Australiens Polar-Dinosaurier
Der kreidezeitliche Lebensraum dieser Echsen lag noch innerhalb des Südpolarkreises. Angepaßt an ein gemäßigtes Klima und teils mit hervorragender Nachtsicht ausgestattet, könnten sie – statt der Polarnacht zu entfliehen – auch überwintert haben.
In der unteren Kreide, vor mehr als 100 Millionen Jahren, war Australien noch der Antarktis vorgelagert, die damals eine andere Lage zum Südpol hatte. Seine Südostecke – das jetzige Bundesland Victoria – befand sich weit innerhalb des südlichen Polarkreises (Bild 2 links). Das Klima dort glich keinem heutigen irgendwo auf der Erde: Winters herrschte zwar ein bis zwei Monate lang Polarnacht, doch lag die Durchschnittstemperatur – obgleich niedrig – offenbar noch in der für die gemäßigte Zone typischen Spanne.
In dieser ungewöhnlichen Umwelt lebten noch etliche Dinosaurier-Linien, die auf anderen Kontinenten bereits ausgestorben waren. Und zumindest bei einem Mitglied einer Familie, die auch in anderen Regionen noch existierte, haben sich Anpassungen an Kälte und Dunkelheit entwickelt, die an sich schon interessant sind, aber auch eine Aussage zu einem vieldiskutierten Thema erlauben: Wenn die letzten Vertreter der das Erdmittelalter beherrschenden Dinosaurier – wie zahlreiche Paläontologen meinen – tatsächlich allesamt infolge einer weltweiten Abkühlung am Ende der Kreidezeit (vor rund 65 Millionen Jahren) zugrunde gegangen sind, dann dürften die australischen Arten, so sie bis dahin Bestand hatten, höchstwahrscheinlich am längsten von allen überlebt haben.
Vergessene Funde
Bereits seit mehr als einem Jahrhundert wird die kreidezeitliche Pflanzenwelt Südostaustraliens erforscht, die Tierwelt jedoch blieb bis vor einigen Jahren weitgehend dem Zugriff verborgen. Um 1900 hatte zwar der Geologe William Hamilton Ferguson an einer Stelle zwei Fossilien entdeckt, die sich später für die paläontologische Arbeit als bedeutsam erwiesen – die Zahnplatte eines Lungenfisches und die Klaue eines Theropoden, eines fleischfressenden Raubtierfuß-Dinosauriers, welcher der Gattung Megalosaurus zugeordnet wurde. Aber da keine weiteren Funde hinzukamen, gerieten diese Stücke in einer Vitrine im Museum von Victoria in Melbourne in Vergessenheit.
Erst sieben Jahrzehnte später, 1978, kam mehr Forschungsmaterial zutage. Tim F. Flannery und John A. Long, zwei Doktoranden von der Monash-Universität in Clayton, stießen in der Nähe von Fergusons Fundstelle – nur eineinhalb Stunden Autofahrt südostwärts von Melbourne – auf die ersten Exemplare einer Ansammlung von Dinosaurierknochen, die in hartem Sand- und Schiefergestein aus der unteren Kreide (zwischen 144 und 98 Millionen Jahren vor der Gegenwart) eingebettet waren.
Daraufhin wurde die weitere Umgebung, aber auch der Küstenbereich südwestlich von Melbourne, abgesucht. Im Jahre 1980 entdeckten wir westlich von Kap Otway ein reiches Lager. Dieser Ecke gab die Regierung von Victoria auf unsere Anregung hin die offizielle Bezeichnung Dinosaurier-Bucht (Dinosaur Cove; Bild 2 rechts). Dort verbringen wir seither jedes Jahr drei Monate, um mit Unterstützung durch freiwillige Helfer sowie durch die amerikanische Nationale Geographische Gesellschaft, den Australischen Forschungsrat und Atlas Copco (einen Produzenten von Bergbauausrüstungen) meißelnd, hämmernd, bohrend und gelegentlich auch sprengend Tunnel in die fossilführenden Schichten zu treiben (Bild 3).
Die Sedimente der Dinosaurier-Bucht und anderer Stätten von ähnlichem Charakter sind in der unteren Kreide entstanden, als gewaltige saisonale Hochwasser weite Flußniederungen überfluteten, die dort angesammelten Knochen und Pflanzenreste mit sich schwemmten und schließlich am Grunde seichter Flußbetten ablagerten. Die Niederungen erstreckten sich in dem Rift, das sich zwischen den auseinanderdriftenden Landmassen Australiens und der Antarktis beim Zerbrechen des südlichen Großkontinents Gondwana auftat. Denkbar ist, daß alljährlich im Südfrühling Schmelzwasser von den Hängen dieses Senkungsgrabens strömte.
Die fossilführenden Schichten sind einzig entlang der Südküste Victorias aufgeschlossen, weil dort die Erosion der anbrandenden Wellen sie freizulegen vermochte. Im Landesinneren sind nur zwei fossile Lagerstätten aus derselben Erdepoche bekannt. Eine ist deswegen bedeutsam, weil ihre Sedimente sich unter weit ruhigeren Bedingungen am Grunde eines damaligen Sees abgesetzt hatten – dort wurden einige ungewöhnlich gut erhaltene Stücke geborgen.
Allerdings beruhen unsere Kenntnisse der Dinosaurier Südostaustraliens lediglich auf 5000 einzelnen Knochen und zwei teilweise erhaltenen Skeletten, und nicht mehr als ein paar Hundert dieser Relikte lassen sich einer bestimmten Art oder einer Gattung zuordnen. Die geringe Zahl wird aber durch ihren wissenschaftlichen Wert wettgemacht.
Das Klima
Entscheidend für die Interpretation der Funde, insbesondere für Rückschlüsse auf die Lebensumstände der Tiere, ist das Abschätzen der Temperaturverhältnisse. Zwei Methoden wurden dafür angewendet.
Robert T. Gregory von der Southern-Methodist-Universität in Dallas (Texas) und seine Mitarbeiter leiteten das australische Paläoklima aus dem Verhältnis der im Gestein enthaltenen Sauerstoff-Isotope 18 und 16 ab. Demzufolge lag die mittlere Jahrestemperatur zu Lebzeiten der Polar-Dinosaurier vermutlich um den Gefrierpunkt (wie heute beispielsweise in der kanadischen Hudson-Bay oder im nördlichen Sibirien), sie könnte aber auch immerhin acht Grad Celsius (wie etwa in Toronto oder St. Petersburg) betragen haben.
Auf ein etwas höheres Jahresmittel von 10 Grad Celsius kommen Robert A. Spicer von der Universität Oxford (England) und Judith Totman Parrish von der Universität von Arizona in Tucson. Sie erschließen die Temperatur aus der Art der damaligen Pflanzenwelt. Ihren Untersuchungen zufolge wuchsen innerhalb des Polarkreises in Australien Nadelbäume, Gingkos, Farne, Palmfarne (Cycadeen), Laub- und Lebermoose sowie Schachtelhalme; aber es gab nur einige wenige Bedecktsamer (Angiospermen), wie winzige Spuren von Pollen verraten. Diese höheren Blütenpflanzen, die heute ungefähr zwei Drittel aller existierenden Pflanzenarten stellen, begannen sich zu dieser Zeit gerade in neue ökologische Nischen auszubreiten. Möglicherweise nutzten sie dazu krautige Ökosysteme in den Rifts, die sich beim Auseinanderbrechen des Superkontinents bildeten.
Immergrüne Pflanzen, die herbivoren Dinosauriern zu jeder Jahreszeit Nahrung boten, hatten eine verdickte Außenschicht (Cuticula) und andere strukturelle Merkmale, die als Anpassungen an Kälte oder – möglicherweise frostbedingte – Trockenheit gelten. Einen weiteren Fingerzeig geben laubabwerfende Pflanzen: Ihre Blätter sind anscheinend alle auf einmal abgefallen, womöglich ausgelöst durch Dunkelheit oder Kälte. Trockenheit dagegen war offenbar kein konstanter Klimafaktor. Die Art der Sedimente und der Reichtum an Farnen und Moosen sprechen eher dafür, daß es – mit Ausnahme vielleicht der Südwinter – das ganze Jahr über feucht gewesen war.
Falls der höhere Schätzwert für die mittlere Temperatur stimmt, hätte es in dieser Region Australiens sowohl ein gemäßigtes Klima als auch alljährlich eine Periode anhaltender Dunkelheit gegeben – eine Kombination wie heute nirgends mehr auf der Erde. Die Polarnacht dauerte sechs Wochen bis viereinhalb Monate, je nachdem auf welcher Breite die Gebiete damals wirklich lagen. Da dann die Tiefsttemperatur deutlich unter den Mittelwert gesunken wäre, müßten die meisten der fossil überlieferten Wirbeltiere recht nahe an ihrer thermischen Toleranzgrenze gelebt haben. Lungenfische beispielsweise können sich heute in Wasser von weniger als 10 Grad Celsius nicht mehr fortpflanzen.
Trifft jedoch der niedrigere Schätzwert zu, so erhebt sich das schwierig zu lösende wissenschaftliche Problem, wie diese Gemeinschaft von Lebewesen überhaupt zu bestehen vermochte. Ob diese Frage sich aber wirklich stellt, sollen feinere Abschätzungen der mittleren Jahrestemperatur zeigen. Gegenwärtig ist ein Team von Wissenschaftlern verschiedener Fachrichtungen dabei, botanisches, geochemisches und anderes Indizienmaterial daraufhin zu sichten und zu vergleichen.
Refugium für Relikte
Was die Tierwelt anbelangt, so war sie in keiner Hinsicht so eigentümlich für die Region wie heute die Beuteltiere. Zwar kamen die gefundenen Arten und Gattungen nur lokal vor, gehörten aber weltweit verbreiteten Familien an. Ihre speziellen Anpassungen allerdings waren verblüffend, ebenso der Umstand, daß einige noch zu Zeiten lebten, in denen ihre Familien andernorts ausgestorben waren.
Zu solchen gleichsam anachronistischen Reliktformen gehören die labyrinthodonten Amphibien, Vorfahren der modernen Lurche und Kriechtiere. Die meisten Paläontologen hatten geglaubt, diese Tiere mit charakteristisch gefälteltem Dentin ihrer Zähne wären vor rund 160 Millionen Jahren im Jura ausgestorben. In den vergangenen 15 Jahren haben jedoch Michael Cleeland und Lesley Kool von der Monash-Universität in Sedimenten aus der unteren Kreide von Victoria drei Kiefer gefunden, von denen zwei ganz unverwechselbar das namensgebende Merkmal dieser Tiergruppe aufweisen. Somit lebte zumindest eine Art noch vor 115 Millionen Jahren in der Polarregion Australiens, also sehr viel später, als die Gruppe anderswo ausgestorben war.
Wie hatte sie das geschafft? Wir vermuten, daß die Tiere aufgrund der kal-ten Witterungsperioden keinem Konkurrenzdruck durch Krokodile ausgesetzt waren. Diese waren vermutlich schlecht an die Bedingungen angepaßt, wie sie in Südostaustralien herrschten, bis sich das Klima im Laufe der letzten fünf Millionen Jahre der unteren Kreide – vor 103 bis vor 98 Millionen Jahren – erwärmte. Heutige Krokodile leben in Wasser, das nicht kälter als 10 Grad Celsius ist, während einige moderne Frösche und Salamander noch im Schmelzwasser von Schnee aktiv sein können.
Ein weiterer Anachronismus war ein Theropode der Gattung Allosaurus. Anderswo wurde dieser fleischfressende Dinosaurier bis zu fünf Meter hoch, in Südostaustralien hingegen erreichte er kaum mehr als Mannshöhe (Bild 1, zweiter von links). Die Zwergform ist der bisher am längsten überlebende Vertreter der Gattung. Unklar bleibt, ob sie dies ebenfalls einer ökologischen Nische verdankte, die ihr das kalte Klima möglicherweise eröffnet hatte. Die Entdeckung von Jungtieren (allerdings keiner Eierschalen) läßt darauf schließen, daß diese Dinosaurier die Region nicht bloß gelegentlich aufsuchten, sondern die meiste Zeit des Jahres in Polnähe verbrachten und dort während der Polarsommer ihre Jungen aufzogen.
Wurzeln auf Gondwana
Viele australische Dinosaurier waren freilich keineswegs auf dem absterbenden Ast, einige standen sogar erst ganz am Anfang ihrer Karriere. Zumindest zwei, vielleicht auch vier Familien sind mit Formen vertreten, die entweder die ältesten ihrer Gruppe darstellen oder zumindest zu den ältesten zählen.
Ein Beispiel sind die Ornithomimosaurier, Fleischfresser von Größe und Statur der heutigen Strauße; lediglich eine Art aus dem oberen Jura von Ostafrika ist noch älter als die australische Form mit ihren offenkundig primitiven Merkmalen. Ihre langen, schlanken Hinterbeine machten sie zu den Sprintern unter den Dinosauriern – fähig, Feinden zu entgehen und Beutetiere zu hetzen (Bild 1 rechts). Die Ornithomimosaurier entstanden vermutlich in Gondwana, dem südlichen Großkontinent, und breiteten sich nach Norden aus; in der spätkreidezeitlichen Tierwelt von Nordamerika und Eurasien waren sie weithin erfolgreich vertreten.
Zwei sehr kleine Theropoden konnten nicht identifiziert werden. Einer scheint aber einem eierfressenden Oviraptosaurier zu ähneln, der bisher ausschließlich aus jüngeren kreidezeitlichen Gesteinen von Nordamerika und Asien bekannt war. Die Gruppe dürfte ebenfalls ihren Ursprung in Gondwana gehabt haben.
Eine weitere fossil vertretene Gruppe gehört zu den Neoceratopsiden, horntragenden Dinosauriern. Die Identifizierung ist vorläufig, da sie gerade auf zwei Ellen (Vorderarmknochen) basiert; aber die Ähnlichkeit mit Leptoceratops, einem Weidegänger von der Größe eines Schafs, ist frappierend. Die bisher ältesten Überreste der Neoceratopsiden stammten alle aus der oberen Kreide und – bis auf ein paar Knochen aus Argentinien – von der nördlichen Halbkugel. Auch diese Dinosaurier-Familie ist möglicherweise einst auf dem südlichen Großkontinent entstanden.
Spezielle Anpassungen
In der unteren Kreide fächerten sich zudem Formen in Australien auf, die in anderen Gegenden bereits ihre Blüte erlebten. Die darin weitaus erfolgreichste Gruppe stellten die hypsilophodontiden Dinosaurier. Sie waren meist kaum größer als ein Huhn, konnten auf langen Hinterläufen schnell rennen, hatten kleine, aber gut entwickelte Vordergliedmaßen und einen starken Schwanz. Da sie sich zudem überwiegend von Pflanzen ernährten, glichen sie in Gestalt und ökologischer Rolle heutigen Wallabys, kleinen Känguruhs.
Die Familie Hypsilophodontidae war vom mittleren Jura bis zur oberen Kreide weltweit verbreitet. Am häufigsten kommen Fossilien von ihnen allerdings in den Sedimentgesteinen von Viktoria vor. Hier stellen sie nicht nur die meisten der Dinosaurier-Überreste, sondern sind auch – je nachdem welche taxonomischen Kriterien man anwendet – mit vier bis fünf Gattungen und durch fünf bis sechs Arten vertreten. Andere Gegenden, darunter einige mit weit mehr verschiedenen Dinosaurier-Arten, beherbergten allenfalls drei Arten von Hypsilophodontiden gleichzeitig. Irgend etwas muß die Auffächerung dieser Gruppe im polaren Australien begünstigt haben.
Zumindest eine der Arten dürfte auf besonders faszinierende Weise den dortigen Verhältnissen angepaßt gewesen sein: Leaellynasaura amicagraphica (Bild 1, links außen), benannt nach unserer Tochter, einer Gönnerin des Museums von Victoria sowie der Nationalen Geographischen Gesellschaft. Das Gehirn, das indirekt als natürliche Ausfüllung eines Schädels mit später verhärtetem Schlamm hervorragend überliefert ist, war für einen Dinosaurier im Verhältnis zum Körper ungewöhnlich groß (Bild 4). Überdies hatte es die relativ größten Sehlappen, die bei einem Hypsilophodontiden belegt sind.
Unserer Hypothese zufolge erhöhte sich dadurch das Sehvermögen bei Dunkelheit, was die Nahrungssuche während der langen Wintermonate erleichterte. Grundsätzlich bestand kein Mangel an Nahrung für Tiere mit gutem Dämmerungssehen: Pflanzenfresser hätten sich von immergrünen Gewächsen und herabgefallenem Laub, Fleischfresser von erbeuteten Pflanzenfressern ernähren können.
Diese Hypothese erklärt auch, warum eben diese Dinosaurier-Gruppe in dem polaren Lebensraum eine derart beherrschende Stellung zu erlangen vermochte. Alle Hypsilophodontiden, gleich wo immer auf der Erde, hatten große Augen und damit vermutlich ein hervorragendes Sehvermögen. Das könnte ihnen auch dazu verholfen haben, im polaren Australien überhaupt erst einmal Fuß zu fassen. Sobald das geschehen war, könnte der Konkurrenzdruck untereinander in dieser geschützten Enklave die Bildung verschiedener Arten und Gattungen gefördert haben, deren Vertreter vielleicht alle mit übergroßen Sehlappen ausgestattet waren.
Falls die Tiere nachts auf Nahrungssuche gingen, müssen sie bei Temperaturen um den Gefrierpunkt oder darunter noch aktiv genug gewesen sein. Dies bringt kein heutiges Reptil fertig, selbst die kältetolerante, auf Neuseeland lebende Brückenechse nicht; sie vermag zwar noch bei fünf Grad Celsius aktiv zu bleiben, muß sich aber zwischendurch sonnen können. Das war Leaellynasaura nicht vergönnt. Sie hätte den Winter nur durch Aufrechterhalten einer konstanten Körpertemperatur und durch häufige Nahrungsaufnahme überleben können, ähnlich einem Vogel.
Unter den Fossilien sind auch Flugsaurier (Pterosauria) und Panzerdinosaurier (Ankylosauria) vertreten, jedoch mit so spärlichen und bruchstückhaften Überresten, daß sich wenig über die Lebensweise der Tiere in einer solchen Umwelt herauslesen läßt. In dieser Hinsicht aufschlußreicher sind einige wenige Zähne von Plesiosauriern. Die langhalsigen Schwanenhalsechsen – wie die Flugsaurier keine Dinosaurier – hatten zu Flossen umgewandelte Extremitäten. Sie waren ansonsten in den Küstenregionen der erdmittelalterlichen Ozeane verbreitet, doch hier – in dem Tal zwischen Australien und der Antarktis – bewohnten sie Binnengewässer. Sie erinnern somit an den Ganges-Delphin, einer der wenigen Wale, die im Süßwasser leben.
Dominanz der Kleinen
Als einzige große Gruppe fehlen in unserem Fundmaterial Elefantenfußsaurier (Sauropoda). Diese Riesen, die gemeinhin durch Apatosaurus – besser bekannt als Brontosaurus – vertraut sind, lebten damals in niederen Breiten Australiens. Weiter nach Süden – zu höheren Breiten – hin sind bislang keinerlei Überreste gefunden worden; sie kommen überhaupt an keiner der inzwischen weltweit neun kreidezeitlichen Dinosaurier-Fundstätten vor, die damals innerhalb des südlichen oder nördlichen Polarkreises lagen. Der einzige bislang entdeckte Polar-Sauropode, Rhoetosaurus, ist sehr viel älter; er stammt aus dem unteren Jura von Nordostaustralien.
Ob diese großen Dinosaurier im Australien der Kreidezeit wirklich auf die niederen Breiten beschränkt waren, wie es den Anschein hat, ist unklar; vielleicht sind sie gar nicht fossil erhalten, oder wir haben nur nicht an den richtigen Stellen gesucht. Denn die Fluten, die über die Ufer der angeschwollenen Flüsse traten, können zwar kleine und mittelgroße Knochen mit sich gerissen, große wie die von Sauropoden aber an Ort und Stelle belassen haben – die zusammengespülten Fundstücke konzentrierten sich in den flachen Betten von Bächen und Flüßchen, die nicht mehr als 5 bis 10 Meter breit und 20 bis 30 Zentimeter tief gewesen waren.
Vermutlich hat es jedoch in diesen polaren Lebensräumen einen evolutiven Trend zu kleinen Körpergrößen gegeben. Keiner der Hypsilophodontiden hätte einen Menschen überragt, die meisten würden uns sogar nur bis zum Knie gereicht haben. Der Zwerg-Allosaurus entspricht den kleinsten Vertretern seiner Gattung, die wir in nordamerikanischen Sammlungen untersucht haben. Der Ornithomimosaurier ist auch nicht gerade beeindruckend, und der frühe Ceratopside sowie der Ankylosaurier sind nicht größer als ein Schaf. Lediglich ein einziges Bruchstück einer Klaue zeugt von einer vermutlich größeren Tierform – einem Fleischfresser, offenbar ähnlich dem in England gefundenen Baryonyx, der bis zu acht Meter lang gewesen sein kann.
Eine solche Dominanz der Kleinen widerspricht der Größen- beziehungsweise der Proportionsregel, die der deutsche Anatom und Physiologe Carl Bergmann und der amerikanische Zoologe Joel Asaph Allen im 19. Jahrhundert aufgestellt hatten. Sie besagen, daß verwandte Arten oder Rassen warmblütiger Tiere mit sinkender Durchschnittstemperatur ihres Lebensraumes dazu neigen, größer und kompakter zu werden, weil sie dann weniger Wärme verlieren. Der Eisfuchs der arktischen Zone ist beispielsweise gedrungen, der Wüstenfuchs der subtropischen Zonen klein und grazil mit großen Ohren.
Aber auch die Ausdehnung des Gebiets, in dem eine Population lebt, spielt mit. Individuen auf Inseln sind oft kleiner als Rassen auf dem Festland. So hat man Überreste von Zwergelefanten auf Mittelmeerinseln gefunden, die bereits zu Lebzeiten der Tiere wasserumgeben waren, sowie vor kurzem Zwergmammuts in 4000 Jahren alten Ablagerungen auf Inseln vor der Nordküste Sibiriens. Zwergwuchs ist möglicherweise eine Reaktion auf einen Selektionsdruck: In einem abgeschotteten Gebiet mit begrenzten Ressourcen ist eine Population kleinwüchsiger Formen im Vorteil; davon können dann mehr Individuen existieren als von einer großwüchsigen Form, so daß sich ein ausreichend vielfältiger Genbestand erhält.
Dieser Effekt ist auch auf Halbinseln beobachtet worden – und der Südosten Australiens war einst eine derartige Enklave. Die Dinosaurier waren dort praktisch am Ende der Welt gefangen: Ein riesiges Binnenmeer versperrte den direkten Weg nach Norden; sie hätten Hunderte von Kilometern nach Westen ausholen müssen, um es zu umgehen. Lohn der Mühe wäre höchstens eine Stunde Sonne im Winter gewesen – solch kleine Tiere, wie sie in Südostaustralien lebten, hätten also durch die Wanderung mehr Energie verbraucht als durch zusätzliche Wärme gewonnen.
Leichter hatten es die Dinosaurier der einzigen anderen reichen polaren Fundstätte. Sie liegt auf der Nordhalbkugel in Alaska, und von dort gab es damals einen Nord-Süd-Korridor, durch den die Tiere ohne weiteres in wärmere Gegenden hätten ziehen können. Bemerkenswerterweise waren sie groß – zumindest von gleicher Statur wie Karibu, Weißschwanzgnu und andere heute leben- den Tiere, die weite Wanderzüge unternehmen.
Hätte ein künstlicher Winter, wie er als Folge einer Katastrophe an der Wende von der Kreidezeit zum Tertiär vermutet wird, so hervorragend an Kälte und Dunkelheit angepaßte Tiere, wie wir sie aus der unteren Kreide von Südostaustralien kennen, überhaupt zum Aussterben bringen können? Damals soll – vielleicht durch eine Kollision mit einem Kometen oder Asteroiden oder durch eine Serie von Vulkanausbrüchen – eine gewaltige Staubmenge in die Atmosphäre gelangt sein, die praktisch kein Sonnenlicht mehr durchließ; die meisten Tiere – so die weitere Hypothese – erfroren oder verhungerten. Ein solcher künstlicher Winter müßte, wie wir meinen, sicherlich mehr als nur einige wenige Monate gedauert haben, sonst hätten zumindest ein paar der Polar-Dinosaurier die Katastrophe überlebt. Freilich ist auch möglich, daß diese südaustralischen Echsen bereits vor Ende der Kreidezeit aus irgendwelchen anderen Gründen dahingeschwunden waren; die beschriebenen Fundstätten stammen ja aus der ersten Hälfte dieser Periode.
Sir Arthur Conan Doyle (1859 bis 1930), Autor der Sherlock-Holmes-Geschichten, träumte einst von einer Hochebene in Südamerika, auf der die Zeit stehengeblieben war und noch Dinosaurier herrschten. Die Meldungen zu Beginn dieses Jahres, daß Zwergmammuts auf Inseln vor der sibirischen Küste bis in frühgeschichtliche Zeit überlebt haben, geben solchen Spekulationen neue Nahrung. Falls Dinosaurier einen ähnlichen Zufluchtsort gefunden hätten, an dem sie alle übrigen Vertreter ihrer Gruppe eine gewisse Zeit überlebten, dürfte unserer Meinung nach das frühere polare Gondwana einschließlich Südostaustraliens ein geeigneter Ort sein, um nach ihren Relikten zu suchen.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1993, Seite 56
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