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Anti-HIV-Therapien

Die Wirkung der neuen intensiven Kombinationstherapien ist oft eindrucksvoll, doch sind sie teuer, belastend und nicht für alle Patienten geeignet. Wie wird die Entwicklung weitergehen?


Die ideale Vorbeugung gegen AIDS wäre sicherlich ein Impfstoff, der den Erreger erst gar nicht imOrganismus Fuß fassen ließe. Kurzfristig bestehen jedoch kaum Aussichten auf eine wirksame Vakzine. Deshalb konzentrieren sich viele Forscher zur Zeit darauf, die Behandlung Infizierter zu verbessern.
Noch vor wenigen Jahren bedeutete eine Ansteckung mit dem Human-Immunschwäche-Virus (HIV) praktisch immer einen unaufhaltsamen Niedergang der Immunabwehr bis zum tödlichen alptraumhaften Endstadium AIDS (für englisch acquired immune deficiency syndrome, erworbenes Immunschwäche-Syndrom). Gekennzeichnet ist es durch schwere Begleitinfektionen mit opportunistischen Erregern, die für Gesunde harmlos sind, aber infolge des Immundefekts den Körper überrollen und elend zugrunde richten. Auf deren Bekämpfung mußten sich die Ärzte überwiegend beschränken. Seit Ende 1995 hat sich diese Situation jedoch deutlich zum Positiven gewendet, aus mehreren Gründen. Man hat ein viel umfassenderes wissenschaftliches Verständnis erlangt, wie sich das Virus im Körper verhält, und auch eine Vorstellung davon, wie es in Schach zu halten wäre. Zwei neue Klassen von Anti-HIV-Wirkstoffen haben das medizinische Arsenal erweitert, und die klinischen Labors bekamen Testsysteme zur direkten Überwachung der Viruslast in die Hand, so daß sich die Wirksamkeit einer Behandlung rasch erfassen läßt. Diese aufeinander aufbauenden Fortschritte ermöglichten eine aggressive medikamentöse Therapie der ursächlichen Infektion. Sie verhilft vielen Patienten zu besserer Gesundheit und längerem Leben – zumindest in den Industrieländern, wo sie mittlerweile weithin verfügbar ist.

Diese Wende kündete sich zunächst in vereinzelten, aber zunehmend häufigeren Berichten über Fälle schwer an AIDS Erkrankter an, die in ein erfülltes, produktives Leben zurückgekehrt waren. Später bestätigten Statistiken den Erfolg der neuen Therapien: Von Mitte 1996 bis Mitte 1997 gingen die AIDS-bedingten Todesfälle um 44 Prozent zurück; in etwa derselben Zeitspanne sank zudem die Häufigkeit stationärer Einweisungen merklich, ebenso die der Hauptkompli-kationen einer HIV-Infektion. Von einem völligen Verständnis des Krankheitsverlaufs und von einer perfekten Therapie ist man jedoch noch weit entfernt. Ob sich beispielsweise die eindrucksvollen Ansprechraten aufrechterhalten lassen, vermag kein Wissenschaftler zu sagen. Die Behandlung selbst ist teuer und belastend, das Einnahmeschema zudem äußerst kompliziert, so daß sie nicht für alle Patienten in Frage kommt. Überdies spricht auch auf die derzeit beste ein gewisser Prozentsatz kaum an. Darum sucht man nach Möglichkeiten, sie breiter wirksam und universeller anwendbar zu machen.

Oberstes Ziel bleibt natürlich, die HIV-Infektion zu heilen. Ungewißheit besteht freilich, ob dies überhaupt möglich ist. Bei vielen Wissenschaftlern herrscht aber vorsichtiger Optimismus, daß es mit wachsendem therapeutischen Arsenal gelingen wird, die Erkrankung erträglich unter Kontrolle zu halten, ähnlich etwa einem chronischen Leiden wie Diabetes.

Noch vor drei Jahren war kaum denkbar, was man heute mit optimaler Therapie anzustreben sucht: die Vermehrung des Virus im Organismus dauerhaft zu unterbinden. Die Patienten müssen dazu streng nach Vorschrift mehrmals am Tag drei, in manchen Fällen auch vier sorgfältig ausgewählte Medikamente einnehmen (Bild 3) – zusätzlich zu eventuell weiteren gegen spezielle Probleme. All diese Therapieempfehlungen beruhen auf Erkenntnissen über die Biologie der Infektion bei unbeeinflußtem Verlauf.



Die Taktik des Erregers


HIV wird in der Regel durch Geschlechtsverkehr übertragen, ferner durch infiziertes Blut oder verseuchte Blutprodukte sowie von Mutter zu Kind vor, bei oder nach der Geburt (dabei ist Muttermilch die Ansteckungsquelle).

Im Körper befällt das Virus bestimmte Arten von Immunzellen, insbesondere jene Sorte weißer Blutkörperchen, die im Thymus reifen und eine zentrale Helferrolle bei der Krankheitsabwehr haben. Nach einem funktionell bedeutsamen Protein auf ihrer Oberfläche – CD4 – nennt man sie auch T4-Zellen. Das Virus läßt sich von ihnen vervielfältigen, und die freigesetzten neuen Partikel befallen weitere Zellen.

In dieser ersten, akuten Phase der Infektion vermehrt sich HIV rasant, erkennbar an der hohen Konzentration infektiöser Partikel im Blut und an dem drastischen Schwund der T4-Zellen (ihre Zahl fällt dabei weit unter den Normalwert von mindestens 800 Zellen pro Mikroliter – Kubikmillimeter – Blut; Bild 2). Etwa drei Wochen nach der Ansteckung treten in vielen Fällen Symptome wie Fieber, Lymphknotenschwellungen, Ausschläge, Muskel- und Kopfschmerzen auf. Dieses akute HIV-Syndrom ähnelt dem Pfeifferschen Drüsenfieber (einer meist durch das Epstein-Barr-Virus verursachten Infektion) und bildet sich nach weiteren ein bis drei Wochen zurück – sobald das Immunsystem eine gewisse Kontrolle über das Virus zu erlangen beginnt. Erreger-spezifische T4-Zellen vermehren sich dabei und regen ihnen verwandte T-Lymphocyten an, infizierte virus-produzierende Zellen abzutöten. Solche Killerzellen tragen ein anderes Protein – CD8 – auf ihrer Oberfläche. Außerdem bilden wieder andere Lymphocyten Antikörper, die frei in Blut und Gewebeflüssigkeit driftende HIV-Partikel abfangen.

Doch trotz des massiven Aufgebots gelingt es dem Immunsystem eines HIV-Infizierten in aller Regel nicht, den Erreger völlig zu eliminieren. Im Blut sinkt zwar der Gehalt, pendelt sich aber ungefähr sechs Monate nach Ansteckung auf ein relativ konstantes, individuell allerdings sehr verschiedenes Niveau ein (Bild 2). Die Höhe der Viruslast zu Beginn dieses chronischen Stadiums bestimmt, wie schnell die Krankheit fortschreitet. Im Mittel dauert es acht bis zehn Jahre, ehe erste ernsthafte Komplikationen auftreten. Bis dahin geht es den Patienten gut; sie haben keine oder nur wenig Symptome, weil noch genügend T4-Zellen die Abwehrkräfte gegen andere Krankheitserreger aufrecht erhalten.

Mit der Zeit sinkt jedoch die Zahl der T4-Zellen pro Mikroliter Blut, und wenn sie 200 unterschreitet, ist per Definition das Endstadium AIDS erreicht. Die typischen Sekundärinfektionen, die das alte und daneben weiterhin gültige diagnostische Kriterium des erworbenen Immunschwäche-Syndroms sind, treten gelegentlich schon vor dieser Grenze auf, aber auch nicht immer sofort danach. Spätestens bei Werten unter 100 gewinnt das Virus völlige Oberhand über das Immunsystem. Die HIV-Konzentration schnellt in die Höhe, und das Versagen der körpereigenen Abwehr schafft opportunistischen Keimen wie den Einzellern Pneumocystis carinii oder Toxoplasma gondii freie Bahn. Sobald solche le-bensbedrohlichen Infektionen wie die Pneumocystis-bedingte Lungenentzündung und die bei AIDS meist das Gehirn betreffende Toxoplasmose auftreten, hat ein Patient oft nur noch ein bis zwei Jahre zu leben.

Die mittlere Lebenserwartung nach der Ansteckung mit HIV liegt bei zehn bis elf Jahren, variiert aber enorm. Einige Infizierte sterben bereits innerhalb eines Jahres, dagegen behalten schätzungsweise vier bis sieben Prozent mindestens acht Jahre lang völlig normale T4-Werte und sind selbst nach zwanzig Jahren noch am Leben.

Auch auf zellulärer Ebene ist der Verlauf der Infektion heute recht gut bekannt (Bild 1). Zur Invasion eines T4-Lymphocyten (oder gewisser anderer Zelltypen) dockt das Virus an ein CD4-Molekül und ein weiteres Protein auf der Zelloberfläche an, das als Co-Rezeptor fungiert. Die Hülle des Partikels verschmilzt mit der Zellmembran, und die Fracht tritt ins Cytoplasma über. Sie umfaßt mehrere Enzyme und zwei einzelne Stränge RNA (Ribonucleinsäure), wovon jeder die volle genetische Information zur Herstellung neuer Virusparti-kel trägt.

Eines der mitgelieferten Enzyme, die Reverse Transkriptase, schreibt die Erbgut-RNA in eine doppelsträngige DNA-Version um. Dieser ungewöhnliche, reverse Kopiervorgang von RNA zu DNA (Desoxyribonucleinsäure) hat der Gruppe, zu der HIV gehört, den Namen Retroviren eingebracht. Ein weiteres Enzym, die Integrase, ermöglicht es der neu synthetisierten HIV-DNA, sich als sogenanntes Provirus dauerhaft in ein Chromosom der Wirtszelle einzunisten. In dieser Form kann sich das Virus weitgehend ruhig verhalten, bis die usurpierte T-Zelle gegen einen von ihr erkannten Krankheitserreger mobil macht und sich stark zu teilen beginnt. Dann wird das Provirus nicht nur an die Tochterzellen weitervererbt, sondern auch aktiviert. Es läßt die Zelle RNA-Abschriften der HIV-DNA und virale Proteine herstellen. Eine HIV-eigene Protease schneidet die Eiweißmoleküle enzymatisch so zurecht, daß sie sich zusammen mit den Erbgut-RNAs zu neuen Viruspartikeln formieren können. Diese knospen an der Zelloberfläche regelrecht aus, lösen sich ab und infizieren weitere Zellen (Bild 1 rechts). Werden zu viele gleichzeitig produziert, kann die Wirtszelle absterben.

Alle bis dahin zugelassenen antiretroviralen Wirkstoffe greifen in diesen Replikationszyklus ein, indem sie die Tätigkeit von Schlüsselenzymen zu unterbinden suchen. Zwei Klassen hemmen die Reverse Transkriptase, so daß im Idealfall erst gar keine integrationsfähigen Proviren entstehen. Die eine umfaßt Nucleosid-Analoga: Sie ähneln normalen DNA-Bausteinen; sobald aber die Reverse Transkriptase sie einem wachsenden Strang HIV-DNA anklinkt, läßt er sich nicht mehr vervollständigen. Ein solches Analogon ist AZT (Zidovudin), das 1987 eingeführte erste Medikament gegen HIV; weitere sind ihm chemisch nah verwandt (Bild 3 oben). Die davon verschiedenen Substanzen der zweiten Klasse – die nicht-nucleosidischen Inhibitoren – hemmen die Reverse Transkriptase auf andere Weise. Die der dritten Klasse schließlich greifen an späterer Stelle in den Replikationszyklus ein: Als Protease-Inhibitoren blockieren sie das katalytische Zentrum des HIV-Enzyms und verhindern dadurch das korrekte Bearbeiten der unreifen viralen Proteine.



Oberstes Ziel: Viruswachstum stoppen


Der Verlauf der unbehandelten HIV-Infektion ist in seinen Grundzügen zwar schon des längeren bekannt; doch sind erst in den letzten Jahren einige der Wissenslücken geschlossen worden. Und diese neueren Erkenntnisse haben mittlerweile Mediziner davon überzeugt, daß eine möglichst vollständige Blockade der Replikation dringlichstes Gebot sein muß.

Frühere Untersuchungen mit vergleichsweise unempfindlichen Methoden legten beispielsweise den Schluß nahe, HIV infiziere nur relativ wenige T4-Zellen und vermehre sich lange Zeit nur langsam. Weil dann aber ein Großteil ihres zu beobachtenden Schwunds auf anderen, indirekten Mechanismen des Zelluntergangs beruhen mußte, war auch kaum zu erwarten, daß replikationshemmende Wirkstoffe den Infektionsverlauf wesentlich beeinflussen könnten – außer unmittelbar vor dem Ausbruch von AIDS. Doch dank hochsensitiver Nachweisverfahren ist heute klar, daß sich HIV von Anfang an höchst produktiv vermehrt. Im Blut bleibt die Viruslast während der chronischen Phase nur deswegen für mehrere Jahre recht konstant, weil das Immunsystem die fortwährend vernichteten befallenen T4-Zellen durch außerordentliche Mengen nicht infizierter zu ersetzen sucht, was ihm eine Zeitlang annähernd gelingt (siehe den Kasten auf Seite 41).

Wie ferner Untersuchungen an unbehandelten Infizierten gezeigt haben, beeinflußt die anfängliche Abwehrreakti-on offenbar entscheidend das weitere Schicksal: Ist die Untergruppe cytotoxischer T8-Zellen, die speziell HIV-befallene Zellen vernichtet, in der akuten Phase nach der Ansteckung besonders aktiv, wird die kritische Viruslast bis zum Beginn der chronischen Phase geringer sein als bei schwächerer initialer Abwehr; dann dauert es auch länger, bis AIDS ausbricht.

Eine starke Immunantwort in der Akutphase hilft anscheinend auch dem Körper, später noch die Untergruppe von T4-Zellen zu produzieren, die auf HIV spezifisch reagiert. Sind diese Zellen erst einmal verschwunden, kann das Immunsystem sie möglicherweise selbst dann nicht mehr ersetzen, wenn eine nachfolgende antiretrovirale Therapie ihm Zeit gibt, die Gesamtmenge an T4-Zellen wieder aufzustocken.

Schließlich hat sich noch gezeigt, daß in allen Stadien der Infektion ein Zusammenhang zwischen der Viruslast und der Wahrscheinlichkeit besteht, innerhalb einer bestimmten Spanne AIDS zu entwickeln oder daran zu sterben (siehe Kasten auf Seite 41). Viele einschlägige Studien deuten darauf hin, daß sich bei Patienten, deren Viruslast dauerhaft unter die Nachweisgrenze sinkt, höchstwahrscheinlich kein AIDS entwickelt. Da die Konzentration infektiöser Partikel so wesentlich das Schicksal der Infizierten bestimmt, das Immunsystem sie aber in der überwältigenden Mehrheit der Fälle ohne Hilfe nicht wirksam genug zu reduzieren vermag, bietet eine aggressive medikamentöse Therapie die besten Chancen auf langfristiges Wohlbefinden.

Allerdings müssen wohl auch Patienten, die gut darauf ansprechen, die Medikamente zumindest für mehrere Jahre, wenn nicht sogar zeitlebens, einnehmen. Denn im Körper gibt es Virusreservoire, die von der Behandlung nicht erfaßt werden. Darauf gehen wir später noch genauer ein.

Bausteine einer optimalen Therapie


Theoretische Erwägungen wie auch die Ergebnisse von klinischen Studien weisen die sogenannte hochaktive antiretrovirale Therapie – kurz HAART – als beste Strategie aus, die Vermehrung des Erregers maximal zu unterdrücken. Derzeit üblich ist eine Dreifach-Kombination aus zwei Nucleosid-Analoga und einem Protease-Inhibitor. Allein die Medikamentenkosten hierfür betragen etwa 20000 DM pro Jahr. Diese Konfiguration wird am häufigsten verschrieben, weil sie die erste war, die gute Ergebnisse zeitigte. Andere Medikamenten-Cocktails, die neu entwickelte Substanzen enthalten und bessere Wirksamkeit oder einfachere Anwendung versprechen, werden derzeit geprüft – darunter solche mit zwei Protease-Inhibitoren oder mit nur einem in Kombination mit einem nicht-nucleosidischen Inhibitor der Reversen Transkriptase (beide Substanzklassen sind wirksamer als Nucleosid-Analoga wie AZT). Zudem werden auch Kombinationen von vier oder mehr Wirkstoffen auf ihren Nutzen geprüft.

Solche komplexen Therapieschemata sind aus verschiedenen Gründen sinnvoll. Was dem einen Pharmakon entgeht, kann das andere wohl unterdrücken, und das dritte bietet zusätzliche Sicherheit. Außerdem wird HIV unausweichlich resistent gegen Mittel, die seine Replikation nicht wirklich vollständig unterbinden (siehe Kasten auf Seite 43). Da kein bisher zugelassenes Medikament jedoch eine solch hundertprozentige Suppression erreicht, verliert es allein genommen nach einiger Zeit seine Wirkung, manchmal schon binnen weniger Wochen. Mehr noch: Dagegen unempfindlich gewordene HIV-Stämme sind oft auch resistent gegen andere Substanzen der gleichen Klasse, die dann als Alternativen ebenfalls ausfallen. Dieses problematische Phänomen bezeichnet man als Kreuzresistenz.

Aus diesen Gründen kann eine Kombinationstherapie mit verschiedenen Wirkstoffklassen, sofern sie die Virusreplikation unter die Nachweisgrenze drückt, am ehesten das Entstehen von Resistenzen erschweren. Eine kontinuierliche Überwachung der Viruskonzentration im Blut läßt zudem erkennen, wann eine Behandlung greift und wann sie an Wirkung verliert. Die Ärzte können daher rechtzeitig die Medikation ändern, bevor das Immunsystem versagt.

Bestimmt wird die Konzentration anhand der Viruslast: der Anzahl an HIV-RNA-Strängen pro Milliliter Blutplasma (pro Kubikzentimeter der zellfreien Flüssigkeit). Weil auf jedes Partikel zwei Stränge kommen, ergibt sich die Konzentration ganz einfach aus der Halbierung des Meßwertes. Die gängigen Testverfahren weisen bestenfalls noch 500 RNA-Kopien pro Milliliter nach; neu entwickelte, aber erst für Forschungszwecke verfügbare sind zehnmal empfindlicher. Bei einer erfolgreichen Therapie sollten die Konzentrationen binnen acht Wochen auf mindestens ein Zehntel gesunken sein, nach sechs Monaten insgesamt die Nachweisgrenze unterschritten haben und nie wieder ansteigen.

Mit Dreifach-Kombinationen wurden in klinischen Studien beeindruckende Erfolge erzielt: Am meisten profitierten Patienten mit 200 bis 500 T4-Zellen pro Mikroliter Blut, die zuvor noch keine antiretroviralen Mittel genommen hatten (die Wahrscheinlichkeit bestehender Resistenzen war daher gering). Bei 75 bis 85 Prozent dieser Personen lag der HIV-RNA-Spiegel nach 24 bis 100 Wochen Therapie unter 500, bei 60 bis 75 Prozent insgesamt sogar unter 50 pro Milliliter.

Die Erfahrungen aus dem breiten Einsatz sind ebenfalls ermutigend, wenn auch nicht ganz so spektakulär: Die HIV-Klinik des San Francisco General Hospital und die der Medizinischen Einrichtungen der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore (Maryland) berichten übereinstimmend, daß bei etwa 50 Prozent der Behandelten binnen 6 bis 52 Wochen die 500-Grenze unterschritten wurde.

Eine 50prozentige Erfolgsrate ist immerhin das Doppelte dessen, was vor wenigen Jahren möglich war. Trotz aller Unvollkommenheit gelingt es offensichtlich in vielen Fällen, das Fortschreiten der Erkrankung zu bremsen. Denn seit Einführung der HAART sind an den erwähnten HIV-Kliniken die stationären Aufenthalte wegen HIV-bedingter Probleme um 50 bis 80 Prozent zurückgegangen – und die Inzidenz der für AIDS bedeutsamsten opportunistischen Infektionen um 50 bis 70 Prozent (Bild 4).

Die geringere Erfolgsquote gegenüber klinischen Studien kann nicht überraschen. Die im normalen Klinikalltag behandelte Population ist wesentlich heterogener, und viele Patienten beginnen mit der Kombinationstherapie erst in einem relativ späten Stadium der Infektion, in dem die Viruslast bereits zu hoch und das Immunsystem zu stark geschädigt sein können. Außerdem sind die meisten zuvor schon mit antiretroviralen Substanzen behandelt worden und beherbergen deshalb wahrscheinlich Stämme, die gegen einen oder auch mehrere Wirkstoffe Resistenzen entwickelt haben.

Schattenseiten von HAART


Die Therapie verlangt überdies von den Patienten sehr viel Entschlossenheit und Disziplin. Ein großes Problem sind die komplexen Einnahmeschemata mit mindestens acht, häufig 16 oder mehr Anti-HIV-Tabletten täglich (zusätzlich zu anderen eventuell nötigen Medikamenten, zum Beispiel zur Prophylaxe von bestimmten opportunistischen Infektionen oder auch gegen Schmerzen). Einige davon sollten zu den Mahlzeiten, andere auf nüchternen Magen genommen werden, manche nicht zusammen mit bestimmten anderen. Selbst wer die Sache organisatorisch ansonsten bestens meistert, kann durcheinander kommen oder eine Pille vergessen. Wenn es schon generell ohne entsprechende Unterstützung schwierig ist, die Verordnung langfristig strikt einzuhalten, dann um so mehr für wohnsitzlose, drogenabhängige oder demente Patienten.

Ohne die Ermutigung und Hilfe, welche die Teilnehmer klinischer Studien erfahren, neigen Patienten im Alltag zudem wohl eher dazu, Tabletten bewußt auszulassen oder gar die ganze Therapie abzubrechen, wenn unangenehme Nebenwirkungen auftreten. Dazu gehören Hautausschläge, Erbrechen, Durchfall und Kopfschmerzen, ferner Anämien, Neuropathien (vor allem mit Schmerzen oder Taubheit der Füße), Leberentzündung und möglicherweise Diabetes (Bild 3). Manche davon können, wenn es nicht bei leichten Formen bleibt, gefährlich oder unerträglich werden, mit einigen anderen läßt sich je nach individueller Toleranz leben.

Bei nicht vorschriftsmäßiger Einnahme wird die virale Replikation unter Umständen nicht ausreichend unterdrückt, was das Aufkommen resistenter Viren fördert (siehe Kasten auf Seite 43). HAART verzeiht keine Versäumnisse: Sobald Resistenzen aufgetreten sind, ist es zwecklos, mit demselben Medikamentenplan noch einmal von vorn anfangen zu wollen. Unzureichende Befolgung ist leider für etwa die Hälfte aller Fälle verantwortlich, in denen die Therapie versagt. Wieviele Tabletten ein Patient vergessen oder auslassen darf, ohne Resistenzen zu fördern, ist unbekannt.

Doch selbst bei Patienten, die sich offenbar strikt an die Verordnung halten, kann es vorkommen, daß die Viruslast nicht unter die Nachweisgrenze fällt oder wieder über sie steigt. Das geschieht unter Umständen, wenn eine bestimmte Medikamentenkombination aufgrund individueller physiologischer Voraussetzungen nicht ihr volles Potential entfalten kann, weil vielleicht die Wirkstoffe zu schnell abgebaut oder nicht vollständig aufgenommen werden, so daß zu wenig davon zu den infizierten Zellen gelangt. Selbst wenn die Viruslast unter die Nachweisgrenze von 500 RNA-Kopien pro Milliliter fällt, heißt dies außerdem längst nicht in allen Fällen, daß überhaupt keine Replikation mehr stattfindet. Eine solch unterschwellige Vermehrung könnte noch Resistenzbildung zulassen.



Strategische Überlegungen


Trotz der aufschlußreichen therapeutischen Erfahrungen der letzten Jahre bleiben noch einige Fragen zu klären – etwa die, ob jeder HIV-Positive sofort nach der Diagnose oder erst später behandelt werden sollte.

Der optimale Zeitpunkt der Intervention – darüber sind Experten sich einig – liegt in der Akutphase, weil dann die besten Chancen bestehen, die Immunfunktionen erhalten zu können. Doch wird die Infektion nur selten so früh diagnostiziert. Auf jeden Fall zu behandeln sind Patienten, die bereits AIDS-Symptome haben oder deren T4-Zellzahl unter 200 pro Mikroliter gesunken ist. Ohne eine Kombinationstherapie würden sie wahrscheinlich nicht lange überleben.

Viele Experten treten dafür ein, auch symptomfreie Infizierte zu behandeln, und zwar dann, wenn sie nur noch 200 bis 500 T4-Zellen pro Mikroliter Blut haben oder die Viruslast auf 10000 bis 20000 RNA-Kopien pro Milliliter Plasma gestiegen ist. Ohne Therapie erkranken in dieser Gruppe mindestens acht Prozent innerhalb von drei Jahren an AIDS, und mindestens 25 Prozent erreichen dieses Stadium im Verlauf der nächsten sechs Jahre.

Die für sie empfohlenen Grenzwerte der T-Zellzahl und Viruslast sind allerdings noch ziemlich willkürlich. Weil sich Infizierte in diesem Stadium in der Regel gesund fühlen, möchten manche sich wohl auch nur ungern schon einer so aufwendigen Medikation mit ihren Nebenwirkungen und ständiger Erinnerung an die Krankheit aussetzen. Außerdem bleiben ihnen für später nur eingeschränkte Möglichkeiten, sofern sich Resistenzen bilden und diese erste Therapie versagt. Manche Infizierten werden also lieber abwarten, bis die Erkrankung fortschreitet oder bis vereinfachte Therapieschemata oder neue Substanzen mit weniger Nebenwirkungen verfügbar sind. Und von den Infizierten mit besseren Laborwerten als oben angegeben werden die meisten vermutlich erst recht abwarten wollen.

Gelingt es mit der ersten Kombinationstherapie nicht, die Viruslast unter die Nachweisgrenze zu drücken, stellt sich für den Patienten die bange Frage nach Alternativen. Leider scheint eine zweite HAART nie die Erfolgsquote einer ersten für zuvor unbehandelte Patienten zu erreichen. Im allgemeinen wird der Arzt zunächst versuchen, dem Patienten die Einhaltung eines Therapieplans zu erleichtern (wenn dies das Problem war), und dann die antiretrovirale Medikation komplett auf andere Wirkstoffe umstellen. Mögliche Kreuzresistenzen mit vorher verwendeten Substanzen sind dabei sorgfältig zu berücksichtigen.

Was ist aber zu tun, wenn sich auch mit dem zweiten HAART-Schema die Virusvermehrung nicht unter die Nachweisgrenze drücken läßt? Für umfassenden Rat reichen die Erfahrungen noch nicht aus. Bei bereits zusammengebrochener Immunabwehr dürfte eine weitere antiretrovirale Behandlung wenig hilfreich sein. In anderen Fällen könnte sich hingegen ihr Fortführen auszahlen. So hat die HIV-Klinik des San Francisco General Hospital wie die der Johns-Hopkins-Universität festgestellt, daß eine unvollständige Suppression der Virusreplikation nicht notwendigerweise das Auftreten von HIV-bedingten Komplikationen bedeutet. Und einigen wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge kann selbst eine Kombinationstherapie, unter der die Viruslast sogar steigt, manchmal die Vermehrung doch etwas drosseln. Eine virologisch gesehen versagende Therapie hilft also möglicherweise trotzdem, die T4-Werte zu halten oder zu steigern, was wertvollen Zeitgewinn bedeuten könnte.

Selbst bei Patienten, die von Anfang an gut auf eine Kombinationstherapie ansprechen, bleibt für die klinische Forschung noch einiges zu klären. So ist zum Beispiel noch ungewiß, ob eine erfolgreich scheinende Behandlung die Immunfunktionen vollständig wiederherstellen kann. Bislang erholt sich das Immunsystem in den meisten Fällen lediglich partiell: Die T4-Werte steigen unter der Medikation um durchschnittlich nur 100 bis 200 Zellen pro Mikroliter an. Möglicherweise wird auch keine normale Zusammensetzung der T4-Population wieder erreicht; sie wächst zwar, erkennt aber vielleicht weniger Krankheitserreger oder kann sie nicht so wirksam bekämpfen wie vor der HIV-Infektion.



Rückzugsräume für HIV


Natürlich besteht Hoffnung, daß anfänglich erfolgreiche HAART-Schema-ta bei Patienten über viele Jahre wirk-sam bleiben. Sofern sie die Virusvermehrung tatsächlich vollständig unterbinden, dürften keine Resistenzen aufkommen, so daß eine solche Behandlung dauerhaft funktionieren sollte. Ob sich dies in der Praxis bestätigt bleibt abzuwarten.

Weniger ermutigend sind leider die Aussichten auf Heilung der Infektion, also auf restlose Elimination des Erregers – zumindest mit den verfügbaren Wirkstoffkombinationen. In ruhenden, teilungsinaktiven T4-Zellen vermag HIV offenbar latent als Provirus zu überdauern; in ihnen werden nur sehr wenige oder überhaupt keine viralen Partikel produziert. Solche Zellen können allerdings reaktiviert werden – etwa im Zuge einer Immunantwort – und erzeugen dann größere Mengen. Bei Einführung der HAART hofften einige Wissenschaftler, die Population ruhender infizierter T-Zellen würde relativ rasch von selbst schwinden – und damit die ständige Bedrohung durch eine Reaktivierung. Nach neueren Erkenntnissen können manche dieser Zeitbomben aber sehr lange überleben und deshalb auf Jahre hinaus eine Gefahr darstellen (Bild 5).

Denkbar wäre, T-Killerzellen gegen sie mobil zu machen. Solange aber ruhende, latent infizierte Zellen keine viralen Proteine produzieren und als Antigene auf ihrer Oberfläche präsentieren, sind sie für die Abwehr gewissermaßen unsichtbar. Man müßte sie deshalb mit geeigneten Substanzen bewußt reaktivieren und so zur Produktion von viralen Partikeln anregen. Eine parallel durchgeführte aggressive antiretrovirale Therapie könnte verhindern, daß sich die neu gebildeten Viren in anderen Zellen einnisten. Jede Vermehrung allerdings birgt das Risiko, daß der Erreger zurückschlägt und die Oberhand gewinnt. Außerdem sind ruhende T-Zellen nicht das einzige Reservoir für HIV: Auch Neuronen im Gehirn beispielsweise könnten dem Virus als lebenslange Basis dienen, während bestimmte ebenfalls befalle-ne Blutkörperchen, die Makrophagen, glücklicherweise verhältnismäßig kurzlebig sind.

Mit den gegenwärtigen Therapieformen dürfte es somit kaum möglich sein, eine HIV-Infektion innerhalb mehrerer Jahre zu heilen. Außerdem müssen die Probleme mit Nebenwirkungen, komplizierten Einnahmeschemata sowie Resistenzen verringert werden. Die Suche nach weiteren Pharmaka ist deshalb in vollem Gang. Zunächst werden sich die Optionen innerhalb der bereits etablierten Wirkstoffklassen erweitern: zum einen durch weitere, eventuell weniger toxische Substanzen, zum anderen durch Präparate, die mehrere der Stoffe in einer Tablette vereinigen oder vielleicht nur eine einmalige tägliche Einnahme verlangen, was die Therapie vereinfachen würde. Und zumindest maßgeschneiderte Protease-Inhibitoren, die sich gegenwärtig in Erprobung befinden, scheinen gegen HIV-Stämme zu wirken, die gegen zugelassene Hemmstoffe des Enzyms bereits resistent sind (Bild 6).



Neue Konzepte


Weitere Ansätze zielen auf ganz andere Mechanismen im Replikationszyklus von HIV. So wird zum Beispiel zur Zeit mit Inhibitoren der Integrase experimentiert, die den Einbau der HIV-DNA in zelluläre Chromosomen verhindern sollen. Außerdem will man das Verpacken der viralen Erbgut-RNA in Partikel stören, indem man funktionell wichtige Zink-Ionen aus Komplexen mit bestimmten HIV-Proteinmolekülen zu verdrängen sucht.

Erforscht werden ferner Wege, die Synthese viraler Schlüsselenzyme in infizierten Zellen zu unterbinden. Theoretisch lassen sich mit gegensinnig orientierten, sogenannten Antisense-DNAs die HIV-Regulatorgene tat und rev gewissermaßen zukleben, deren Proteine wiederum für eine effiziente Herstellung anderer viraler Proteine nötig sind. Bei Rhesusaffen, die mit dem HIV-verwandten Virus SIV infiziert wurden, konnte diese experimentelle Therapie die virale Replikation und den Verlust an T4-Zellen eindämmen.

Zahlreiche Forscher bemühen sich, den Erreger überhaupt am Eintritt in Zellen zu hindern. Wie erwähnt, muß er sich dazu zunächst an ein CD4-Molekül und einen Co-Rezeptor anheften. Hinsichtlich CD4 waren zwar frühere Versuche, das Andockmanöver zu stören, enttäuschend verlaufen, doch haben sich jüngst neue Möglichkeiten aufgetan. (So hat man entdeckt, daß das Ankerprotein von HIV erst kurz vor dem entscheidenden Schritt seine Bindungsstelle freilegt.) Derzeit untersuchen etliche Forschergruppen vor allem Substanzen, die Co-Rezeptoren abschirmen dürften (siehe Spektrum der Wissenschaft, Februar 1998, Seite 38).

Andere konzentrieren sich auf das Immunsystem als Gegenspieler des Virus. Zur Kompensation der Abwehrschwäche versuchen sie, die verbliebenen Immunfunktionen zu stärken. Manche Patienten erhalten niedrigdosiert Interleukin-2, das die Teilung reifer T-Lymphocyten anregt. Außerdem besteht Hoffnung, daß diese gentechnisch hergestellte körpereigene Substanz auch Teilung und Reifung von Blutstammzellen fördert, wobei ein ganzes Spektrum verschiedener Immunzellen entstünde – darunter T-Zellen und antikörper-produzierende Lymphocyten, die HIV erkennen und eliminieren können. Aufwendigere Versuche zur Rekonstruktion des Immunsystems bestünden darin, Patienten Stammzellen zu entnehmen, in Laborkultur zu vermehren und dann wieder per Infusion rückzuführen. Zusätzlich könnte man die Zellen mit einem Gen ausstatten, das sie vor HIV schützt (Bild 7).

Ein denkbarer biologischer Ansatz zur gezielten Vernichtung HIV-infizierter Zellen – diesmal ohne Mitwirkung des Immunsystems – sind gentechnisch veränderte zelltötende Viren ganz anderer Art; sie würden HIV-Proteine auf der Zelloberfläche als Eintrittspforten nutzen und dadurch gesunde Zellen verschonen.

Die therapeutischen Möglichkeiten für HIV-Infizierte werden sich mehr und mehr erweitern, das ist gewiß. Entsprechend werden sich die Behandlungsempfehlungen in ihren Details wohl ab und an ändern – nicht aber in ihren heutigen Grundprinzipien, die auf solider Forschung gründen; solange keine Heilung der HIV-Infektion möglich ist, bietet die Eindämmung der Virusreplikation die besten Chancen, Lebensdauer und Lebensqualität der Patienten zu verbessern.

Daß wir heute über Wissen und Wege verfügen, die Vermehrung des AIDS-Virus zu unterdrücken, grenzt angesichts der düsteren Aussichten noch vor wenigen Jahren fast an Wunder. Die erstaunlichen Fortschritte in der Therapie der HIV-Infektion seit Ende 1995 haben in der Geschichte der Medizin kaum Parallelen – sieht man vielleicht von der Revolution der Antibiotika ab, die vor Jahrzehnten mit der Einführung von Penicillin begann. Noch vor drei Jahren konnten Ärzte wenig mehr als nur die Symptome von AIDS lindern und die Patienten aufs Sterben vorbereiten. Heute können sie ihnen zu leben helfen. Der Kampf gegen HIV ist noch längst nicht gewonnen, wohl aber dürfen die Erfolge der aggressiven antiretroviralen Therapie als kleiner Sieg gelten.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1998, Seite 36
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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  • Infos
Die amerikanischen Richtlinien zur Behandlung Erwachsener, Jugendlicher und Kinder sowie zur Prävention der Mutter-Kind-Übertragung sind unter http://www.hivatis.org/trtgdlns.html oder unter http://www.cdcnac.org im World Wide Web zu finden.

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