Blick in den Erdmantel mit nuklear-seismischen Daten
Ungewöhnlich lange und tiefreichende seismische Profile, die in der ehemaligen Sowjetunion unter anderem mittels Atombombenexplosionen aufgenommen worden sind, liefern interessante Erkenntnisse über den Aufbau der Erde an der Nahtstelle zwischen Europa und Asien.
Von 1971 bis 1989 wurden auf dem Gebiet der früheren UdSSR im Auftrag des Ministeriums für Geologie bis zu 4500 Kilometer lange seismische Profile registriert. Ziel dieses großangelegten Projektes war, die Beschaffenheit und stoffliche Zusammensetzung der Erdkruste und der tiefer liegenden Schichten des oberen Mantels (50 bis zu 700 Kilometer) zu erkunden.
Wie Bild 1 zeigt, überstreichen die Profile die großräumigen tektonischen Einheiten, aus denen Eurasien besteht. Dabei handelt es sich um riesige Kontinentalblöcke verschiedenen Ursprungs und Alters. Zum Beispiel setzt sich die Sibirische Platte aus der West- und der Ostsibirischen Plattform zusammen; letztere wiederum enthält als Kern einen sogenannten archaischen Kraton, der mehr als zwei Milliarden Jahre alt ist. Als die Sibirische Platte vor etwa 340 Millionen Jahren mit der Osteuropäischen Plattform kollidierte, entstand das Uralgebirge.
Seismik mit Atombomben
Eine der wichtigsten geophysikalischen Techniken zur Ermittlung der Tiefenstruktur der Erde ist die Refraktionsseismik. Dabei legt man längs einer Linie in möglichst engen Abständen Geophone aus und erzeugt an Schußpunkten künstliche Explosionen. Die von ihnen ausgehenden elastischen Schwingungen dringen ins Erdinnere ein und werden dort an Schichtgrenzen gebeugt. Die Geophone registrieren, wann an welchen Stellen die Signale an die Oberfläche zurückkehren. Die Interpretation dieser Daten ergibt dann eine räumliche Verteilung der Geschwindigkeiten, mit der sich die Wellen in den einzelnen Gesteinsschichten ausgebreitet haben.
Die Refraktionsseismik stammt bereits aus den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts. Damals entwickelte sie der deutsche Geophysiker Ludger Mintrop (1880 bis 1956) für die Exploration von Kohlenwasserstoffen (Erdöl und Erdgas). Während das Verfahren auf diesem Gebiet heute kaum noch angewandt wird, spielt es seit 40 Jahren bei der Erkundung von Struktur und stofflichen Eigenschaften der Erdkruste eine große Rolle. Zu diesem Zweck wurde der Anwendungsbereich bis in Tiefen von 50 Kilometern erweitert.
Bei dem Versuch, in noch größere Tiefen vorzudringen, stellt sich allerdings das Problem, daß die bei der Explosion erzeugten Wellen, je tiefer sie in die Erde eindringen, desto weiter entfernt von der Quelle wieder auftauchen. Das Verhältnis von Entfernung zu Eindringtiefe liegt zwischen fünf und acht. Um 30 Kilometer Eindringtiefe zu erreichen, muß also eine lückenlose Serie von Beobachtungen bis in Entfernungen zwischen 150 und 240 Kilometern gemacht werden.
Die Untersuchung tiefer Strukturen erfordert deshalb eine große Anzahl seismischer Registriergeräte, damit man ein lückenloses und engräumig vermessenes Profil erhält, und eine starke Quelle, die so viel elastische Energie abstrahlt, daß sich auch an den entfernten Geophonen das Signal noch aus dem natürlichen Umgebungsrauschen abhebt; dazu müssen in aller Regel Ladungen mit einer Sprengkraft von bis zu 1000 Kilogramm Trinitrotoluol (TNT) gezündet werden.
Die Besonderheit der russischen Profile besteht nun darin, daß außer chemischen auch nukleare Explosionen verwendet wurden: die sogenannten peaceful nuclear explosions (PNEs). Bei ei-ner Sprengkraft von 10 bis 20 Kilotonnen TNT ermöglichten sie Reichweiten, die normalerweise ausschließlich Erdbebenwellen haben.
Ein einzelner Schuß und ein langes Profil reichen freilich nur dann für die Untersuchungen aus, wenn der Untergrund eben geschichtet ist, das heißt ei-ne einfache Struktur aufweist. Weil dies sehr selten der Fall ist (und man es vor dem Experiment auch nicht weiß), werden längs des Profils mehrere Schüsse abgegeben, um auch Strukturen zu erfassen, die sich seitlich verändern.
Beim tiefenseismischen Programm der früheren UdSSR lagen die Schußpunkte der chemischen Explosionen 50 bis 100, die der starken nuklearen Detonationen 600 bis 1000 Kilometer weit auseinander. Die verwendeten Atombomben waren nach russischen Angaben Spezialanfertigungen für das Geologieministerium und wurden in verdämm-ten, ungefähr 800 Meter tiefen vertikalen Schächten gezündet. Zur Registrierung der Echos waren längs der Profillinien etwa alle zehn Kilometer Geophone aufgestellt.
Die PNE-Experimente waren technische und logistische Meisterleistungen: Hunderte von seismischen Registriergeräten wurden zum Teil mit Hubschraubern über eine Länge von Tausenden von Kilometern verteilt und mußten im entscheidenden Moment – bei der Zündung der Bombe – einsatzbereit sein. Erst heute beginnt man im Westen mit seismischen Programmen ähnlicher Größenordnung.
Der einmalige Datensatz, den die in dieser Form nicht wiederholbaren russischen Experimente lieferten, wurde in der UdSSR selbst aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen allerdings nur unvollständig genutzt. So konzentrierten sich die sowjetischen Wissenschaftler bei der Auswertung auf die chemischen Explosionen, während sie den nuklearseismischen Daten vergleichsweise wenig Beachtung schenkten.
Als Karl Fuchs vom Geophysikalischen Institut der Universität Karlsru-he von der Existenz dieser Daten erfuhr, erkannte er sofort, welches Potential für die geowissenschaftliche Erkundung des oberen Erdmantels sie bergen. Um Informationen über so tiefe Erdschichten zu gewinnen, sind die Geophysiker normalerweise auf natürliche Erdbeben angewiesen, die sie mit vorhandenen Seismometern aufzeichnen. Ort und Zeitpunkt solcher Beben sind jedoch nicht vorhersehbar, so daß man auf diese Weise nicht gezielt bestimmte Strukturen untersuchen kann.
Erste Ergebnisse
Nach dem Zerfall der Sowjetunion und dem Umsturz des politischen Systems konnte das Geoforschungszentrum (GFZ) Potsdam mit den russischen Wissenschaftlern eine Vereinbarung treffen, die ihm Zugang zu dem wertvollen nuklear-seismischen Datensatz verschaff-te. In enger Zusammenarbeit mit dem Karlsruher Geophysikalischen Institut, dem Geologischen Dienst der USA und russischen Wissenschaftlern haben wir 1991 am GFZ mit der Auswertung der Meßergebnisse begonnen. Die bisherigen Arbeiten konzentrieren sich dabei auf das Profil QUARZ, für dessen Aufnahme an drei Stellen Nuklearexplosionen ausgelöst worden waren (Bild 1).
Als erstes Ergebnis konnten wir ein zweidimensionales Modell der seismischen Geschwindigkeiten längs des Profils entwickeln, das für die oberen 220 Kilometer in Bild 2 dargestellt ist. Abgesehen von dem bekannten allgemeinen Trend, daß die Geschwindigkeiten mit der Tiefe zunehmen, sind einige bemerkenswerte Details auszumachen.
So zeigt sich, daß die Erdkruste un-ter dem Ural ungewöhnlich dick ist: Ih-re Mächtigkeit liegt deutlich über dem Durchschnittswert für kontinentale Kruste von 40 Kilometern. Eine solche Wurzel nimmt bei jungen Gebirgen wie den Alpen nicht wunder. Alte Gebirge wie die Varisziden, die vor 300 bis 350 Millionen Jahren entstanden sind und zu denen die deutschen Mittelgebirge oder die Appalachen im Osten der USA gehören, haben ihre Wurzel als Folge von Ausgleichsvorgängen am Ende des Gebirgsbildungsprozesses inzwischen jedoch verloren. Weil der Ural etwa ebenso alt wie die Varisziden ist, muß er also entweder eine ganz besondere geologische Geschichte gehabt haben, oder die modernen Modellvorstellungen zur Gebirgsbildung sind nicht allgemein gültig.
Ähnliche Zweifel weckt ein weiterer Befund. Danach befinden sich unter dem Ural, aber auch unter dem Altai-Sajan-Gebirge in nur 50 Kilometern Tiefe Fragmente des Erdmantels mit ungewöhnlich hohen seismischen Geschwindigkeiten von 8,5 Kilometern pro Sekunde, wie sie sonst erst unterhalb von 200 Kilometern auftreten. Das läßt sich als Hinweis darauf deuten, daß bei der Gebirgsbildung Gesteinsblöcke aus dem tieferen Mantel rund 200 Kilometer nach oben transportiert worden sind. Auch das ist mit den gängigen Modellen der Gebirgsbildung nicht ohne weiteres erklärbar.
Interessant ist ferner die Beobachtung, daß sich die Mächtigkeit der Lithosphäre entlang des Profils sprunghaft ändert. Unter der europäischen Plattform im Westen beträgt sie ungefähr 200, im Osten dagegen nur 150 Kilometer. Der Übergang befindet sich genau dort, wo sich im Paläozoikum (vor etwa 340 Millionen Jahren) gewaltige Mengen an krustalen und lithosphärischen Fragmenten von Osten an die europäische Plattform angelagert haben.
An der gleichen Stelle weist auch ein Kanal erniedrigter Geschwindigkeiten, dessen Ursprung unklar ist, einen scharfen Knick auf. Während er im Westen innerhalb der Lithosphäre (bei 105 bis 130 Kilometern) verläuft, liegt er im Osten direkt unterhalb der nur 150 Kilometer dicken Lithosphären-Schicht.
Aufschlußreich, wenn auch nicht gänzlich unerwartet ist schließlich der Befund, daß die seismische Geschwindigkeit im oberen Erdmantel in rund 550 Kilometern Tiefe sprunghaft zunimmt. Von einigen Geophysikern wurde die Existenz einer solchen Diskontinuität in durchschnittlich etwa 520 Kilometern Tiefe postuliert, weil bei dem dort herrschenden hohen Druck Olivin, eines der wesentlichen Minerale im Mantel eine kompaktere Kristallstruktur annimmt. Diese Hypothese ist jedoch umstritten. Das Profil QUARZ zeigt indes, daß die Diskontinuität zumindest unter Eurasien existiert.
Perspektiven
Einblicke in den Erdmantel gehören sicherlich primär in den Bereich der Grundlagenforschung. Aber sie liefern auch wesentliche Informationen für das Verständnis etwa der Entstehung von Becken, in denen sich die großen Öl- und Gaslagerstätten befinden. Alle ernstzunehmenden Modelle für die Beckenbildung schließen die Lithosphäre als Ganzes ein (zu der, wie gesagt, auch der obere Teil des Mantels gehört) und beruhen auf bestimmten Annahmen über den Stofftransport innerhalb dieser Schicht durch Magmen und andere Fluide sowie über den Wärme-Eintrag aus dem Erdmantel.
Stoffströme im Mantel bilden nach heutigem Verständnis die Grundlage des geologischen Geschehens an der Erdoberfläche; denn sie sind es, welche die großen Lithosphärenplatten verschieben und dabei nicht nur Gebirge und Sedimentationsbecken schaffen, sondern auch Erdbeben, Vulkanismus, Meeresspiegelschwankungen und Klimaänderungen hervorrufen. Deshalb liefern Einblicke in den Erdmantel nicht nur mögliche Aufschlüsse über nutzbare Rohstoff- und Energiequellen, sondern auch Ausblicke auf die zukünftigen Lebensbedingungen der Menschheit.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1995, Seite 20
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben