Brillante Röntgenblitze
Spezielle Teilchenbeschleuniger produzieren scharf gebündelte Strahlung höchster Intensität. So läßt sich die Atomstruktur von Kristallen untersuchen, das Innere eines Stechmückenknies oder ein von Malaria befallenes rotes Blutkörperchen.
Die Erzeugung äußerst intensiver und scharf gebündelter Röntgenstrahlen gehört zu den großen – und selten gewürdigten – wissenschaftlich-technischen Erfolgen der letzten Jahrzehnte. Werden Elektronen in einem evakuierten Rohrsystem auf eine Kreisbahn von einigen hundert Metern Durchmesser gezwungen und fast auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt, so emittieren sie brillante Strahlungsblitze, mit denen sich Proben bei nahezu atomarer Auflösung untersuchen lassen. Dies eröffnet der Wissenchaft unschätzbare Einblicke in die Struktur von Molekülen, modernsten Halbleitern, magnetischen Materialien oder in die Details komplizierter chemischer Reaktionen.
Diese Fortschritte beruhen auf ebenso beachtlichen technischen Verbesserungen. Nimmt man die Brillanz oder Helligkeit (brightness) – die Kombination von hoher Intensität und enger Bündelung der Strahlung – zum Maßstab, so gibt es keine Technologie, die sich seit Anfang der sechziger Jahre rapider entwickelt hat als die der Röntgenquellen. Selbst die Steigerung der Rechengeschwindigkeit von Hochleistungscomputern, das Paradebeispiel rasanter Entwicklung im Informationszeitalter, vermag da nicht mitzuhalten.
Die in den letzten fünf Jahren gebauten großen Röntgenquellen strahlen etwa hundertmal heller als ihre Vorgänger; die diffus strahlende Sonne übertreffen sie an Brillanz gar milliardenfach (siehe Kasten auf Seite 66). Derzeit sind acht solche Anlagen in Betrieb und drei weitere in Bau. Außerdem arbeiten in aller Welt noch rund 40 Geräte der vorigen Generation.
Eine solche Anlage zu bauen kostet immerhin hundert Millionen bis eine Milliarde Dollar. Da die Röntgenstrahlen von haarfeinen Elektronenpaketen emittiert werden, hat der Strahlungskegel am Ursprung einen winzigen Querschnitt und einen sehr engen Öffnungswinkel; dadurch bleibt der Strahl auch über einen längeren Weg hinweg hochkonzentriert. Zu hoher Brillanz gehört aber außerdem hohe spektrale Intensität, das heißt, der Strahl muß pro Zeiteinheit außergewöhnlich viele Photonen eines bestimmten Wellenlängenbereichs enthalten.
Manch wichtiges Experiment wäre ohne brillante Röntgenstrahlung undenkbar, denn oft lassen sich desto kleinere Objekte analysieren, je größer die Helligkeit ist. Zudem gilt: Je heller die Quelle, desto enger kann ein gewünschter Wellenlängenbereich gewählt werden, ohne daß die Strahlung zu sehr geschwächt würde. Diese spektrale Feineinstellung ist beispielsweise nützlich, um ein Molekül gezielt anzuregen, das bei einer bestimmten Resonanzfrequenz stark absorbiert.
Röntgenstrahlung hat den Vorteil, daß ihre Energien und Wellenlängen sich besonders gut zum "Durchleuchten" der elektronischen und atomaren Materiestruktur eignen. Diese beiden physikalischen Charakteristika legen fast alle wichtigen Eigenschaften einer Substanz fest – Festigkeit, Magnetismus, chemisches Verhalten sowie elektrische und thermische Leitfähigkeit.
Helle Quelle: Vom Synchrotron zum Speicherring
Wie die Physiker seit etwa einem Jahrhundert wissen, senden geladene Teilchen elektromagnetische Strahlung aus, wenn sie beschleunigt, gebremst oder abgelenkt werden. Insbesondere emittieren Ladungsteilchen, die in eine Kreisbahn gezwungen werden, unentwegt Strahlung. Sie heißt Synchrotronstrahlung, weil sie erstmals vor fünfzig Jahren in einem Elektronenbeschleuniger, einem Synchrotron, beobachtet wurde. Diese Strahlen treten aber auch natürlich auf, zum Beispiel im Krebs-Nebel. Ursache der von dort ausgehenden Röntgenstrahlung sind Elektronen, die von örtlichen Magnetfeldern fast auf Lichtgeschwindigkeit gebracht werden.
Ein Synchrotron besteht aus einer bis zu einige Kilometer langen, zu einem Kreisring geschlossenen Vakuumkammer, durch die ein Strahl geladener Teilchen gejagt wird. Unterwegs sind Magnete angeordnet, die den Teilchenstrahl krümmen und fokussieren, damit alle Partikel auf Kurs bleiben, während ihre Energie zunimmt. Solange die Teilchen relativ langsam kreisen – das heißt weit unterhalb der Lichtgeschwindigkeit –, emittieren sie nur schwache, niederfrequente und ungerichtete Strahlung. Doch mit Annäherung an die Lichtgeschwindigkeit nehmen Intensität, Frequenz und Bündelung der Strahlung dramatisch zu: Sie wird nun tangential zur gekrümmten Teilchenbahn emittiert.
Um besonders brillante Strahlen zu erzeugen, verwenden die Forscher meist Speicherringe. In dieser speziellen Form des Synchrotrons durchlaufen geladene Teilchen – in der Regel Elektronen – viele Stunden lang mit konstanter Geschwindigkeit ein und dieselbe Kreisbahn. Schon vor dem Eintritt in den Speicherring sind sie von einem separaten Beschleuniger, oft einem Synchrotron, auf hohe Geschwindigkeit gebracht worden. In der Advanced Light Source (ALS) des Lawrence-Berkeley-Laboratoriums in Kalifornien jagen die Elektronen mit 99,999996 Prozent der Lichtgeschwindigkeit im Kreis; dabei nimmt gemäß Einsteins spezieller Relativitätstheorie die Masse jedes Teilchen auf das rund Dreitausendfache seiner Ruhmasse zu.
Das Emittieren der Synchrotronstrahlung kostet die Elektronen Energie. Speziell konstruierte Geräte sind nötig, um die Verluste auszugleichen: Radiofrequenz-Resonatoren bauen elektromagnetische Wechselfelder auf, welche die hindurchlaufenden Elektronen antreiben.
Jeder Wellenberg im Resonatorhohlraum versetzt dem Elektronenpaket einen Energiestoß. Das geschieht einmal pro Schwingungszyklus der Radiowelle – bei der ALS 500 Millionen Mal pro Sekunde – für die Dauer von 50 Pikosekunden (10-12 Sekunden). Jedes der haardünnen Elektronenpakete ist, während es fast mit Lichtgeschwindigkeit durch den Speicherring rast, etwa einen Zentimeter lang; und mit ihm kreisen hunderte andere, eines hinter dem anderen, wie winzige Perlen auf einer riesigen rotierenden Kette. Da jedes Paket bei jeder Richtungsänderung einen extrem kurzen Strahlungspuls erzeugt, entstehen in Speicherringen laufend äußerst kurze und helle Röntgenpulse.
Speicherringe emittieren ein breites Spektrum von Infrarot bis zu Röntgenstrahlen. Der sichtbare Bereich interessiert die Physiker allerdings praktisch nicht, denn bei optischen Wellenlängen produzieren abstimmbare Laser noch hellere Strahlen. Doch im Ultraviolett- und Röntgenbereich ist die Synchrotronstrahlung konkurrenzlos.
Ein Speicherring ist genau genommen vieleckig, wobei bis zu 50 gerade Abschnitte durch sanft gekrümmte verbunden sind. Zweierlei starke Elektromagnete fokussieren den Teilchenstrahl; ein dritter Magnettyp krümmt ihn und verursacht so die tangential zum Teilchenstrahl austretende Synchrotronstrahlung. Deshalb gibt es an jeder Biegung eine oder mehrere Strahlstrecken, die für
Die sprunghaft erhöhte Helligkeit der neuen Speicherringe ist unter anderem leistungsstarken Mikroprozessoren zu verdanken. Mit entsprechend ausgerüsteten "intelligenten" Konstruktionswerkzeugen und Kontrollsystemen lassen sich die unzähligen Einzelteile und Subsysteme eines Speicherrings ungemein exakt entwerfen, modellieren, bauen und betreiben. Auf diese Weise können die Betreiber die Position des haardünnen Elektronenstrahls bis auf einige Hundertstel seines Durchmessers genau einstellen und sehr stabil halten – denn ein unruhiger Teilchenstrahl würde den Röntgenstrahl verschmieren und seine Brillanz schmälern.
Eine weiterer Schlüssel zum Erfolg war der Einsatz sogenannter Undulatoren. Wie der Name sagt (von lateinisch undulare, Wellen schlagen), zwingt dieses Gerät den Elektronenstrahl, sich auf wenigen Metern Wegstrecke viele Male hin und her zu schlängeln. Da Elektronen bei jeder Richtungsänderung Strahlung abgeben, listet ihnen der Undulator dadurch besonders viel Strahlung ab.
Diese knapp hintereinander emittierten Strahlungswellen überlagern einander, und je nach ihrer Wellenlänge kommt es zu Verstärkung oder Auslöschung. Die verstärkten Wellenlängen verlassen den Undulator in einem schlanken Kegel nahezu kohärenter Strahlung, die insofern fast einem Laserstrahl gleichkommt: Wellenberge und -täler decken sich weitgehend.
Das Kernstück des Undulators ist eine Doppelreihe starker Dauermagnete, die senkrecht zum Elektronenstrahl alternierende Magnetfelder erzeugt. Durch Variieren des Abstands zwischen der oberen und unteren Magnetreihe können die Forscher den Undulator so einstellen, daß die gesamte Emission fast nur aus einer bestimmten Grundfrequenz oder deren harmonischen Oberschwingungen – ganzzahligen Vielfachen der Grundfrequenz – besteht.
Mit dieser kurzwelligen, extrem hellen und partiell kohärenten Röntgenstrahlung lassen sich Objekte und Phänomene erforschen, die noch vor fünf oder sechs Jahren aufgrund ihrer Winzigkeit oder anderer Eigenschaften unzugänglich gewesen wären. Hunderte Projekte liefern neue Informationen aus den unterschiedlichsten Gebieten – vom physikalischen Verhalten von Materialien bei sehr hohen Drücken bis zum Zusammenhang zwischen Struktur und biologischer Funktion wichtiger Proteine im menschlichen Körper. Wir haben einige Beispiele ausgewählt: die Untersuchung von Malaria-Erregern, Miniaturisierungsverfahren für Transistoren, katalytische Vorgänge auf Festkörperoberflächen, zerstörungsfreie bildgebende Verfahren für winzige Proben sowie das dynamische Verhalten des Myoglobin-Moleküls.
Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO sterben an Malaria jährlich etwa 2,7 Millionen Menschen, zumeist Kinder. Es gibt keine wirksame Impfung, und die Resistenz gegen die verfügbaren Prophylaktika nimmt zu. An der Biologie-Abteilung des Lawrence-Berkeley-Laboratoriums untersuchten Cathleen Magowan, Werner Meyer-Ilse und John T. Brown mit Hilfe der Advanced Light Source die Entwicklungsstadien des gefährlichsten Malaria-Erregers, Plasmodium falciparum, in roten Blutkörperchen. Dieser Einzeller wird von der weiblichen Anopheles-Mücke übertragen und befällt die roten Blutkörperchen des infizierten Wirts. Dort durchläuft der Parasit mehrere Zyklen ungeschlechtlicher Vermehrung und infiziert immer mehr Blutkörperchen. Dabei verdaut er den roten Blutfarbstoff Hämoglobin in einer Nahrungsvakuole – einem flüssigkeitsgefüllten Hohlraum in seinem Innern – und versorgt sich so mit einem Großteil der Aminosäuren, die er zum Überleben braucht.
Anwendungen von Malaria bis Materialkunde
Magowan und ihre Mitarbeiter nahmen infizierte rote Blutkörperchen mit dem Röntgen-Transmissionsmikroskop unter die Lupe. Sie studieren unterschiedliche Entwicklungsstadien des Parasiten und beobachten die Wirkung einer Palette von Medikamenten. Die Forscher benutzen Röntgenstrahlen mit 2,4 Nanometern (millionstel Millimetern) Wellenlänge und erreichen eine fünf- bis zehnmal bessere Auflösung als mit Lichtmikroskopen.
Von Vorteil ist dabei nicht nur die kurze Wellenlänge, sondern auch der natürliche Kontrast durch Röntgenabsorption; auf diese Weise erkennen die Forscher winzige Details im Innern der infizierten Zellen und insbesondere in den Parasiten selbst.
Obendrein läßt erst der natürliche Röntgenkontrast direkte und präzise Messungen von Substanzverlagerungen im Parasiten zu, insbesondere von anormalen Veränderungen in seiner Nahrungsvakuole. Magowans Bilder sind so kontrastreich, daß sich darauf die Umverteilung von Hämoglobin aus dem Plasma der roten Blutkörperchen in die Nahrungsvakuole des Parasiten verfolgen läßt – sowohl im Normalzustand als auch nach Medikamentenzugabe. Pharmaka, welche die Verdauungsenzyme des Parasiten blockieren, lassen seine Vakuole durch unverdautes Hämoglobin anschwellen und können ihn töten. Magowan maß erstmals die Mengenzunahme im Nahrungsbläschen. Aus solchen Röntgenuntersuchungen könnten letztlich neue Waffen im Kampf gegen die Malaria hervorgehen.
Auch die Elektronikindustrie könnte von brillanten Röntgenstrahlen profitieren; ihr größtes Geschäft, das jährlich Milliarden Dollar einbringt, ist die Produktion integrierter Schaltkreise. Die Chip-Herstellung gliedert sich in zahlreiche Etappen, bis am Ende komplexe elektronische Systeme aus Millionen verschalteter Transistoren auf einem dünnen Silicium-Scheibchen entstehen. Im Kern handelt es sich um photolithographische Produktionsschritte, wobei ultraviolettes Licht (UV-Strahlung) durch eine Schablone auf die lichtempfindliche Beschichtung eines Silicium-Wafers fällt.
Die Wellenlänge der benutzten Strahlung begrenzt die Miniaturisierung und somit die Dichte der Transistoren auf dem Siliciumplättchen. Gegenwärtig lassen sich mit UV-Wellenlängen von 0,248 Mikrometern (tausendstel Millimetern) bestenfalls Details von 0,25 Mikrometern Größe herstellen. Doch die Industrie plant schon Chips mit Strukturen von 0,1 Mikrometern und weniger. Dafür kommen nur photolithographische Systeme in Frage, die mit extremem Ultraviolett (EUV) arbeiten. Als Quelle solcher EUV-Strahlen mit rund 13 Nanometern Wellenlänge wird wahrscheinlich ein mittels Laser erzeugtes Plasma dienen.
Auch hier kommen Speicherringe ins Spiel. Die EUV-Lithographie erfordert mehrlagig beschichtete Spiegel zur Fokussierung der Strahlung; ohne diese Beschichtung würden fast senkrecht einfallende EUV-Strahlen nicht ausreichend reflektiert. Für eine exakte Abbildung der Schablone auf die Silicium-Wafer ist ein sehr präzises optisches Projektionssystem nötig sowie eine möglichst plane Wafer-Oberfläche. Dafür wiederum braucht man Prüfmethoden, die bis auf weniger als 1 Nanometer – auf Dicken von nur fünf bis zehn Atomen – genau sind. Mit sichtbarem Licht, das außerdem die Mehrfachbeschichtung nicht zu durchdringen vermag, ließe sich dieses Ziel keinesfalls erreichen.
Doch an der ALS entwickeln Röntgenforscher und Computerspezialisten ein neuartiges Prüfverfahren für optische Systeme. Es nutzt EUV-Strahlung aus dem Speicherring für die Interferometrie; bei dieser empfindlichen optischen Technik werden Meßdaten durch Interferenz von zwei oder mehreren kohärenten Lichtstrahlen gewonnen. Einen intensiven und genügend scharfen Strahl der gewünschten Wellenlängen vermag aber nur ein moderner Speicherring zu erzeugen.
Für eine interferometrische Messung folgen zwei Strahlen unterschiedlichen Bahnen; der eine tritt mit dem Untersuchungsobjekt in Wechselwirkung und erfährt dabei eine Phasenverschiebung, der andere dient als Bezugsstrahl. Wenn beide Strahlen wie-der zusammengebracht werden und interferieren, zeigt sich jede durch das zu prüfende optische System verursachte relative Phasenverschiebung als Muster dunkler und heller Streifen, die destruktive und konstruktive Interferenz anzeigen. Nun hat das ALS-Wissenschaftlerteam um Jeffrey Bokor nach diesem Prinzip ein Interferometer gebaut, das kohärentes Licht aus einem Undulator in zwei Strahlen aufspaltet: Dabei passiert der eine das untersuchte optische System und sammelt in Form einer Phasenverschiebung Information zur Güte der Optik, während der andere durch eine nadelspitzengroße Blende tritt und einen kugelförmigen Referenzstrahl erzeugt. Das Team hat mit ultraviolettem Licht nachgewiesen, daß sich ausreichend exakte Spiegel für die Lithographie im EUV-Bereich fabrizieren lassen; damit steht fest, daß die gegenwärtige Schranke der Chip-Miniaturisierung im Prinzip überwunden werden kann.
Brillante Synchrotronstrahlung hilft auch beim Verständnis der Wechselwirkung von Atomen oder Molekülen mit einer Oberfläche – und der dadurch veränderten Elektronenverteilung. Solche Erkenntnisse sind wichtig für die Untersuchung von Korrosionsvorgängen oder von katalytischen Reaktionen, bei denen zwei chemische Substanzen nur in Gegenwart einer dritten miteinander in Reaktion treten.
Zu diesem Zweck brauchen die Forscher eine Sonde, die erkennbar macht, wie die an der chemischen Bindung beteiligten Elektronen sich auf die einzelnen Atome verteilen. Diese "atomspezifische" Darstellung ist nun mit Hilfe einer extrem hellen Strahlungsquelle und der sogenannten Röntgen-Fluoreszenzspektroskopie möglich.
Dies haben an der ALS die Forscher Anders Nilsson und Nial Wassdahl von der Universität Uppsala (Schweden) zusammen mit dem Almaden-Forschungszentrum von IBM in San José (Kalifornien) demonstriert. Ihre Untersuchung der chemischen Bindung von molekularem Stickstoff (N2) an eine Nickeloberfläche hat unsere Vorstellung von Oberflächenbindungen über den Haufen geworfen.
Bekannt war, daß das Stickstoffmolekül auf der Nickeloberfläche nicht flach aufliegt, sondern aufrecht steht: Nur eines der beiden Stickstoffatome bindet sich an die Fläche, das andere ragt von ihr weg. Da die Oberflächenbindung viel schwächer ist als die Molekülbindung, hatten die Chemiker angenommen, die Flächenberührung beeinflusse das Molekül kaum, und darum könne es als symmetrische Einheit zweier praktisch identischer Stickstoffatome gelten. Doch wie sich nun herausstellt, verändert sich die Elektronenhülle des Moleküls bei Adsorption erheblich: Der Elektronenaufbau der beiden Stickstoffatome wird deutlich unterschiedlich und ihre innere Molekülbindung schwächer. Wenn man verstehen könnte, wie und warum es zu dieser Dissoziation kommt, ließe sich die Effizienz der Ammoniaksynthese zur Herstellung von Dünger und anderen stickstoffhaltigen Produkten steigern, denn sie wird vor allem durch die Dissoziation des N2 in zwei separate Stickstoffatome beeinträchtigt.
Mit Hilfe der ALS nahmen die Wissenschaftler die unterschiedlichen Energieniveaus der inneren Elektronenschalen beider Stickstoffatome unter die Lupe. Sie stellten die Energie der auftreffenden Photonen exakt so ein, daß gezielt nur Elektronen des einen oder des anderen Stickstoffatoms angeregt wurden, aber niemals die der adsorbierenden Nickeloberfläche. Wenn die angeregten Elektronen in ihren Grundzustand zurückkehren, senden sie Röntgen-Fluoreszenzstrahlung aus, die über den Aufbau der äußeren Elektronenschalen des betreffenden Atoms Auskunft gibt.
Ein Molekül unter der Lupe
Das Experiment erforderte eine hochintensive Strahlungsquelle, denn bei der Röntgen-Fluoreszenzspektroskopie wird pro tausend absorbierten Photonen nur eines emittiert. Außerdem mußte die Röntgenstrahlung in einem sehr schmalen Frequenzbereich liegen, damit sie immer nur eines der beiden Stickstoffatome im Molekül anregte.
Eine weitere zukunftsträchtige Anwendung ist die Phasenkontrastmikroskopie, die Anatoly Snigirev an der European Synchrotron Radiation Facility (ESRF) in Grenoble (Frankreich) kürzlich erstmals mit Röntgenstrahlen hoher Energie durchgeführt hat. Das ermöglicht nicht-destruktive bildgebende Verfahren mit Mikrometer-Auflösung für biologische, mineralogische und bestimmte metallurgische Strukturen.
Zum Beispiel schuf Snigirev mit dieser Technik verblüffende Röntgenquerschnitte eines Stechmückenknies. Normale Röntgenbilder – etwa zu medizinischen Zwecken – kommen durch Absorptionskontrast zustande: Materialien, die hauptsächlich aus eher leichten Elementen wie Kohlenstoff, Stickstoff und Sauerstoff bestehen, sind für Röntgenstrahlen durchlässiger als andere. In der Regel absorbieren schwerere Atome, die von einer dichteren Elektronenwolke umgeben sind, die Röntgenphotonen besser. Auf medizinischen Röntgenbildern sind die Knochen deutlich sichtbar, weil sie einen stärkeren Schatten auf den Film werfen als das weniger dichte Gewebe rundum. Der Absorptionskontrast eignet sich folglich schlecht für Objekte, die nur aus leichten Atomen bestehen.
Röntgen-Phasenkontrastmikroskopie
Hingegen beruhen Phasenkontrastbilder nicht auf unterschiedlicher Absorption, sondern auf dem unterschiedlichen Brechungsindex der Substanzen in der Probe; er gibt an, wie stark der Strahl beim Eintritt in ein Material abgelenkt wird. Zwar unterscheidet sich der Brechungsindex für Röntgenstrahlen von einem Material zum anderen nur geringfügig, höchstens um eins zu 100000; doch das reicht für diese Abbildungstechnik schon aus.
Ein kohärenter Lichtstrahl aus einer brillanten Quelle durchdringt ein Untersuchungsobjekt geringer Dichte. Teile der Wellenfront werden – je nach den geringfügig verschiedenen Brechungsindizes in der Probe – unterschiedlich stark gebeugt. Um das Prinzip zu verstehen, betrachten wir zunächst den Rand der Probe: Den Rand streifende Strahlen bleiben gerade noch unverändert, doch schon ihre nächstinneren Nachbarn werden in der Probe ein wenig abgelenkt und geraten bezüglich der unabgelenkten Strahlen etwas aus dem Tritt. In einiger Entfernung hinter der Probe überlagern sich die verschiedenen Wellenfronten wieder und interferieren, da sie alle aus einem anfänglich kohärenten Lichtstrahl stammen. So entstehen typische Interferenzstreifen, die, wenn man sie mit einem Detektor aufnimmt, den äußeren Umriß der Probe nachzeichnen. Analog werden die inneren Grenzflächen zwischen Gebieten mit unterschiedlichem Brechungsindex abgebildet. Mit dieser Technik lassen sich auch – wie in der medizinischen Computertomographie – Schnittbilder eines Objekts anfertigen, indem eine Bildserie des schrittweise gedrehten Untersuchungsobjekts per Computer ausgewertet wird.
Zu den Phänomenen, die sich erst mit den neuen Röntgenstrahlen wissenschaftlich erhellen lassen, gehören Veränderungen an Proteinen von einer Nanosekunde (milliardstel Sekunde) zur nächsten. Wenn Biologen und Pharmaforscher das Verhalten von Enzymen, Hormonen oder Antikörpern genau studieren wollen, sind sie auf Synchrotronstrahlung angewiesen, um mittels makromolekularer Kristallstrukturanalyse die vielen Tausend Atome, aus denen Proteine oder Viren zusammengesetzt sind, zu lokalisieren.
Im Grunde entstehen dabei zunächst nur statische Bilder – gleichsam Schnappschüsse – der Atomanordnung im Makromolekül. Doch Proteine sind keineswegs unbeweglich und starr; ihre Struktur ändert sich auf komplizierte Weise, während sie ihre biologische Funktion ausüben. Bis heute gelingt es kaum, diese Veränderungen zu messen und zu erklären, doch auch da sind durch die Brillanz der neuen Röntgenanlagen Fortschritte zu erwarten.
Beispielsweise gelang es Michael Wulff vom ESRF gemeinsam mit Keith Moffatt von der Universität Chicago, den rapiden Gestaltwechsel des Moleküls Myoglobin zu verfolgen; dieses Protein ist in Muskelzellen für die Aufnahme und Speicherung von Sauerstoff zuständig. Als Ergebnis dieser Forschungsarbeit entstand eine Art Film, der die Molekülveränderungen während einer Millisekunde wiedergibt; dabei wurde jedes Einzelbild mit einem nur Nanosekunden langen Röntgenblitz aufgenommen. Die modernen Quellen strahlen so intensiv, daß ein einziger Blitz genügend Photonen enthält, um ein für die Strukturanalyse des Proteins ausreichendes Röntgenbild – eigentlich ein Beugungsmuster – aufzunehmen (siehe Bild auf Seite 63). Die Forscher möchten damit die speziellen Strukturänderungen entdecken, die es einem Sauerstoffmolekül ermöglichen, in einen käfigähnlichen Hohlraum innerhalb des Makromoleküls einzudringen oder daraus zu entkommen.
Die Forscher präparierten für ihre Experimente die Myoglobin-Moleküle: Sie ersetzten Sauerstoffatome durch Kohlenmonoxid (CO), da es sich durch Absorption eines Laserphotons leichter vom Myoglobin loslösen läßt: Ein mit raffinierter Elektronik gesteuerter Laserpuls, der weniger als eine Nanosekunde andauert, reicht aus, die chemische Bindung zwischen dem Kohlenmonoxid und der eisenhaltigen Häm-Gruppe des Myoglobins aufzubrechen.
Nachdem der Laserpuls das CO photochemisch freigesetzt hatte, folgte mit winziger Verzögerung der Schnappschuß mittels Röntgenblitz. Dieses Experiment wurde oftmals wiederholt, wobei die Forscher das Intervall zwischen Laserpuls und Röntgenblitz jedesmal ein wenig verlängerten. Wie der aus all diesen Momentaufnahmen zusammengesetzte Film zeigt, hat sich das CO-Molekül einige Nanosekunden nach Reaktionsbeginn vierzig Nanometer von dem Eisenatom entfernt, durch das es anfangs an die Häm-Gruppe des Myoglobinmoleküls gebunden war. Obendrein hat sich das CO zu diesem Zeitpunkt um 90 Grad gedreht. In dieser Warteposition kann es mehrere hundert Nanosekunden lang verharren, bis ihm eine günstige Umgebungskonfiguration erlaubt, das Protein zu verlassen und wieder an chemischen Reaktionen teilzunehmen. Damit ist es erstmals gelungen, den Ablauf eines molekularbiologischen Vorgangs in Zeitlupe zu beobachten. Gewiß wird man auf diese Weise bald die Dynamik wichtiger Proteinreaktionen in ihren atomaren Details verstehen.
Wir konnten hier nur einen Bruch-teil der vielfältigen, manchmal geradezu revolutionären wissenschaftlichen und technischen Anwendungen beschreiben – die gewiß bald ihrerseits eine Nachfrage nach noch helleren Röntgenquellen erzeugen werden. Die Geräte der nächsten Generation könnten Freie-Elektronen-Laser sein, die im wesentlichen aus besonders langen und komplexen Undulatoren bestehen. Darin treten Photonen, die von außen eingestrahlt oder bereits im Undulator erzeugt worden sind, mit den Elektronenpaketen in Wechselwirkung und verstärken dadurch die Emission weiterer Photonen, die mit den zuvor erzeugten in Phase sind.
Die mit dieser Technik produzierte kohärente Strahlung wird noch um viele Größenordnungen brillanter sein als das Röntgenlicht heutiger Speicherringe. Und so dürfte sich der Anwendungsbereich dieser erstaunlichen Strahlen unabsehbar erweitern – und das dadurch ermöglichte Wissen.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1999, Seite 62
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben