Bildschöne Elektronen
Eine Übungsaufgabe für Physikstudenten ist die Lösung der Schrödingergleichung für ein quantisiertes Teilchen in einem Kasten. In einer Dimension entspricht das Ergebnis einer schwingenden Saite, in zwei Dimensionen mit kreisförmigem Rand einem schwingenden Paukenfell. Von dem, was da vibriert, wird angehenden Physikern allerdings eine ziemlich abstrakte Vorstellung vermittelt: komplexzahlige Wellenfunktionen, deren Amplitude zum Quadrat erhoben der Aufenthaltswahrscheinlichkeit des Quantenteilchens entspricht.
Doch nun ist es gelungen, diese abstrakten Zahlenspiele so sichtbar zu machen wie die vertrauten Wellen, die ein ins Wasser geworfener Stein erzeugt.
Donald M. Eigler und seine Mitarbeiter am Almaden-Forschungszentrum der Firma IBM in San Jose (Kalifornien) hatten bereits vor einigen Monaten mit dem Rastertunnelmikroskop die Elektronenhülle einer metallischen Kristalloberfläche in dramatischen Nahaufnahmen mit atomarer Vergrößerung abgetastet. Das Ergebnis gleicht Luftbildern von Tafelbergen oder Canyons – und auch wieder nicht ("Nature", Band 363, Seiten 524 bis 527, 10. Juni 1993). Eingesperrt zwischen der Ionisierungsbarriere des Metalls und einer Bandlücke im Energiespektrum der Metall-Elektronen verhalten sich letztere nämlich an der Oberfläche wie ein zweidimensionales Elektronengas. Darin lösen Punktdefekte oder Fehlstellen des Kristalls stehende Wellen – und somit Dichteschwankungen – aus, die das Rastertunnelmikroskop getreulich wiedergibt. Dadurch sehen die Kristallflächen des Metalls aus, als würden in einen stillen Teich hier und da erste Regentropfen fallen.
Inzwischen haben dieselben Forscher ein weiteres Kunststück vollbracht: Sie ordneten zunächst mit dem Rastertunnelmikroskop auf der Oberfläche eines Kupferkristalls rund 50 Eisenatome zu einem Kreis mit 7 Nanometern (millionstel Millimetern) Radius an und tasteten dann innerhalb dieses Quantengeheges mit demselben Instrument die wellenförmige Elektronenverteilung ab ("Science", Band 262, Seiten 218 bis 220, 8. Oktober 1993).
Das Ergebnis (Bild auf Seite 29) ist nicht nur eine wunderschöne Illustration der Rechenaufgabe aus dem Lehrbuch, sondern verspricht auch der Ausgangspunkt einer neuen Technik für sogenannte Quantenpunkte zu werden. Diese exotischen Bauelemente würden für künftige Computer das Nonplusultra an Miniaturisierung bedeuten. Sie könnten aber auch als sogenannte künstliche Atome dienen, weil die Elektronen im Quantengehege wie in Atomen diskrete Energieniveaus besetzen; daraus wiederum könnte man künstliche Kristallgitter zusammenbauen, an denen sich theoretische Vorhersagen der Festkörperphysik testen ließen. (M. S. )
Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1993, Seite 29
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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