, die Form aufzunehmen (de anima 429 a10 ff). Während man nach Aristoteles W. dank analytischer Beweisverfahren hat, wird in der Platonischen Philosophie die Teilhabe der erkennenden Seele an der Idee als W. bezeichnet. Im Liniengleichnis werden Nous (intellectus) und Sophia (sapientia) als höchste Formen des W.s dem Meinen und Glauben übergeordnet (Politeia 509 d ff, 477 b-e; Gorgias 454 d). Nach dem Neuplatonismus (Proclus) beruht W. auf der Partizipation der Individual-Seele an einer allgemeinen Intellektual- Seele. Nach Proclus ist jede Seele eine lebendige und wissende Substanz, ein substantielles und wissendes Prinzip des Lebens und ein Prinzip des W.s als eine Substanz und ein Lebensprinzip. Alle drei Bestimmungen existieren in allen und für sich in der Seele (Elem. Theol. prop. 197, 101). Das MA betont die cognitio ex principiis gegenüber einer cognitio principiorum. W. bedeutet die Darlegung der Ordnung der Dinge (Duns Scotus: Tractatus de primo principio, cap. IV, 6. et 7. concl.). Im neuplatonischen Erkenntniskonzept G. Brunos in der Renaissance beruht W. auf einer Erkenntnishierarchie: Nach der Wahrnehmung übersetzt der diskursive Verstand (ratio) die einzelnen im Gedächtnis gespeicherten Dinge in ein Allgemeines und ordnet sie in einer logischen Aufeinanderfolge durch analytische Beweisführung. Die Vernunft (intellectus) nimmt durch eine Intuition in einer inneren Anschauung die Ergebnisse des Verstandes auf. Schließlich identifiziert der Geist (mens) die vorherigen Ebenen miteinander und erfasst unmittelbar, wie in einem lebendigen Spiegel, alle Formen und Gestalten ohne logisch-diskursives Denken. W. findet sich nur auf dieser höchsten Stufe (Opera latine I 4, 32). In der frz. Aufklärung (Condillac, d’Alembert) wird W. als sicherer Schluss aus Vernunftgründen interpretiert, der mehr als nur Wahrscheinlichkeit hat. W. bezeichnet eine zuverlässige und bewiesene Kenntnis. Unkenntnis setzt eine Idee von der Sache voraus, ohne dass ein angemessenes Urteil gebildet werden könnte (Diderot). Den Status des Fürwahrhaltens sieht Kant als Kriterium für Meinen, Glauben und W.: »Meinen ist ein mit Bewußtsein sowohl subjektiv, als objektiv unzureichendes Fürwahrhalten. Ist das letztere nur subjektiv zureichend und wird zugleich für objektiv unzureichend gehalten, so heißt es Glauben. Endlich heißt das sowohl subjektiv als objektiv zureichende Fürwahrhalten das Wissen« (KrV B 850). Wer meinen will, muss zuvor w. Schließlich thematisiert Hegel das reine W., dessen Gegenstand das in seiner Vielfalt zu bestimmende W. selbst ist (absolutes W.; Phänom. VIII). Das System der Wissenschaften gilt Hegel als eine Darstellung des reinen W.s. – In einem schwächeren Sinn ist von W. als Expertensystem in der Künstlichen Intelligenz die Rede (Ryle).
Literatur:
- J. d’Alembert: Essai sur les éléments de philosophie
- Aristoteles: De anima; Analytica priora; Analytica posteriora
- G. Bruno: Opera latine conscripta. Neaple/Florenz 1879–1891
- E. B. Condillac: Logik
- D. Diderot u. a.: Enzyklopädie
- G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes
- I. Kant: Kritik der reinen Vernunft
- Platon: Politeia; Gorgias; Charmides
- Proclus: Elem. Theol
- G. Ryle: Der Begriff des Geistes. Stuttgart 1969
- J. Duns Scotus: Tractatus de primo principio.
WN
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