AIDS - die globale Bilanz
Allein im letzten Jahr haben sich fast sechs Millionen Menschen mit dem AIDS-Erreger infiziert. Unterprivilegierte Bevölkerungsgruppen sind dem Virus oft am stärksten ausgeliefert.
Nach mehr als zehn Jahren unerbittlichem Anstieg gingen 1996 die AIDS-bedingten Todesfälle in den USA erstmals zurück. Ähnliches verzeichneten andere reiche Nationen wie Frankreich, Großbritannien und die Bundesrepublik. Zu verdanken ist dies offenbar hauptsächlich den neuen Behandlungsmöglichkeiten, die das Human-Immunschwäche-Virus (HIV) in seiner Vermehrung im Organismus wirksam bremsen. Leider sieht der globale Trend anders aus – besonders auch bei den Ansteckungsraten (Bild).
Eine HIV-Infektion ist eine meist über Jahre fortschreitende Erkrankung, die zunächst relativ symptomlos verläuft und schließlich in AIDS, das erworbene Immunschwäche-Syndrom, mündet. Die längst weltweite HIV-Pandemie setzt sich aus Tausenden von Einzelepidemien unterschiedlicher Vehemenz zusammen. Besonders rasch breitet sie sich in den Entwicklungsländern aus, wo die Mehrheit der Erdbevölkerung lebt. Nach Angaben des AIDS-Programms der Vereinten Nationen (UNAIDS) haben sich seit den frühen achtziger Jahren schätzungsweise mehr als 40 Millionen Menschen infiziert, fast 12 Millionen sind an den Folgen schon gestorben, und mindestens 8 Millionen Kinder verloren dadurch ihre Eltern. Allein 1997 haben sich knapp 6 Millionen Menschen angesteckt – das sind fast 16000 täglich; außerdem erlagen rund 2,3 Millionen der Immunschwäche, darunter 460000 Kinder.
Hinter diesen alarmierenden Zahlen verbirgt sich unter anderem eine Reihe wirtschaftlicher und sozialer Mißstände. Die Ressourcen zur Bekämpfung der Seuche sind seit jeher ungleich verteilt. Obwohl mehr als 90 Prozent der HIV-Infizierten in der Dritten Welt leben, entfallen auf sie weit weniger als 10 Prozent der globalen Ausgaben für Behandlung und Prävention. Die neuen Kombinationstherapien mit jährlichen Kosten von mindestens 10000 US-Dollar pro Patient konnten hier gar nicht zum Zuge kommen – die meist fehlende Infrastruktur sowie die Finanzknappheit lassen keine solche Versorgung zu. Mit Präventionskampagnen haben die Gesundheitsbehörden zwar offensichtlich die Ausbreitung der Seuche in einigen wenigen Teilen der Dritten Welt verlangsamt, so mancherorts in Uganda und Thailand, doch sind dies Ausnahmen; zumeist verschärft sich die Situation zusehends.
Wie ein Flächenbrand breitet sich HIV in Schwarzafrika und Südostasien aus. Zwei Drittel aller Infizierten, darunter ungefähr 90 Prozent aller betroffenen Kinder, leben in den Ländern südlich der Sahara. In manchen Gegenden von Botswana und Swasiland sowie in mehre-ren Provinzen Südafrikas ist jeder vierte Erwachsene Virusträger. In vielen Staaten des Kontinents sinkt mittlerweile die Lebenserwartung, die seit den fünfziger Jahren stetig gestiegen war. HIV wird in Schwarzafrika zwar überwiegend durch ungeschützten heterosexuellen Geschlechtsverkehr übertragen, doch verschärft sich hier das Problem noch durch kontaminiertes Spenderblut: Mindestens ein Viertel der jährlich 2,5 Millionen Konserven, die in Afrika vorwiegend an Frauen und Kinder verabreicht werden, sind nicht auf HIV getestet.
Schwerpunkte der Pandemie in Südostasien sind Thailand sowie Indien (mit etwa drei bis fünf Millionen Infizierten). Mittlerweile grassiert sie auch in Burma und greift in Vietnam und China um sich.
Ob arme oder reiche Nation – das epidemiologisch Bestürzende ist, daß innerhalb einer Bevölkerung die jeweils am wenigsten in ihren Menschenrechten geachteten Gruppen am stärksten von der Entwicklung betroffen sind. Oft verlagert sich die Hauptlast einer Epidemie allmählich von der Gruppe, in der HIV zuerst auftrat, hin zu denen, die schon in Zeiten vor AIDS sozial benachteiligt oder diskriminiert wurden – aus ökonomischen, rassischen, religiösen, kulturellen oder politischen Gründen oder einfach, weil es sich um das unterdrückte Geschlecht handelt. Unterprivilegierte Gruppen haben im allgemeinen nur begrenzten Zugang zu medizinischen Informationen und Dienstleistungen und sind wohl auch viel eher sexueller und anderer Ausbeutung ausgesetzt. Und später, als Infizierte, dürfte es ihnen ebenfalls an nötiger medizinischer Versorgung und sozialer Unterstützung mangeln. Die weiterreichende Benachteiligung macht deshalb den Einzelnen und damit das Kollektiv zu einem leichteren Opfer der Seuche.
Eines dieser tragischen Beispiele bieten die USA: Vor zehn Jahren waren dort 60 Prozent aller AIDS-Patienten Weiße, 39 Prozent Schwarze oder Latinos; inzwischen hat sich das Verhältnis umgekehrt. Und während zwischen 1995 und 1996 die AIDS-Inzidenz – die Anzahl neuer AIDS-Erkrankungen pro 100000 Menschen – bei Weißen um 13 Prozent zurückging, blieb sie bei Schwarzen gleich.
Auch in der Dritten Welt tragen soziale Randgruppen mit niedrigerem Ausbildungsniveau und Lebensstandard ein höheres Infektionsrisiko. In Brasilien beispielsweise hatten anfangs die meisten AIDS-Patienten einen höheren Schulabschluß; unter den heute neu diagnostizierten hat hingegen mehr als die Hälfte nur die Grundschule besucht, wenn überhaupt.
In weiten Teilen der Welt sind Frauen sozial benachteiligt und außerstande, Safer-Sex – vor allem Kondomgebrauch – durchzusetzen. Ohne annähernde soziale Gleichstellung werden sie sich nie wirksam schützen können (bereits heute sind mehr als 40 Prozent aller HIV-Infizierten weiblichen Geschlechts). Die Vereinten Nationen haben die Bedeutung sozialer Faktoren für das Infektionsrisiko erkannt und die Förderung der Menschenrechte in ihr Präventionsprogramm aufgenommen.
Welche Entwicklungen zeichnen sich für die Zukunft ab? In den kommenden Jahren dürfte sich die Pandemie noch stärker in der Dritten Welt, also vor allem in der südlichen Hemisphäre ausbreiten, auch in bis dahin verschonte Gebiete. Nicht überall wird das zwar so explosionsartig geschehen wie in Südafrika und Kambodscha. Doch ist ein enormes Anwachsen der ohnehin schon übermäßigen Belastungen auf dem Gesundheitssektor abzusehen. In den Industrienationen wird sich das Virus zumindest in einem Teil der Bevölkerung langsamer ausbreiten, in sozial benachteiligten Gruppen hingegen stärker. Ein beträchtlicher Anstieg der Kosten ist hier vom Ausweiten der intensiven Kombinationstherapie zu erwarten. Für die Nord- und Südhalbkugel gleichermaßen gilt, daß Bestrebungen, die sozialen Förderfaktoren der Seuche zu bekämpfen, höchstwahrscheinlich nur mühsam vorankommen – nicht zuletzt, weil sich gesellschaftliche Eliten dem nachdrücklich entgegenstellen.
Um die Ausbreitung von HIV einzudämmen, muß man die Präventionsprogramme erheblich erweitern. Angesichts der Schwierigkeit, so viele Menschen zu wirksamen Verhaltensänderungen zu bewegen, muß aber gleichzeitig noch intensiver an der Entwicklung eines Impfstoffs gearbeitet werden. Öffentliche und private Forschungsinstitutionen sowie internationale Organisationen sollten einer HIV-Vakzine höchste Priorität einräumen und dafür sorgen, daß die am stärksten gefährdeten Menschen vorrangig geimpft werden – unabhängig von sozialem und wirtschaftlichem Status.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1998, Seite 34
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben