Bilder, die sich selber malen
Der Künstler schwingt nicht selbst den Pinsel, sondern gestaltet das Bild durch indirekte Einflussnahme; die Ausformung im Einzelnen übernimmt ein nichtlinearer physikalischer Prozess.
Als der Chemiker Friedlieb Ferdinand Runge (1794–1867) Chemikalienlösungen auf saugfähiges Papier tropfte und die faszinierenden Form- und Farbverläufe beobachtete, die sich bei der Ausdehnung der Flüssigkeit einstellten, glaubte er allen Ernstes eine bisher unbekannte Kraft entdeckt zu haben. Dass bizarre, aber regelmäßige Konturen und leuchtende Farben vor den Augen des Betrachters entstehen – ohne sichtbare Ursache wie von Geisterhand gemalt –, schrieb er einem "Bildungstrieb" zu, den er als "das Vorbild der in den Pflanzen und Tieren tätigen Lebenskraft" ansah: "Diese neue bisher unbekannt gewesene Kraft – wird nicht durch ein Äußeres erregt oder angefacht, sondern wohnt den Stoffen ursprünglich inne", schrieb er in seinem 1855 erschienenen Buch "Der Bildungstrieb der Stoffe veranschaulicht in selbständig gewachsenen Bildern".
Die Nachwelt nimmt das wissenschaftliche Verfahren, das aus Runges Versuchen hervorging, die Papierchromatographie, dankend entgegen und schweigt nachsichtig über seine esoterischen Sprüche. Mögen seine Versuche und vor allem ihre Interpretation wissenschaftlich belanglos gewesen sein – künstlerisch sind sie von höchstem Interesse, auch wenn Runge selbst seinen Bildern allenfalls den Rang von "Professorenklexen" einräumen mochte. Denn die Morphogenese – die Entstehung von Form und Gestalt – ist ein ureigenes Interessengebiet der bildenden Kunst.
Der Künstler nimmt dabei allerdings eine unübliche Rolle ein: Er ist nicht absichtsvoller Gestalter einer Form, sondern beschränkt sich darauf, in einem Prozess der Selbstorganisation die physikalischen Anfangs- und Randbedingungen zu setzen. Runges "Bildungstrieb der Stoffe" ist hierfür beispielhaft. Die Strukturen entstehen aus sich selbst heraus, durch die Wechselwirkungen der Komponenten dieses Formbildungsprozesses.
Interessante Strukturen entstehen immer dann, wenn diese Wechselwirkungen nicht allzu einfacher Natur sind. Zumindest eine unter ihnen sollte die Eigenschaft haben, vorhandene Unterschiede zu verstärken: Wenn alle wirkenden Prozesse Ausgleichsprozesse sind, ist das Ergebnis so langweilig wie eine sauber gestrichene Wand. Die Wechselwirkungen, die in diesem Sinne für kreative Vielfalt verantwortlich sind, werden typischerweise in der Physik als nichtlinear oder gar chaotisch klassifiziert.
Die uns umgebende Wirklichkeit ist – zumindest da, wo sie interessant ist – ebenfalls nichtlinear, dynamisch und chaotisch. Insofern sind Bilder, die sich selber malen, auch Abbilder der Wirklichkeit.
In mehrjähriger Arbeit habe ich neue Verfahren der Bildherstellung entwickelt. Ausgehend von wissenschaftlichen Experimenten untersuche ich Prozesse, die selbstständig Muster bilden. Einige meiner Entdeckungen sind wiederum für die Wissenschaft von Interesse.
Die zu bemalende Fläche und die Farben sind für mich nicht passive Objekte meiner schöpferischen Tätigkeit, sondern interaktive dynamische Systeme mit der Fähigkeit, eigenständig Strukturen zu bilden. Unter physikalischen Einwirkungen wie Hitze und Druck entstehen Strukturen, wie sie auch in natürlichen Systemen vorkommen. Wellen, Blasen, Zellstrukturen, Dendriten breiten sich schlagartig in der Bildfläche aus. Bereits bekannte Techniken sind die Chromatographie, die Décalcomanie oder das Marmorieren. Es gibt jedoch auch völlig neue Verfahren (siehe auch SdW 5/1999, S. 144).
Das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft ist bis heute eher antagonistisch als kooperativ. Doch in letzter Zeit mehren sich Zeichen der Annäherung. Ein gemeinsames Interesse besteht sicherlich an der Untersuchung nichtlinearer Prozesse.
Ich selbst erlebe, wie die Fronten merklich aufweichen. So bin ich zu sehr vielen wissenschaftlichen Veranstaltungen eingeladen worden, darunter zur Physikertagung in Jena und zu der Jahrestagung 2000 der Deutschen Mathematiker-Vereinigung in Dresden. Auch in der Kunstrichtung "Science Art" stehe ich nicht allein: Herbert W. Franke und Manfred Kage betreiben schon lange die Wissenschafts-Kunst.
Man stelle sich eine Leinwand mit einem besonderen Eigenleben vor: Ein Strich, den man darauf zeichnet, hinterlässt zunächst keine Spuren. Erst nach einer Weile taucht er aus dem Untergrund auf. Doch er steht nicht still, sondern breitet sich von selbst nach allen Seiten aus. Mehrere Linien, die einander begegnen, verbinden sich, verschmelzen zu neuen Formen nach ihren eigenen Gesetzen. Der Künstler kann in das Geschehen eingreifen, die Linien verformen oder neue Zeichen setzen. Aber seine Ausführungen sind nicht von Dauer. Die permanente Metamorphose verleibt sich seine Formen ein und gestaltet sie um. Will er an dem ständigen Veränderungsprozess teilhaben, muss er sich immer wieder neu einbringen. Somit befindet er sich in einem lebendigen Dialog mit seinem Bild. Der Gestaltungsprozess wird zur Metapher für menschliches Handeln.
Diese fantastische Leinwand gibt es tatsächlich! Eine Mischung der chemischen Substanzen Bromat und Malonsäure ist zu einer oszillierenden chemischen Reaktion fähig, die als Belousov-Zhabotinsky-Reaktion und ein Musterbeispiel für Selbstorganisation berühmt geworden ist. Mit einem geeigneten Farbstoff beobachtet man, dass die Lösung in regelmäßigen Zeitabständen von rot nach blau und zurück umschlägt oder dass sich Wellen der einen oder der anderen Farbe durch die Lösung hindurch fortpflanzen. Wo zwei dieser Wellenfronten aufeinander treffen, verschmelzen sie (siehe Spektrum der Wissenschaft 5/1983, S. 98, und 8/1991, S. 14).
Man kann diese Wellenbildung dadurch auslösen, dass man mit einem Silberdraht durch die Lösung fährt. Mit kurzer Zeitverzögerung erscheinen weiße Wellenfronten an der Oberfläche der Flüssigkeit. Wie ein Flächenbrand wandern sie zur Peripherie. Stoßen zwei zusammen, verschmelzen sie zu einer Linie. In kurzen Abständen entstehen von selbst am Ausgangspunkt neue Wellen und erzeugen ein paralleles, die gesamte Fläche ausfüllendes Muster. Wenn eine Wellenlinie durchtrennt wird, bilden die losen Enden wachsende Spiralen aus.
An dieser Stelle möchte ich mich bei Professor Stefan C. Müller bedanken, der mir 1995/96 diese künstlerischen Arbeiten am Max-Planck-Institut für molekulare Biologie in Dortmund ermöglicht hat.
Der Surrealist Oskar Dominguez (1906–1957) entdeckte 1934 beim Malen ein denkbar einfaches Verfahren, verblüffend natürliche Strukturen zu erzeugen: Er presste pastose Farbe mit einem Spachtel direkt auf die Leinwand. Beim Abziehen des Werkzeugs entstanden fein verästelte dendritische Strukturen. Auch sein Malerkollege Max Ernst (1891–1976) war von der Wirkung dieser naturnahen Formbildung angetan und setzte diese Maltechnik, genannt Décalcomanie, in seinen Bildern meisterhaft um.
Physikalisch geschieht dabei Folgendes: Zwischen zwei parallelen Ebenen (im Beispiel Leinwand und Spachtel) befindet sich ein zähes (viskoses) Medium. Ein leichter bewegliches Medium (Luft) dringt in diesen Raum ein, zum Beispiel weil durch Auseinanderziehen der Platten ein Unterdruck entsteht. Dieses Eindringen fällt ihm überall dort leichter, wo es bereits zähes Medium verdrängt hat. Deshalb wächst sich eine kleine Luftblase zu einem langen Finger aus, und im Endeffekt schrumpft das zähe Medium zu einem mehr oder weniger dürren Baum zusammen. Das ist viscous fingering (Spektrum der Wissenschaft 1/1994, S. 72).
Ich habe dieses Verfahren für die künstlerische Gestaltung so verändert, dass sich die Musterbildung gezielt steuern lässt. Hierfür bringe ich die viskose Flüssigkeit zwischen zwei übereinander liegende Glasplatten und klappe die obere langsam hoch wie einen Buchdeckel. Der fingerartig sich verzweigende Rand zwischen Luft und Flüssigkeit erweckt den Eindruck, als würde man wachsende Pflanzen im Zeitraffer beobachten.
Durch Variation des Materials (Fett, Öl, Wasser, Tenside, Lösungsmittel oder gemischte Substanzen) und damit der Viskosität entstehen unterschiedlichste Muster. Bei geringer Viskosität sind die Muster nicht stabil, sie zerfließen. Um sie "am Leben" zu erhalten, muss der Künstler ihnen Energie zuführen, indem er die Platten immer wieder auseinanderzieht. Durch rhythmisch pulsierende Bewegung, durch Drehen, Ziehen, Beschleunigen oder Pausieren interagiert der Künstler mit dem Geschehen.
Erhitzt man eine Flüssigkeit von unten, so wollen die unteren, wärmeren und daher leichteren Flüssigkeitsteile gewissermaßen nach oben, kommen aber nicht ohne weiteres an den kalten, schweren vorbei. Nach einer Weile löst die Flüssigkeit das Problem, indem sie regelmäßige Strömungsmuster ausbildet. Diese Bénard-Konvektion (siehe Spektrum der Wissenschaft 9/1980, S. 119) ist ein Paradebeispiel für spontane Strukturbildung aus an sich strukturlosen Anfangs- und Randbedingungen.
Die Struktur wird nur durch einen fortwährenden Energiefluss aufrechterhalten: durch "Dissipation" von Energie in der Sprache des Brüsseler Chemikers Ilya Prigogine. Sowie die Energiezufuhr aussetzt, bricht die Struktur zusammen. Prigogine stellte auch heraus, dass die Bénardschen Konvektionszellen genau diese Eigenschaft – Aufrechterhaltung von Ordnung durch Energiedissipation – mit lebenden Organismen gemeinsam haben.
Dissipative Systeme besitzen eine eigene Kreativität, denn sie entwickeln selbstständig eine große Vielfalt verschiedener Muster. Durch den Eingriff in die Eigendynamik wird der Künstler zu einem der Parameter des Gestaltbildungsprozesses. Anders als in wissenschaftlichen Untersuchungen strebt man in der künstlerischen Arbeit nicht danach, Störungen des Systems zu eliminieren, sondern sie gezielt für die Gestaltung einzusetzen. Ungleichmäßige Wärmezufuhr, Kühlung an einzelnen Stellen oder Verrühren der Flüssigkeit machen sich in komplexen Gestalten bemerkbar. Die schnell wechselnden Muster bestechen durch überraschend ungewöhnliche und originelle Formbildung.
Ausgangspunkt meiner Untersu chungen ist die jahrhundertealte Technik des Marmorierens. Auf eine wässrige Trägerschicht, die mit Kleister angedickt ist, werden Pigmente aufgetragen. Sie breiten sich auf der Oberfläche schwimmend aus. Mit verschiedenen Werkzeugen lassen sich die Farben zu mitunter marmorähnlichen Mustern verziehen.
Mit dem bloßen Auge betrachtet sind diese Muster wenig spektakulär. Man müsste sie unter dem Mikroskop ansehen; aber dafür ist das System – man braucht mindestens die Größe einer Petrischale – zu sperrig. Erst mit transparenten Flüssigkeiten und einem Tageslichtprojektor als Vergrößerungsgerät zeigen sich (teilweise filigrane) Strukturen und Bewegungsabläufe in ungeahnter Vielfalt und Dynamik.
Die Muster bilden sich spontan aus und befinden sich in einem beständigen Umformungsprozess. Das Geschehen erinnert in seiner lebendigen Dynamik an biologische Wachstumsprozesse. Durch die über 30fache Vergrößerung aller Längen bei der Projektion wachsen die projizierten Muster in Sekundenschnelle auf mehrere Meter Größe an. Die Bewegungsdynamik lässt sich in Bildern nicht darstellen, wohl aber die Vielfalt der Erscheinungsformen.
Ich löse diese Strukturbildungsprozesse aus, indem ich Lösungsmittel und Farbpigmente auf eine wässrige oder ölige Unterlage tropfe. Mit verschiedenen Zusatzstoffen wie Alkohol und Tensiden, die sich auf die Oberflächenspannung auswirken, kann ich die Musterbildung beeinflussen. Dieses System liefert je nach Wahl der Inhaltsstoffe nicht nur eine Vielzahl verschiedener physikalischer Reaktionen – darunter auch Konvektionsströme –, sondern auch eine große Menge sehr unterschiedlicher Strukturen wie Verästelungen (Dendriten), Blattformen (viscous fingering), Zellstrukturen oder pulsierende Gewebemuster.
Eine Zeit lang habe ich ausschließlich die Dynamik der Dendritenbildung untersucht, um die gestaltbildenden Parameter des Wachstumsprozesses zu finden und gezielt zu beeinflussen. Lassen sich zum Beispiel die Dicke der Äste, der Verzweigungswinkel, die Geradlinigkeit oder Krumpligkeit der Äste oder die Ausbildung von blattartigen Verdickungen gezielt verändern? Mit der Zeit verwandelte sich mein Atelier zunehmend in ein Labor, in dessen Petrischalen immer neue Mutanten einer flüssigen Flora erzeugt wurden.
Die Ausgangssituation war immer die gleiche: Auf eine Trägerschicht aus Kleister wurden unterschiedliche Pigmente getropft. In den meisten Fällen blieb der Tropfen einfach liegen und bildete eine kreisrunde Form. Manchmal franste jedoch die Grenzlinie aus, und die Fransen wuchsen zu Ästen heran. Wie ich beobachten konnte, bestimmte die Fließgeschwindigkeit mit darüber, wie dick die Verästelungen wurden. Daraufhin variierte ich gezielt diese Geschwindigkeit durch Veränderung der Viskosität, indem ich die Mischungsverhältnisse von Wasser, Alkohol, Lösungsmittel und anderen Zutaten veränderte. Das entschied dann, ob fein strukturierte Gräser oder fleischige Kakteen in der Petrischale wuchsen.
Ein weiterer Parameter der Gestaltbildung ist eine Substanz, die sich während der Ausbreitung absondert und eine Haut auf der Oberfläche bildet. Durch sie erstarrt allmählich der Farbfluss, und Dendriten, die zunächst wie schmale schlanke Pappeln wuchsen, fangen an zu schrumpfen und verwandeln sich in breit ausladende knorrige Eichen. Erhöht man den Anteil der hautbildenden Substanzen, so sprießen an den Spitzen der Verzweigungen große schrumpelige Blätter wild wuchernder Kräuter. Viele weitere Einflussmöglichkeiten habe ich entdeckt und noch längst nicht erschöpfend erforscht.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 2001, Seite 78
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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