Auf den Trichter gekommen - die neue Sicht der Proteinfaltung
Wie vermag eine Aminosäurekette sich gezielt so in Schlaufen zu legen, daß ein definiertes räumliches Gebilde minimaler Energie entsteht? Suchte man die Antwort früher in Faltungswegen und Zwischenprodukten, so vermitteln nun Energielandschaften und Trichter ein tieferes Verständnis dieses wichtigen biologischen Prozesses.
"Jeder glaubt ein experimentelles Ergebnis – außer dem Experimentator selbst, und niemand traut einer theoretischen Schlußfolgerung – außer dem, der sie abgeleitet hat." Derartige Aperçus sind am Rande fast jeder Konferenz zu hören, bei der es um die Faltung der Proteine geht – also darum, wie die linearen Aminosäureketten, die bei der Proteinsynthese in der Zelle zunächst anfallen, zum biologisch brauchbaren, räumlich geordneten Endprodukt zusammengelegt werden. Diskussionen zwischen eher selbstkritischen Experimentatoren und nur zu leicht vom Boden der Tatsachen abhebenden Theoretikern haben in diesem Forschungsgebiet eine lange Tradition – ja sie reichen zurück bis zu seinem Beginn, an dem ein einfaches Experiment und eine theoretische Ableitung standen, deren Ergebnisse einander eklatant widersprachen.
Das Experiment führte der amerikanische Proteinbiochemiker Christian B. Anfinsen (1916 bis 1995, Nobelpreis für Chemie 1972) Anfang der sechziger Jahre durch. Bei Untersuchungen zur Struktur der Ribonuclease A löste er in einer Probe des Enzyms durch Zugabe von Harnstoff die Raumstruktur auf und spaltete durch Reduktion die vier Disulfidbrücken, die den Aminosäurestrang an bestimmten Stellen wie Klammern zusammenhielten. Anschließend versuchte er, das denaturierte Molekül wieder in den biologisch aktiven Ursprungszustand zu bringen, es also zurückzufalten, wie man heute sagt. Zu seiner Überraschung gelang dies ziemlich leicht; man mußte nur den Harnstoff durch Dialyse auswaschen und den Zutritt von Luftsauerstoff ermöglichen, der als Oxidationsmittel die Disulfidbrücken erneut knüpfte. Demnach sollte die gesamte für die Faltung benötigte Information implizit in der Abfolge der Aminosäurebausteine (Sequenz) der Proteine enthalten sein.
Ungeachtet dieses Befundes erklärte der amerikanische Biologe Cyrus Levinthal (1922 bis 1990) Ende der sechziger Jahre, daß die Rückfaltung eines Proteins im Reagenzglas (in vitro) eigentlich nicht funktionieren dürfe. Er hatte abgeschätzt, wieviele verschiedene Konformationen (räumliche Anordnungen) eine Proteinkette annehmen kann und wieviel Zeit sie dazu braucht, zumindest einen großen Teil davon auszuprobieren, ehe sie die richtige gefunden hat. Demnach würde die Faltung eines mittelgroßen Proteins eine Zeitspanne benötigen, die das Alter des Universums überträfe.
Wie ließ sich dieses Levinthal-Paradoxon lösen? Sein Urheber selbst schlug einen Ausweg vor. Wenn das Protein bei der Faltung eine bestimmte Folge von Zwischenstationen durchliefe, müßte es nicht mehr ziellos im schier endlosen Konformationsraum umherirren und fände schnell den Weg zum richtigen Endprodukt. Entsprechend machten sich die Faltungsforscher – eine schnell wachsende Gemeinde, die sich bei der ersten Faltungs-Konferenz 1980 in Regensburg auch einen institutionellen Rahmen gab – in den siebziger und achtziger Jahren an das Aufspüren der Zwischenstationen (siehe "Die Faltung von Proteinmolekülen" von Frederic M. Richards, Spektrum der Wissenschaft, März 1991, Seite 72). Doch obwohl sie fündig wurden und die verschiedensten partiell zusammengelegten Strukturen identifizierten, hatte auch die Idee mit den Faltungswegen ein konzeptionelles Manko: Die Existenz einer einheitlichen Route setzt einen definierten Startpunkt voraus; ihn unter den Abermillionen zufälliger Anordnungen, in denen eine denaturierte Aminosäurekette vorliegen kann, zu finden, läuft auf eine kaum entschärfte Variante des Levinthal-Paradoxons hinaus.
Dies ist einer der Gründe, warum sich inzwischen eine neue Sichtweise der Proteinfaltung durchzusetzen beginnt. Statt von Zuständen ist jetzt von Ensembles die Rede, und statt einer Faltungsroute beschreibt man vieldimensionale Energielandschaften, in denen das Protein die Sohle des tiefsten Tals (also den Zustand niedrigster Energie) erreichen muß – wie eine Kugel, die bergab rollt, während sie immer wieder zufällige Stöße erfährt.
Um allein die Konformation des Peptidrückgrats eines Proteins zu beschreiben, benötigt man zwei Winkel pro Aminosäure. Jedes Kettenglied steuert zum Rückgrat nämlich drei Atome bei: den Amidstickstoff, den alpha-Kohlenstoff, an dem die Seitenkette hängt, und den Carboxy-Kohlenstoff. Somit gibt es drei Bindungen pro Aminosäure, wobei die Peptidbindung (C-N) starr ist, während die beiden anderen als Drehachsen für Konformationsänderungen dienen können. In schematischen Darstellungen reduziert man die Zahl der Parameter auf zwei unabhängige Variable in der x- und y-Achse eines kartesischen Koordinatensystems, während die zugehörige freie Energie auf der z-Achse dargestellt wird. Dabei ergeben sich auch graphisch ansprechende Potentiallandschaften, an denen sich allgemeine Prinzipien veranschaulichen lassen (Bild).
Hintergrund dieser neuen Sichtweise sind experimentelle wie theoretische Fortschritte, die seit Anfang der neunziger Jahre gemacht wurden. Experimente hatten zum Beispiel ergeben, daß selbst bei relativ einfachen, kleinen Proteinen wie dem Lysozym aus Hühnereiweiß viele parallele Faltungswege existieren. Mit verbesserten Methoden gelang es, sie mit höherer zeitlicher Auflösung zu verfolgen und die dabei auftretenden Strukturen detaillierter zu ermitteln. Dabei zeigte sich, daß der erste Schritt nicht zu einem definierten Zwischenzustand, sondern zu einem Ensemble diverser kompakter Strukturen führt.
Peter Wolynes und seine Mitarbeiter an der Universität von Illinois in Urbana-Champaign beschrieben 1995 erstmals modellhafte Energielandschaften und Faltungstrichter, die auf experimentellen Ergebnissen beruhten. Die Theoretiker Ken Dill und Hue Sun Chan von der Universität von Kalifornien in San Francisco konnten schließlich mit Hilfe einfacher Computermodelle, bei denen sie Aminosäurestränge näherungsweise durch Perlenketten wiedergaben, einige typische Merkmale der Proteinfaltung simulieren – bis hin zur Wechselwirkung mit Faltungshelferproteinen, den molekularen Chaperonen (siehe auch Spektrum der Wissenschaft, April 1995, Seite 16).
Die neue Darstellungsform macht unmittelbar anschaulich, worin die Irrtümer und Unzulänglichkeiten der klassischen Vorstellungen bestanden. So lag dem Levinthal-Paradoxon die Annahme zugrunde, die Aminosäurekette müsse in einer endlosen Ebene von gleichwertigen Zuständen zufällig auf das eine Loch stoßen, das den Zustand niedrigster Energie und damit ihre native Struktur verkörpert (a). Bei der Vorstellung eines Faltungswegs durchkreuzt eine Flußrinne die flache Landschaft und kanalisiert die Bewegung zu dem richtigen Loch hin (b).
In einem Faltungstrichter dagegen, der die einfachste Version der Energielandschaft nach heutiger Sicht darstellt, führt von jedem Punkt aus ein abschüssiger Weg hinab in das Loch im Zentrum (d); wie eine Kugel an beliebiger Stellte am Trichterrand braucht das Protein unabhängig von seiner Ausgangskonformation nur dem Potentialgefälle zu folgen, um ins Minimum zu gelangen.
Allerdings dürfte diese einfache Situation nur äußerst selten vorliegen – so etwa beim Kälteschockprotein CspB aus Bacillus subtilis, das sich schnell (innerhalb weniger Millisekunden) und unproblematisch faltet. Der nächstkompliziertere Fall ist, daß die Potentiallandschaft abseits des Haupttrichters eine weitere, flachere Rinne enthält (e). Je nach der Ausgangskonformation landen einige Moleküle dann zunächst in diesem lokalen Minimum, aus dem sie erst nach geraumer Zeit mittels thermischer Stöße wieder freikommen. Weil sie dadurch später als das Gros die korrekte räumliche Struktur erreichen, würde man bei Untersuchungen der Rückfaltungsgeschwindigkeit eine Überlagerung zwei-er verschieden schneller Vorgänge feststellen.
Bei den meisten Proteinen dürfte die Potentialfläche freilich noch viel unregelmäßiger geformt sein und einer gewellten Landschaft mit Senken und Trögen ähneln (f). Dann führen zahlreiche mehr oder weniger direkte Wege unterschiedlich schnell in die tiefste Mulde. Es gibt Engpässe und Seitentröge, von denen manche so tief sein können, daß ein Teil der Moleküle auf Dauer darin hängenbleibt. Wegen solcher Verluste lassen sich viele Proteine in vitro denn auch nur mit geringer Ausbeute zurückfalten.
Im ungünstigsten Fall enthält die Energielandschaft in einer Region ein weitgehend flaches Plateau (c). Dort ähnelt die Situation dann der von Levinthal postulierten: Die Faltungsgeschwindigkeit wird von dem ziellosen Umherdriften des Proteins zwischen energetisch annähernd gleichwertigen Konformationen bestimmt.
Auch die Rolle der Chaperone erscheint nunmehr in einem neuen Licht. Bisher wunderte man sich, daß die Faltungshelferproteine offenbar keine bestimmten Strukturmerkmale erkennen, sondern ziemlich wahllos mit teilweise oder völlig entfalteten Aminosäureketten in Wechselwirkung treten. Dies paßte schlecht zu der Vorstellung von wohldefinierten Zwischenzuständen. Auf einer Energielandschaft macht derlei Flexibilität jedoch Sinn: Statt die Proteine gezielt in eine bestimmte Form zu bringen, helfen ihnen die Chaperone offenbar nur unspezifisch, sich aus Nebenmulden zu befreien oder Pässe zu überwinden.
In einem einfachen Gittermodell konnten Chan und Dill bereits demonstrieren, wie diese Art der Hilfestellung funktioniert ("Proteins: Structure, Func-tion and Genetics", Band 24, Seite 345). Als Chaperon fungierte dabei schlicht ein proteinbindender Kasten. Das untersuchte Modellprotein war nur zu solchen Umlagerungen fähig, bei denen die Zahl der energetisch günstigen intramolekularen Wechselwirkungen nicht abnahm. Indem der Kasten vorübergehende zusätzliche Bindungsmöglichkeiten bot, ermöglichte er auch energetisch verbotene Strukturänderungen, die zum Verlassen einer Nebenmulde nötig waren.
In welche Richtung wird das neue Paradigma die Faltungsforscher führen? Zwar verliert die Suche nach Zwischenzuständen damit an Bedeutung. Die räumliche und zeitliche Auflösung bei Faltungsstudien zu verbessern sowie den entfalteten Zustand genauer zu charakterisieren bleiben jedoch wichtige Aufgaben. Und nach wie vor ist die große Herausforderung, die native Struktur eines Proteins anhand der Sequenz vorherzusagen und die Faltung in der Zelle (in vivo) zu beschreiben.
Dabei macht die neue Sichtweise die Schwierigkeit dieser Aufgabe überhaupt erst richtig deutlich. Potentiallandschaften wie die beschriebenen sind aus anderen Wissenschaftsbereichen wohlbekannt, und ihr globales Minimum zu finden ist der typische Fall einer komplizierten Optimierungsaufgabe, deren mathematisch exakte Lösung schon bei relativ einfachen Situationen an dem erforderlichen Rechenaufwand scheitert. Zwar gibt es handhabbare Näherungsverfahren; sie liefern aber in der Regel nur suboptimale Ergebnisse. Sie helfen beim Faltungsproblem kaum weiter, da eine energetisch vorteilhafte Struktur zu finden nicht genügt – es muß schon wirklich die günstigste sein.
In gewisser Weise ist das Levinthal-Paradoxon damit wiederum durch ein neues ersetzt. Wie bewältigt die Natur eine Optimierungsaufgabe, für welche die Mathematiker bisher kein praktikables Lösungsverfahren gefunden haben? Die Antwort dürfte nicht nur Biologen interessieren.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1997, Seite 16
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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